SoZ Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 21

Kanada 2002, Buch, Regie: Atom Egoyan. Mit Arsinée Khanjian, Charles Aznavour, Christopher Plummer, David Alpay u.a. Bereits ngelaufen

Ararat

»Ich wollte keinen Film über den Genozid machen, sondern über die Erinnerung daran, und zeigen, wie Verleugnung das Trauma fortsetzt. Ich wollte die Folgen der historischen Ereignisse für unsere Generation aufspüren.« Mit diesen Worten kommentierte der Regisseur Atom Egoyan, Kanadier armenischer Abstammung, seinen neuesten Film Ararat. Der 5165 Meter hohe Berg Ararat, der im Türkischen Büyük Agri und auf Armenisch Masis heißt, liegt in der östlichen Türkei im Grenzgebiet zum Iran und zu der ehemaligen Sowjetrepublik Armenien. Die Legende will, dass dort die Arche Noah strandete. Aus diesem und anderen Gründen nimmt der Berg in der armenischen Mythologie einen besonderen Platz ein. Im Film symbolisiert er das armenische Volk.
Der junge Raffi nimmt ein großes Risiko auf sich, um in die Nähe des Berges zu gelangen. Seine Mutter Ani, eine Professorin für Kunstgeschichte und Expertin für den armenischen Maler Arshile Gorky (1904—1948), einem Überlebenden des Genozids, ist wissenschaftliche Beraterin für einen Film des Regisseurs Saroyan. Dieser Film im Film behandelt den Völkermord an den Armeniern durch die Regierung des Osmanischen Reiches im Jahr 1915. Der erste Mann von Ani wurde von der Polizei erschossen, als er den türkischen Botschafter in Kanada töten wollte. Ihr zweiter Mann stürzte unter ungeklärten Umständen von einer Klippe. Ihre Tochter, die ein Verhältnis mit ihrem Stiefbruder Raffi hat, beschuldigt sie des Mordes. Raffi wird bei seiner Rückkehr aus der Türkei von dem Zollbeamten David verhört, da er nicht glaubt, dass in den von Raffi aus der Türkei mitgebrachten Filmdosen wirklich Filme sind. Davids Sohn ist schwul, was David nicht akzeptieren kann. Der Sohn arbeitet in einem Museum, wo ein berühmtes Bild von Gorky ausgestellt ist, auf das später ein Anschlag verübt wird. Der Freund von Davids Sohn ist von einem Elternteil her türkischer Abstammung. Er spielt in Saroyans Film einen türkischen General, der das Massaker an den Armeniern in der osttürkischen Stadt Van befehligt. Der Schauspieler glaubt nicht daran, dass 1915 ein Völkermord stattgefunden hat. Diese kurze Inhaltsskizze deutet die komplizierte Struktur des Films nur an.
Im Hintergrund steht stets der Genozid von 1915. Damals wurden ca. 1,5 Millionen Armenier auf Befehl der jungtürkischen Regierung ermordet. Die sog. Jungtürken von der »Partei für Einheit und Fortschritt«, die 1909 durch einen Staatsstreich an die Macht gelangt waren, vertraten einen pantürkischen Nationalismus, der die nichttürkischen Teile des Osmanischen Reiches extrem diskriminierte. Ihr integristischer Nationalismus gipfelte im Jahr 1915 im Genozid an den Armeniern. Die türkische Regierung, die im Ersten Weltkrieg mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet war, begründete ihr Vorgehen mit der angeblichen Parteinahme der Armenier für den Kriegsgegner Russland. Deutsche Offiziere und Diplomaten wurden Zeugen des Völkermords. Die deutsche Regierung weigerte sich aber stets, bei ihren Verbündeten zugunsten der Armenier zu intervenieren. Obwohl Mustafa Kemal Atatürk und seine Gefolgsleute die Monarchie 1922 abschafften, bestreitet die Türkische Republik bis heute die Tatsache des Völkermords. Das mag auch daran liegen, dass die »Jungtürken« in mancher Hinsicht die ideologischen Vorläufer des Kemalismus, der Staatsideologie der heutigen Türkei, waren.
Der Film erzählt seine Geschichte nicht chronologisch. Er wechselt ständig zwischen den Ebenen — Gegenwart, Film im Film, historischen Rückblenden und den verschiedenen Erzählsträngen der Gegenwart — hin und her. Der Film ist manchmal schwer verständlich und wirkt überladen, vor allem weil neben dem Genozid noch viele andere Geschichten erzählt werden und weil man die Darstellung des Genozids nur versteht, wenn man historische Vorkenntnisse hat. Der Völkermord wird ausschließlich in den Film-im-Film-Szenen dargestellt, wobei die Darstellung dadurch verfremdet wird, dass Filmteam und Kulissen sichtbar werden. Es ist also immer klar, dass diese Szenen nicht »real« sind. Diese Szenen zeichnen sich optisch durch eine besonders grelle Farbgebung aus. So wirken sie gleichzeitig plakativ und surreal. Zwischen diesen Szenen gibt es Sequenzen, in denen sich die Angehörigen der Filmcrew über den Film unterhalten. So bspw. der armenische Regisseur mit dem türkischstämmigen Schauspieler über die Historizität der dargestellten Ereignisse. Die Film-im-Film-Szenen werden also durch Filmszenen kommentiert, was ein weiteres Verfremdungsmoment ist. Dadurch werden aber weniger die historischen Ereignisse erhellt als die aktuellen Kontroversen. Insofern sind diese Szenen durchaus »lehrhaft«.
Der Film ist ebenso wichtig wie schwierig. Er setzt zu selbstverständlich das Wissen um die historischen Ereignisse voraus. Er ist aber trotzdem sowohl nach ästhetischen als auch nach inhaltlichen Kriterien absolut sehenswert. Er regt dazu an, sich nicht nur mit einem offiziell geleugneten Teil der türkischen sondern auch mit einem verdrängten Teil der deutschen Geschichte zu befassen.

Andreas Bodden

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