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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 20

Passionen

Slavoj Zizek über leidenschaftlichen Glauben, liberale Toleranz und Mel Gibsons Passion

Jene, die Mel Gibsons Film The Passion of the Christ kritisieren, bevor er überhaupt in den Kinos läuft, scheinen unanfechtbar: Haben sie nicht Recht, wenn sie sich sorgen, dass der Film eines fanatischen Katholiken, der für seine gelegentlichen antisemitischen Ausfälle bekannt ist, antisemitische Gefühle hervorrufen kann? Und ist allgemeiner gesagt The Passion nicht ein Manifest unserer eigenen (westlichen, christlichen) Fundamentalisten. Ist es da nicht die Pflicht jedes westlichen Laizisten ihn abzulehnen, damit klar wird, dass wir keine heimlichen Rassisten sind, die nur den Fundamentalismus anderer (muslimischer) Kulturen kritisieren?
Die zweideutige Reaktion des Papstes auf den Film ist wohlbekannt. Nachdem er ihn gesehen hatte, murmelte er tiefbewegt: »Er zeigt, wie es gewesen ist« — eine Stellungnahme, die rasch von den offiziellen Sprechern des Vatikan zurückgezogen wurde. Die spontane Reaktion des Papstes wurde somit durch eine »offizielle« Neutralität ersetzt, auf eine Weise korrigiert, als wolle man niemandem wehtun. Diese Verschiebung mit ihrer politisch korrekten Furcht, eine spezifische religiöse Sensibilität könne verletzt werden, veranschaulicht, was mit der liberalen Toleranz nicht stimmt: Sogar wenn die Bibel sagt, dass der jüdische Mob den Tod Christi verlangt hat, soll man diese Szene nicht direkt aufführen, sondern sie herunterspielen und in einen Kontext bringen, um klar zu machen, dass die Juden nicht für die Kreuzigung kollektiv verantwortlich zu machen sind. Das Problem einer solchen Haltung liegt darin, dass sie eine aggressive religiöse Leidenschaft lediglich unterdrückt, die weiter unter der Oberfläche schwelt, sich nicht Bahn brechen kann und somit immer stärker wird.

Glaube und Liebe

Dieses Verbot, einem Glauben mit grenzenloser Leidenschaft zu frönen, erklärt vielleicht, warum heute Religion nur noch als besondere »Kultur« oder als Lifestyle-Phänomen zugelassen wird, nicht aber als elementare Lebensweise. »Wirklich glauben« tun wir nicht mehr, wir folgen nur (einigen) religiösen Ritualen und Sitten aus Respekt vor dem »Lebensstil« der Gemeinschaft, der wir angehören. Was ist denn ein »kultureller Lebensstil«, wenn nicht der Brauch, dass es alljährlich im Dezember in allen Haushalten einen Weihnachtsbaum gibt — obwohl doch niemand von uns an den Weihnachtsmann glaubt? Vielleicht ist »Kultur« ja der Ausdruck für all die Dinge, die wir praktizieren, ohne wirklich an sie zu glauben, ohne »sie ernst zu nehmen«. Ist es denn nicht so, dass wir deshalb fundamentalistische Gläubige als »Barbaren« abtun, als eine Bedrohung der Kultur, weil sie die Stirn haben, ihren Glauben ernst zu nehmen? Heute betrachten wir letztlich jene als Bedrohung der Kultur, die ihre Kultur unmittelbar leben, denen es an einer Distanz zu ihr mangelt.
Jacques Lacans Definition von Liebe lautet: »Etwas geben, was man nicht hat.« Vergessen wird dabei oft hinzuzufügen: »…jemandem, der es nicht haben will.« Bestätigt wird dies durch unsere allerelementarste Erfahrung, die wir machen, wenn uns jemand unerwartet seine leidenschaftliche Liebe erklärt: Ist die der möglicherweise positiven Antwort vorausgehende Reaktion nicht die, dass uns etwas Obszönes und Aufdringliches aufgezwungen wird? Letztlich deshalb ist Leidenschaft politisch unkorrekt: obwohl alles in unserer Kultur erlaubt zu sein scheint, wird eine Art von Verbot lediglich durch eine andere ersetzt.
Man betrachte den toten Punkt, den die Sexualität oder die Kunst heute erreicht haben. Gibt es etwas öderes und sterileres als die unaufhörliche Erfindung neuer künstlerischer Grenzüberschreitungen — die Performancekünstlerin, die auf der Bühne masturbiert, der Bildhauer, der menschliche Exkremente ausstellt? Einige radikale Kreise in den USA schlugen kürzlich vor, über die Rechte von Nekrophilen nachzudenken. So wie Menschen die Erlaubnis erteilen können, dass ihre Organe für medizinische Zwecke verwendet werden, sollten sie vielleicht auch erlauben dürfen, dass ihre Körper den Vergnügungen von Nekrophilen zur Verfügung gestellt werden. Dieser Vorschlag ist das perfekte Beispiel dafür, wie die Haltung der political correctness Kierkegaards Einsicht verwirklicht, dass der einzige gute Mitmensch ein toter Mitmensch ist. Ein Leichnam ist der ideale Sexualpartner eines toleranten Subjekts, das jedwede leidenschaftliche Interaktion zu vermeiden sucht.

