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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2004, Seite 15

Dutroux-Prozess in Belgien

Das große Vertuschungsmanöver

Der Prozess gegen den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux genießt im In- wie Ausland hohe Medienaufmerksamkeit. Das liegt auch daran, dass ein Urteil gegen ihn zugleich ein Urteil über den belgischen Staat ist.
Fast acht Jahre nach der Entführung von sechs Mädchen, bei der vier zu Tode kamen, zittert die etablierte Politik immer noch beim Gedanken an den Volkszorn, den dies entfacht hat, und wie sehr er an den Grundfesten des gespaltenen Staates gerüttelt hat. Zwischenzeitlich wurde alles getan, um die Gemüter wieder zu beruhigen. Aber die Ermittlungen waren sehr einseitig, das richterliche Urteil wird voraussichtlich ebenfalls parteiisch ausfallen und weit von der Wahrheit entfernt sein. Hier von »Gerechtigkeit« zu sprechen, kommt einer Verhöhnung der Opfer und der Hunderttausenden gleich, die für sie auf die Straße gegangen sind.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Volkszorn, der Belgien 1996 erfasste, nicht von anderen Reaktionen der Bevölkerung gegenüber Verbrechen an Kindern. Marc Dutroux ist ein kleiner skrupelloser Gangster, der methodisch vorgeht, um mit Autoschmuggel, Drogenhandel und Handel mit Kindern aus Osteuropa an Geld zu kommen. Er vergewaltigt gleichermaßen Kinder wie erwachsene Frauen. Er hat Komplizen, viel Geld läuft über seine Bankkonten und er unterhält enge Beziehungen zu einem Brüsseler Gauner, der Sexpartys organisiert (Michel Nihoul, der von sich sagt, sein Arm sei »lang wie die Donau«).
Als dies bekannt wird, reagiert die Bevölkerung mit Verstand: Hier handelt es sich nicht um einen »Pädophilen«, der seine Opfer umbringt, sondern um einen Kleinunternehmer im organisierten Verbrechen, der zu allem bereit ist, wenn er sich daran bereichern kann, auch dazu, Mädchen zu entführen, um sie zu verkaufen. Die Bevölkerung äußert ihren Zorn manchmal auf beunruhigende Art und Weise — was viele fortschrittliche Intellektuelle veranlasst, sich zu distanzieren —, aber es liegt in ihrer Empörung auch ein enormer sozialer Protest, der eine Welle von Ereignissen in Gang setzt, die schließlich zu einer Staatskrise führen.

Die Elemente der Krise

Erstens: die »Versäumnisse«. Die Bevölkerung entdeckt sehr bald, dass die Mädchen hätten gerettet werden können, dass ihre Eltern es mit untätigen Beamten zu tun hatten, dass Menschen, die Dutroux nahestehen, zusammen mit Polizisten ein Netz von Schutzbeziehungen um ihn aufgebaut hatten usw. Es kamen so viele »Versäumnisse« zu Tage, dass die Bevölkerung bald überzeugt war, sie haben System. Die Trauer schlägt in Wut um, sie richtet sich gegen Polizei und Justiz, gegen eine Klassenjustiz.
Zweitens: die Abwesenheit der Politik. Während die Menschen auf der Straße weinen, befasst sich die Regierung penibel mit ihrem Haushalt, der über den Beitritt zur Eurozone entscheiden wird. Die Politik ist abwesend. Die Bevölkerung hat den Eindruck, von Personen regiert zu werden, die Lichtjahre von den wirklichen Problemen der Menschen entfernt sind.
Drittens: der Schwarze Peter. Jeder schiebt die heiße Kartoffel dem nächsten zu. Die flämische Rechte beschuldigt die »sozialistische Mafia Walloniens«. Ein hoher Justizbeamter erstattet Anzeige gegen die Polizei. Diese wirft den Staatsanwälten vor, »die Großen« laufen zu lassen. Der Innenminister schiebt die Schuld auf den Justizminister. Diese Enthüllungen bringen die Bevölkerung auf die Idee, dass sie selbst aktiv werden muss, wenn sich im Land etwas ändern soll.
Viertens: die Absetzung des Richters. Dem mit den Ermittlungen beauftragte Untersuchungsrichter, J.M. Connerotte, wird der Fall entzogen. Connerotte war schon vorher bekannt als jemand, der die Unterwanderung der Justiz durch das organisierte Verbrechen anprangerte. Der Zufall wollte es, dass Dutroux sein letztes Opfer in dem Bezirk entführte, für den dieser Richter zuständig war. Auf der Grundlage eilig zusammengestellter Beweise schlägt Connerotte zu und befreit die letzten beiden Opfer. Von diesem Erfolg gekrönt, wird er so etwas wie ein Volksheld. Das destabilisiert jedoch die gesamte Justiz. Unter einem Vorwand entzieht das Kassationsgericht dem »kleinen Richter« den Fall.

