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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2004, Seite 18

Karl Heinz Roth:

Seit der berüchtigten »Agenda 2010« der SPD-Grünen-Regierung wird auch in Deutschland der Sozialstaat unwiderruflich geschleift. In allen seinen Funktionsbereichen findet eine pausenlos zugreifende und arbeitsteilig abgestimmte Demontage statt. Der Sozialkahlschlag konzentriert sich auf die Arbeitsmärkte, das Gesundheitswesen, den Bildungssektor, die Altersrenten und die Migrationspolitik. […]
Wenn wir diese Veränderungen in ihrem Zusammenwirken reflektieren, dann fällt die Zwischenbilanz bitter aus. Der Bruch mit dem sozialen Sicherungssystem findet jetzt auch zwischen Rhein und Oder statt, und dabei ist es kein Trost, dass der Sozialkahlschlag trotz seiner Vorentwicklungen seit den 80er Jahren vergleichsweise spät zu greifen beginnt. Er hat bei der Masse der Löhne und Sozialeinkommen beziehenden Bevölkerung genauso wie bei den durch den Umbau des Bildungswesens betroffenen Jugendlichen eine tiefgreifende Desillusionierung und Verunsicherung ausgelöst, und es ist zum ersten Mal wieder zu breiteren Protestaktionen gekommen. […]
Der innere Sozialkahlschlag und die veränderten äußeren Weichenstellungen zur Regulierung des kapitalistischen Weltsystems sind zweifellos zwei Seiten einer Medaille. Auf der Grundlage weltweit verschärfter und zugleich kollektiv-gewalttätig abgesicherter Ausbeutungsverhältnisse soll ein neues Akkumulationsregime durchgesetzt werden. Es unterscheidet sich vom voraufgegangenen Zyklus vor allem dadurch, dass es die Vollbeschäftigungsmaxime und das Massenkonsumversprechen des keynesianisch-fordistischen Zeitalters durch ein System der strategischen Unterbeschäftigung ersetzt. […]
Ansatzpunkte zu realistischen Gegenprogrammen und aussichtsreichen Handlungsmöglichkeiten gibt es m.E. nur noch in einer internationalen Perspektive. Die Nationalstaaten und die aus ihnen hervorgegangenen übernationalen Blockbildungen (EU, NAFTA usw.) sind der neokonservativen Radikalisierung des kapitalistischen Weltsystems nicht mehr gewachsen. Die Gegenperspektive sollte sich vor allem nicht in Block-Konzepte einbinden lassen, denn dann würde sie nur Teil eines vielleicht noch gefährlicheren Umschlags des globalisierten Netzwerkkapitalismus in katastrophale innerimperialistische Machtkonflikte.
Zum zweiten bin ich davon überzeugt, dass die Eroberung der politischen Macht kein Weg mehr ist, der zum emanzipatorischen Ziel hinführt. Die »traditionellen antisystemischen Bewegungen« (Immanuel Wallerstein) der Arbeiterbewegung wollten die gesellschaftliche Befreiung über den Staat in Gang bringen und vollenden. Dieses Projekt ist gescheitert. Aus dem Untergang des sogenannten Realsozialismus können wir nur noch lernen, vor welchen strategischen Fehlentscheidungen wir uns hüten sollten. Auch aus dieser Perspektive sind der Nationalstaat und die durch ihn begründeten Blockbildungen für uns kein Adressat mehr.
Aussichtsreich erscheint mir deshalb nur noch ein breites soziales Bündnis, das von den Subproletarierinnen und -proletariern der neuen Massenarmut über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den selbstständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs einbezieht, also zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft. Es gibt keine »zentrale Arbeiterklasse« mehr. In jedem Standort werden andere Segmente des neuen Proletariats überwiegen, in den Schwellenländern sicher auch einmal die Belegschaften großer Industriebetriebe. Aber aus der Gesamtperspektive lässt sich keine Priorität für eine spezifische Schicht — seien es Erwerbslose, Jobber, Scheinselbstständige oder Industriearbeiterinnen und -arbeiter — mehr festlegen. […]
Das Klassenbündnis all derjenigen, die ihre Arbeitskraft vermieten oder Sozialeinkommen beziehen müssen, um leben zu können, ist viertens nur auf der Grundlage gemeinsamer Rahmenbedingungen und Vereinbarungen möglich. Seine entscheidende Voraussetzung aber ist und bleibt die konsequente innere Demokratie. Ich halte diese Hypothese für besonders wichtig, und deshalb möchte ich sie etwas näher erläutern:
a) Nur in basisdemokratischen Strukturen lässt sich die elementare Forderung nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität dauerhaft verwirklichen. Mit dieser Grundforderung nehmen wir zugleich die Ziele vorweg, auf die sich eine Gegenperspektive verständigen sollte: Keine Macht für niemand — kein Eigentum für niemand — kulturelle Gleichberechtigung alles Heterogenen.
b) Auf allen Ebenen des sich organisierenden Gegenprojekts sollte ein konsequentes Delegations- und Rotationsprinzip durchgesetzt werden, um die Entstehung neuer abgehobener Funktionärsschichten von vornherein zu vermeiden. Diese Forderung erscheint banal. Aber wer sich nicht erst seit gestern für emanzipatorische gesellschaftliche Perspektiven engagiert, weiß, wie wichtig eine schon im Vorfeld des Neubeginns getroffene Verabredung über diese Frage ist.