Kultur light

Auf dem Markt von heute finden wir eine Reihe von Produkten, die ihrer schädlichen Eigenschaft beraubt sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol. Die Liste geht noch weiter: Virtueller Sex als Sex ohne Sex, Colin Powells Doktrin des Krieges ohne Gefallene (auf unserer Seite natürlich) als Krieg ohne Krieg, die Neudefinition von Politik als Expertenregierung als Politik ohne Politik. Der tolerante Multikulturalismus von heute wünscht das Andere zu erfahren, das seiner Andersartigkeit beraubt ist (der idealisierte Andere, der faszinierende Tänze tanzt und ein ganzheitliches ökologisches Herangehen an die Realität vertritt, während Eigenschaften wie das Verprügeln der Ehefrauen außen vor bleiben). In derselben Weise gibt uns diese Toleranz einen koffeinfreien Glauben, einen Glauben, der niemandem weh tut und niemals von uns verlangt, dass wir uns engagieren.
Der Hedonismus von heute kombiniert Vergnügen mit Zurückhaltung. Es heißt nicht mehr: »Trink Kaffee, aber in Maßen!«, sondern eher: »Trink so viel Kaffee, wie du willst, denn er ist ja koffeinfrei.« Das jüngste Beispiel ist ein Abführmittel aus Schokolade, mit seiner paradoxen Aufforderung: »Haben Sie Verstopfung? Dann essen Sie mehr von dieser Schokolade!«, der Substanz, die ja gerade Verstopfung verursacht.
Die Struktur des »Schokoladenabführmittels«, eines Produkts, welches das Agens seiner eigenen Eindämmung enthält, lässt sich durchgängig in der heutigen ideologischen Landschaft beobachten. Man betrachte nur, wie wir uns gegenüber kapitalistischer Profitmacherei verhalten: Sie ist in Ordnung, wenn sie von karitativer Tätigkeit begleitet wird — zuerst werden Milliarden angehäuft, dann werden sie (zum Teil) an die Bedürftigen zurückgegeben. Dasselbe gilt für den Krieg, für die entstehende Logik des humanitären Militarismus: Krieg ist OK, insofern er Frieden und Demokratie zur Folge hat oder die Bedingungen für die Verteilung von humanitärer Hilfe schafft. Und trifft dasselbe nicht auch auf Demokratie und Menschenrechte zu? Es ist OK Menschenrechte »neu zu konzipieren« und dabei Folter und einen dauerhaften Ausnahmezustand einzubeziehen, wenn nur die Demokratie von ihren populistischen »Exzessen« gesäubert wird.

Weder noch

Bedeutet dies, dass wir anstelle der falschen Toleranz des liberalen Multikulturalismus zum religiösen Fundamentalismus zurückkehren sollten? Gerade die Absurdität von Gibsons Vision zeigt klar die Unmöglichkeit einer solchen Lösung. Gibson wollte den Film zuerst auf Lateinisch und Aramäisch drehen und ihn ohne Untertitel zeigen. Unter Druck ließ er Untertitel zu, aber dieser Kompromiss war nicht nur ein Zugeständnis an die Erfordernisse des Kommerzes. Die Verwirklichung des ursprünglichen Plans hätte die sich selbst widerlegende Natur von Gibsons Projekt dargelegt: Vor einem großen Vorstadtpublikum ohne Untertitel gezeigt, wäre die intendierte Authentizität des Films in ihr Gegenteil umgeschlagen, zu einem unverständlichen exotischen Spektakel.
Aber es gibt eine dritte Position, jenseits von religiösem Fundamentalismus und liberaler Toleranz. Man sollte nicht wie Bush und Blair zwischen islamischem Fundamentalismus und Islam unterscheiden. Die vergessen nie, den Islam als eine große Religion der Liebe und der Toleranz zu preisen, welche nichts zu tun habe mit abscheulichen terroristischen Handlungen. Man sollte vielmehr den Mut haben und die offensichtliche Tatsache anerkennen, dass es einen starken Zug von Gewalt und Intoleranz im Islam gibt, dass es, offen gesagt, etwas im Islam gibt, das sich der liberal-kapitalistischen Weltordnung widersetzt. Indem man diese Spannung in den Kern des Islam versetzt, könnte man diese Widersetzlichkeit auch als eine Gelegenheit betrachten: Sie muss nicht notwendigerweise zum »Islamo-Faschismus« führen, sondern könnte auch mit einem sozialistischen Projekt verbunden werden. Der traditionelle europäische Faschismus war ein fehlgeleiteter Akt des Widerstands gegen die Sackgasse der kapitalistischen Modernisierung. Falsch am Faschismus war nicht (wie uns die Liberalen ständig erzählen) der Traum von einer Volksgemeinschaft, die die kapitalistische Konkurrenz durch den Geist kollektiver Disziplin und Opferbereitschaft überwindet, sondern wie diese Motive durch einen spezifischen politischen Trick entstellt wurden. Der Faschismus nahm in gewisser Weise das Beste und verwandelte es in das Schlimmste.
Statt zu versuchen, den reinen ethischen Kern einer Religion aus ihren politischen Manipulationen herauszuschälen, sollten wir diesen Kern unbarmherzig kritisieren — in allen Religionen. Heute, in einer Zeit, in der die Religionen selbst (von der New-Age-Spiritualität bis zum wohlfeilen spiritualistischen Hedonismus des Dalai Lama) mehr als bereit sind, der postmodernen Vergnügungssucht zu Willen zu sein, kann folglich und paradoxerweise nur ein konsequenter Materialismus Träger einer wirklich asketischen, streitbaren und ethischen Haltung sein.

Slavoj Zizek

Von Slavoj Zizek erschien in SoZ 3/04 »Was tun (mit Lenin)?«. Der vorliegende Beitrag erschien zuerst Ende Februar in den USA. (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)



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