Der Weiße Marsch

Dieser Beschluss legt Feuer an die Lunte. Tausende ziehen vor den Justizpalast und fordern »Cassation, démission« — das Kassationsgericht soll abtreten. Ihnen schließen sich die VW-Arbeiter an. Das ist am Montag. Die ganze Woche über folgen spontane Demonstrationen und Streiks, mehrere hunderttausend Menschen gehen auf die Straße. Die Eltern der Opfer haben für Sonntag einen Weißen Marsch angesetzt, zum Gedenken an ihre verschwundenen Kinder. Er bündelt den Protest. Am 20.Oktober 1996 besetzen 325000 Menschen die Hauptstadt.
Die herrschende Klasse fürchtet einen Generalstreik; sie kommt wieder zu sich und schließt ihre Reihen. Sie setzt alle Hebel in Bewegung, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen: den Palast, die Regierung, das Parlament, die Unternehmerverbände usw. Der König und der Premierminister empfangen die Eltern. Man verspricht eine parlamentarische Untersuchungskommission.
Politisch hätte diese ganze Affäre Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten gießen können. Diese Gefahr wurde gebannt, und das ist in erster Linie das Werk der jungen Nabela Benaďssa, der älteren Schwester eines ermordeten Kindes aus dem Maghreb, von dem man damals noch annahm, dass es ein Opfer von Dutroux gewesen sei. Es ist auch das Werk von Carine und Gino Russo, den Eltern von Melissa. Sie haben monatelang gegen die »Versäumnisse« angekämpft und den Rufen nach mehr Sicherheitsmaßnahmen und Wiedereinführung der Todesstrafe ihre Forderungen nach Transparenz und Wahrheitssuche bei den Ermittlungen entgegengestellt. Mehrfach haben sie die Verbindung zu den betrieblichen Kämpfen hergestellt, vor allem haben sie den »bunten Marsch« der Stahlarbeiter von Clabecq 1997 unterstützt.

Normalisierung

Nach dem Weißen Marsch hat die herrschende Klasse die Initiative zurückgewonnen. Die parlamentarische Untersuchungskommission diente als Blitzableiter. Auf der Ebene der Politik reagieren die Herrschenden genau entgegen der bürgerschaftlich-demokratisch-sozialen Linie, die die Eltern der Opfer eingeschlagen hatten: Die Sparpolitik wird unverdrossen fortgesetzt, eine Strukturreform bei der Polizei stärkt die Position der Gendarmerie; es werden keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um die Arbeitsweise der Gerichte transparenter zu machen.
Nach der Absetzung von Connerotte wird der Fall einem Richter übergeben, der in erster Linie versucht zu beweisen, dass Dutroux ein »perverser Einzelfall« ist. Die Akte »Autoschmuggel« wird von der Akte »Entführung« abgetrennt, die Akte »Protektion« auf ein zweites Verfahren verschoben — d.h. wahrscheinlich auf den St.Nimmerleinstag. Eine Reihe sehr suspekter Mordfälle wird ohne weitere Nachforschungen zu den Akten gelegt. Die Ermittlungsbeamten, die auf der Grundlage der Hypothese arbeiteten, es handele sich hier um ein kriminelles Netzwerk, werden kaltgestellt, hingegen Polizisten, die sich »Versäumnisse« hatten zuschulden kommen lassen, befördert.
Wird diese breit angelegt Operation Normalisierung von Erfolg gekrönt sein? Daran kann man zweifeln. Erster Misston: Die Anklagebehörde hat beschlossen, dass auch Michel Nihoul neben Marc Dutroux, seiner Frau und einem weiteren Komplizen auf die Anklagebank gehört. Nihoul wird »Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung« und »Komplizenschaft bei der Entführung« eines der Opfer vorgeworfen. Das ist ein erstes Sandkorn in der gut geölten Mechanik dieses Prozesses, dessen politische Funktion es ist, den Menschen zu sagen: »Das Gericht straft die Verbrecher, mischt euch nicht in die Angelegenheiten des Staates ein, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.«
Es gibt noch mehr: Im Verlauf des Prozesses enthüllen Zeugenaussagen das Ausmaß und die Stichhaltigkeit der Spuren, die der Untersuchungsrichter beschlossen hat zu ignorieren, weil sie nicht zu seiner Hypothese des »perversen Einzeltäters« passten. Es ist unmöglich, hier alle Einzelheiten zu nennen, nur zwei: Mehrere, sehr glaubwürdige Zeugen brachten die Entführungen von Julie und Melissa (in Lüttich) in Verbindung mit denen von An und Eefje (an der belgischen Küste), beide hätten ihre Urheber im Milieu des Menschenhandels, das Dutroux kannte und das er frequentierte. Und: Der Untersuchungsrichter hat sich geweigert, Hinweisen nachzugehen, die ihn nach Charleroi geführt hätten, weil er »keinen Fuß« dorthin setzen wollte. Es ist aber gerade Charleroi, wo allem Anschein nach der Schutzmantel um Dutroux‘ Machenschaften gewebt wurde.
Zum Schluss werden die Geschworenen auf die Fragen der Ermittler antworten müssen. Entgegen allen Indizien wird die »juristische Wahrheit« wahrscheinlich dem entsprechen, was das Establishment entschieden hat. Dennoch, und obwohl die Medien kaum einen müden Abklatsch von den Enthüllungen geben, die im Verlauf des Prozesses an den Tag kommen, ist der Großteil der Bevölkerung nicht blöd; sie wird die gesamten Ermittlungen als ein weiteres großes »Versäumnis« ansehen.
Die ganze Frage ist, wer politischen Nutzen aus diesem Scheitern der bestehenden Ordnung ziehen wird. Die Mehrheit der Bevölkerung ist desillusioniert durch die Regierungsbeteiligung der Grünen — sie hatten das Wahlpotenzial des Weißen Marsches aufgefangen und waren eingebunden worden, um es leerlaufen zu lassen; danach wurden sie in die Opposition geschickt. Sie ist auch desorientiert wegen der Niederlage der Gewerkschaften im Kampf gegen die Sparpolitik. Im Juni sind Wahlen, und die extreme Rechte sitzt in den Startlöchern.

Daniel Tanuro, Brüssel

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