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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 22

›Wer auf den Boulevard setzt, kommt darin um‹

»Ich lasse mich nicht vom Hof jagen«, ist einer der häufig vorgebrachten Prahlereien von Kanzler Schröder. Aber wer seine gesamte politische Karriere auf zwei Tugenden aufbaut — auf die absolute Unterordnung unter die Interessen der in dieser Gesellschaft wirklich Herrschenden und auf das Vertrauen, die Meinung machenden Medien eben dieser Bande würden schon dafür sorgen, dass aus dem derart kreierten lebenden Toten wieder ein Strahlemännchen der Massenpresse wird, der soll sich nicht wundern, wie schnell er verjagt werden kann.
Das »System Schröder« war immer ein Fake. Während sein Vorgänger Kohl als satter Repräsentant seiner Klasse immer auf ein dichtes Netz aus Klientelismus, Intrige und echter Klassenherrschaft setzen konnte, bestand und besteht Schröders politisches Fundament aus zwei platten Programmpunkten: »Man kann keine Wirtschaftspolitik gegen die Wirtschaft machen« und »Ich brauche zum Regieren bloß Bild, BamS und Glotze«. Arschkriecherei und Popkultur. Wenn Schröder jetzt Bild mit Interviewboykott und Streichung von Kanzlervergünstigungen bestraft und gleichzeitig als Vorsitzender der SPD abtreten muss, dann zeigt dies, er ist in der Wirklichkeit angekommen. Die Party ist zu Ende.
Schröder war immer der Medienliebling, gerade von Bertelsmann und Springer. Er ließ seinen Jubelparteitag (»Ich bin bereit«) von McDonald‘s beköstigen und von Bild und Konsorten ausrichten. Er holte sich die Boulevardpresse mit seiner vierten Ehefrau, der Bild-, Express- und Focus-Reporterin Doris Köpf, buchstäblich ins Bett und mit dem langjährigen Bild-Mann Béla Anda als Regierungssprecher in die Kommunikationszentrale. Er ließ sich bei Hochzeit, Opernball und Frisör mit Brioni-Anzügen und Cohiba-Zigarren ablichten. Er war niemals er selbst, der dumme, ahnungslose Radikale der Mitte, sondern immer das Produkt des Boulevards.
Und selbst sein familiärer Selbstbetrug der heilen Welt ging nicht ohne Bild: Als die Postgewerkschaftler und Ver.di-Unholde jüngst ausgerechnet in Sichtweite des Hannoveraner Hauses der Schröders demonstrierten, faxte Mutter Doris unverzüglich an Bild und wünschte — und bekam — Hilfe. Und nun ist der Rausch verflogen. »Wer auf den Boulevard setzt, kommt darin um«, kann der FAZ-Analyse nur zugestimmt werden. Und mit dem Boykott von Bild »betritt« Schröder, wie es der gnadenlose Franz Josef Wagner in der Zeitung erklärte, »das Reich der lebenden Toten«. Über den Erlass an die SPD-Fraktion, Bild keine Interviews mehr zu geben, wie über den persönlichen Boykott des Kanzlers selbst, lacht natürlich die gesamte Republik.
Bild-Chefredakteur Dieckmann frohlockt über dieses grandiose Zuspiel: »Eine Zeitung mit über 12 Millionen Lesern und damit über 12 Millionen potenziellen Wählern mit einem Informationsboykott zu belegen, erscheint nicht gerade als hohe Kunst der Politikvermittlung. Die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung steckt in einer Sackgasse ohne Weg zurück. Das ist immer die dümmste Situation, in die man hineinsteuern kann.« Die restliche Presse japst nach Luft und sieht die »Pressefreiheit« gefährdet.
Ausgerechnet bei der Monstermarketingmanipulationsmaschine Bild, die nun wahrlich keine Zeitung, sondern Machtorgan der Minderheitenherrschaft in dieser Gesellschaft ist, die Pressefreiheit gefährdet zu sehen, dass kann nur den Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Financial Times und — natürlich — der Taz einfallen. Und SPD und Grüne — die in ihrer jüngeren Vergangenheit beide sinnvolle, politisch durchdachte Boykotte gegen die Springerpresse kennen — werden sich ebenfalls genüsslich am Schröder-Verdikt vergehen.
Wie wird denn heute ein Nachfolger Schröders anders auserkoren als durch (Selbst- )Darstellung in Bild? Die Schlacht der Interviews war für Schröder selbst die lange bevorzugte Disziplin. Die Wochen, vielleicht Monate des Kanzlers sind deshalb auf jeden Fall gezählt. Die wirklich ins Mark gehenden Folterinstrumente hat Bild gegenüber Schröder ja noch gar nicht in Stellung gebracht: nämlich nicht nur schlechte, sondern gar keine Presse mehr zu geben.
Adieu Gerhard, alter Zombie.

Thies Gleiss

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