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An der Grenze von Michael Warschawski, soeben bei Nautilus auf Deutsch erschienen, ist ein »Bericht über eine
leidenschaftliche, mitreißende Erfahrung mit den Grenzen zwischen Staaten, Gemeinschaften und Realitäten mit den Grundmustern dessen,
was man das ›palästinensische Problem‹ nennt«. Warschawski, der Grenzgänger, beginnt mit einer Abgrenzung:
»Dieses Buch ist keine historische Untersuchung, noch weniger eine Studie über den israelisch-arabischen Konflikt. Es ist auch keine
Autobiographie.« Wovon also, ganz trivial gefragt, handelt dieses Buch, was hat man erfahren, wenn man es gelesen hat? Und wie lautet die Antwort auf
diese Frage für die deutsche Leserin?
Die von Ignoranz, Opportunismus und tiefer Verwirrung gekennzeichnete Debatte von Teilen
der deutschen Linken (und allemal der bürgerlichen Öffentlichkeit) um »Solidarität mit Israel«, um »(neuen)
Antisemitismus« (»der Araber/Muslime«) und »Solidarität mit Palästina« könnte, wenn sie denn Argumenten
zugänglich wären, durch Michael Warschawskis Infragestellungen von Grenzen, wie sie gemeinhin gezogen werden, und das Aufzeigen von
anderen Grenzverläufen als den tribalen sich für politische, emanzipatorische Perspektiven öffnen.
Michael Warschawskis politische Biografie zeigt einen Menschen, der mit seiner ganzen
Person und Lebensgeschichte für humanistische Überzeugungen und somit gegen ideologisch verbrämte tribale Identifikationsmuster einsteht.
Aufgrund dieses Engagements ist es möglich, dass An der Grenze, Zeugnis ist sowohl der Solidarität mit den Palästinensern und ihrem
Kampf um Anerkennung ihrer Rechte, wie der Sorge um die israelische Gesellschaft und deren Fortbestehen im Nahen Osten. In diesem Buch tritt Michael
Warschawski deutlich als Jude und Israeli hervor, der dennoch oder gerade deshalb Aussagen wie diese über sein Land trifft: »Die israelische
Identität hat sich in einem Prozess der Kolonialisierung und einer zweifachen Zerstörung herausgebildet, einer Zerstörung, die sich gegen die
Existenz der indigenen arabischen Bevölkerung und zugleich gegen die jüdische Identität wandte, oder besser: der jüdischen
Identitäten vor dem Zionismus.«
Israeli zu sein bedeutet demnach auch einen radikalen Bruch mit »der Geschichte seiner
Großeltern, ihrer Kultur und ihren Werten«. »Israeli zu sein heißt in gewissem Sinne weder Jude noch Araber sein zu wollen.«
(Obwohl man Bürger des »jüdischen Staates« ist und obwohl dieser Staat inmitten der arabischen Welt liegt und seine
Bürgerinnen, Juden wie Palästinenser, zum Großteil in dieser Welt ihre Wurzeln haben.) Michael Warschawskis Überzeugungen und
sein politischer Aktivismus, der eines Linken, verbunden mit der globalisierungskritischen Bewegung, sind durchaus nach wie vor geprägt von der Kultur
und den Werten der Großeltern, in seinem Fall orthodoxer Juden aus Straßburg (ursprünglich aus Polen), wo er als Sohn des dortigen
Oberrabiners aufwuchs, auch hier »an der Grenze«, zwischen orthodox-jüdischer und französisch-republikanischer Identität,
für die »das Verbot, am Samstag das elektrische Licht anzuschalten«, ebenso selbstverständlich war wie »Antifaschismus und
eine fast physische Abneigung gegen jeden Rassismus«.
Hier gab und gibt es für Michael Warschawski nur die kompromisslose Abgrenzung, so
wenn er im Herbst letzten Jahres auf einer Veranstaltung der »Europäischen Juden für einen gerechten Frieden« beim
Europäischen Sozialforum in Paris insistierte: »Wer glaubt, er könne antiarabisch sein, ohne antijüdisch zu sei, der täuscht sich.
Jede Art von Rassismus leistet dem Rassismus Vorschub.« Damit grenzte er sich scharf ab von jenen jüdisch-französischen Intellektuellen,
die glauben, ihre Hetze gegen die muslimisch-arabische Community in Frankreich würde nicht auch jenem »Antisemitismus von Papa« in die
Hände arbeiten, der sein Haupt wieder erhebe.
Michel Warschawski ist als konsequenter Kämpfer für palästinensische
Rechte nicht vor der beängstigenden Auslotung der Grenzen des israelischen Staates im Umgang mit seinen Feinden oder vermeintlichen Feinden
zurückgeschreckt. Er wusste sehr wohl, wie weit die »Sicherheitsorgane« mit seinen palästinensischen Genossen gehen, doch wie weit
würden sie mit einem Juden gehen, der der Kollaboration mit dem palästinensischen Widerstand verdächtigt wird? Ohne narzisstischen
Heroismus schildert er seine Haft, die Verhöre und den Aufenthalt in düsteren, schmutzigen Verliesen, eigentlich Folterkammern. Er gesteht seine
Angst ein, obwohl er doch fast sicher sein konnte, dass er relativ bald und relativ unbeschadet wieder freikommen würde.
An der Grenze legt Zeugnis ab von einem Leben als Zugehöriger, aber auch als
Ausgegrenzter, als sich selber Ausgrenzender. Es leugnet nicht den hohen Preis, der zu entrichten ist, wenn man sich weigert, um der Zugehörigkeit zu
einem Kollektiv willen unmenschliche Verhältnisse hinzunehmen. Es ist ein Zeugnis gegen den Opportunismus, frei von Bitterkeit oder Resignation:
»Beidseits der ›Schandmauer‹ zwischen Qalqilia und Salem, um Jerusalem und die Einwohner des Gazastreifens gibt es Kämpfer
für Freiheit und Brüderlichkeit. Es sind Zehntausende in Palästina und ein paar tausend in Israel. Mehr als genug, um weiter auf die Vernunft
zu setzen.«
Sophia Deeg
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