c) Das Bündnis hat nur dann eine Perspektive, wenn die inneren Strukturen seiner Partner und Teilnehmer demokratisiert werden. Deshalb sollten auf mittlere Sicht bei allen Bündnispartnern basisdemokratische Strukturen geschaffen werden. […]
In allen diesen Fragen sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und nichts auf die lange Bank schieben. Auch die linken Gewerkschaftsgruppen sollten sich einmal darüber Rechenschaft ablegen, inwieweit sie von den Gewerkschaftszentralen nur deshalb toleriert werden, weil sie einen für das Image unverzichtbaren Rest von Basisaktivismus aufrecht erhalten. Letztlich werden sie aber nur nützliche Idioten bleiben und immer auf der Stelle treten, solange sie nicht die Frage nach der innergewerkschaftlichen Demokratie auf die Tagesordnung setzen. Solange sind auch sie für die Masse der Beschäftigten unglaubwürdig und werden zwischen der skeptischen Zurückhaltung der Belegschaften und der Blockadepolitik der Gewerkschaftsleitungen zerrieben. […]
Bei jedem handlungsorientierten Ansatz wäre vom jeweiligen lokalen »Standort« auszugehen, wo es handlungsbereite Menschen gibt und ihre Assoziation zu einem Bündnis gegen den Sozialkahlschlag möglich ist. Denn das vernetzte kapitalistische Weltsystem besteht heute aus 700 bis 800 Standorten plus jeweiligem Hinterland. Wenn wir uns in diesen Standorten verankern, befinden wir uns innerhalb der entscheidenden Nervenzentren des Weltsystems, von denen aus die Weltinstitutionen, supranationalen Machtblöcke und Nationalstaaten dirigiert werden.
Je nach der sozialen Zusammensetzung der Standorte könnten im Prozess des Aufbaus der ersten Kommunikationsnetze spezifische Aktionsformen entwickelt und erprobt werden. Generell denkbar wären Initiativen zur Durchsetzung eines existenzsichernden Mindestlohns, von radikaler Arbeitszeitverkürzung und betrieblicher Demokratisierung. In unseren Breiten könnte man hier an die Erfahrungen der Jobber- und Erwerbslosenbewegungen der 1980er Jahre anknüpfen, aber auch an die Praxis der neuen italienischen und französischen Basisgewerkschaften; die hiesige Gewerkschaftslinke könnte hier ihren Platz finden, falls das Projekt der innergewerkschaftlichen Demokratisierung misslingen sollte. Dass in vielen Schwellenländern ganz andere Voraussetzungen bestehen und bspw. die in den maquiladores ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeiter eine wesentliche Rolle spielen werden, versteht sich von selbst.
Parallel zu diesen Aktivitäten in der Produktions- und Verteilungssphäre könnten Stadtteilbüros gegründet werden, in denen die vom Sozialkahlschlag Betroffenen beraten werden, zugleich aber auch selbstorganisierte Netze der sozialen Kommunikation (lokale Radios und TV-Stationen) und der sozialen Aneignung aufbauen. Diese soziale Aneignung könnte man konkret — Gebührenboykott —, aber auch perspektivisch verstehen: Die Sozialfonds, Bildungseinrichtungen und das Gesundheitswesen sollten in kommunale Selbstverwaltung zurückgeholt werden, bevor sie vollends geplündert sind. Auch hier gibt es inzwischen erste Erfahrungen, beispielsweise aus Berlin und Ostdeutschland.
Wie aber könnten derartige lokale Initiativen miteinander in Kontakt treten? Als Brücke zwischen der lokalen Verortung und der weltweiten Vernetzung mit anderen Standortbewegungen könnten vor allem die Flüchtlinge und Migranten fungieren. Sie sind überall als kleinere oder größere Sozialgruppen präsent, und es dürfte nicht schwerfallen, ihre ohnehin schon bestehenden Kommunikationsstrukturen in das Gegenprojekt einzubeziehen, sofern sie an den jeweiligen Standorten geschützt und als gleichwertige Partner respektiert werden. […]
Von großer Bedeutung wäre es nun, diese drei Komponenten eines social movement unionism auf der jeweiligen Ebene einer lokalen beziehungsweise regionalen Agglomeration miteinander zu verknüpfen und parallel dazu durch die Netzwerke der Migranten und Flüchtlinge, aber auch durch den Auf- und Ausbau internationaler Transportarbeitergewerkschaften den globalen Kontext herzustellen. […]
Das alles sind nur erste Überlegungen. Jedoch sprechen gewichtige Annahmen dafür, dass es drei wesentliche Elemente sein werden, die geeignet sein könnten, eine realistische Gegenperspektive mit Leben zu füllen: Erstens die Maulwürfe der sozialen Gegenbewegungen in den Agglomerationen, zweitens die Netzwerke der Migranten sowie die Aktivisten einer weltweit agierenden gewerkschaftlichen Basisbewegung, und drittens die »organischen Intellektuellen«, die in diesen Netzwerken verankert sind und auf den globalen Gegen-Foren über die Wege zu einer sozial gerechten und egalitären Welt nachdenken. […]

Auszüge einer Rede, die Karl Heinz Roth Ende Februar in Bremen gehalten hat und die in der jungen Welt vom 19. und 20./21.3.2004 (www.jungewelt.de) erschien.



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