SoZSozialistische Zeitung |
Seit der berüchtigten »Agenda 2010« der SPD-Grünen-Regierung wird auch in Deutschland der
Sozialstaat unwiderruflich geschleift. In allen seinen Funktionsbereichen findet eine pausenlos zugreifende und arbeitsteilig abgestimmte Demontage statt. Der
Sozialkahlschlag konzentriert sich auf die Arbeitsmärkte, das Gesundheitswesen, den Bildungssektor, die Altersrenten und die Migrationspolitik.
[…]
Wenn wir diese Veränderungen in ihrem Zusammenwirken reflektieren, dann
fällt die Zwischenbilanz bitter aus. Der Bruch mit dem sozialen Sicherungssystem findet jetzt auch zwischen Rhein und Oder statt, und dabei ist es kein
Trost, dass der Sozialkahlschlag trotz seiner Vorentwicklungen seit den 80er Jahren vergleichsweise spät zu greifen beginnt. Er hat bei der Masse der
Löhne und Sozialeinkommen beziehenden Bevölkerung genauso wie bei den durch den Umbau des Bildungswesens betroffenen Jugendlichen eine
tiefgreifende Desillusionierung und Verunsicherung ausgelöst, und es ist zum ersten Mal wieder zu breiteren Protestaktionen gekommen. […]
Der innere Sozialkahlschlag und die veränderten äußeren
Weichenstellungen zur Regulierung des kapitalistischen Weltsystems sind zweifellos zwei Seiten einer Medaille. Auf der Grundlage weltweit verschärfter
und zugleich kollektiv-gewalttätig abgesicherter Ausbeutungsverhältnisse soll ein neues Akkumulationsregime durchgesetzt werden. Es
unterscheidet sich vom voraufgegangenen Zyklus vor allem dadurch, dass es die Vollbeschäftigungsmaxime und das Massenkonsumversprechen des
keynesianisch-fordistischen Zeitalters durch ein System der strategischen Unterbeschäftigung ersetzt. […]
Ansatzpunkte zu realistischen Gegenprogrammen und aussichtsreichen
Handlungsmöglichkeiten gibt es m.E. nur noch in einer internationalen Perspektive. Die Nationalstaaten und die aus ihnen hervorgegangenen
übernationalen Blockbildungen (EU, NAFTA usw.) sind der neokonservativen Radikalisierung des kapitalistischen Weltsystems nicht mehr gewachsen.
Die Gegenperspektive sollte sich vor allem nicht in Block-Konzepte einbinden lassen, denn dann würde sie nur Teil eines vielleicht noch
gefährlicheren Umschlags des globalisierten Netzwerkkapitalismus in katastrophale innerimperialistische Machtkonflikte.
Zum zweiten bin ich davon überzeugt, dass die Eroberung der politischen Macht kein
Weg mehr ist, der zum emanzipatorischen Ziel hinführt. Die »traditionellen antisystemischen Bewegungen« (Immanuel Wallerstein) der
Arbeiterbewegung wollten die gesellschaftliche Befreiung über den Staat in Gang bringen und vollenden. Dieses Projekt ist gescheitert. Aus dem
Untergang des sogenannten Realsozialismus können wir nur noch lernen, vor welchen strategischen Fehlentscheidungen wir uns hüten sollten. Auch
aus dieser Perspektive sind der Nationalstaat und die durch ihn begründeten Blockbildungen für uns kein Adressat mehr.
Aussichtsreich erscheint mir deshalb nur noch ein breites soziales Bündnis, das von
den Subproletarierinnen und -proletariern der neuen Massenarmut über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den
selbstständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs einbezieht, also zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft. Es gibt keine
»zentrale Arbeiterklasse« mehr. In jedem Standort werden andere Segmente des neuen Proletariats überwiegen, in den
Schwellenländern sicher auch einmal die Belegschaften großer Industriebetriebe. Aber aus der Gesamtperspektive lässt sich keine
Priorität für eine spezifische Schicht seien es Erwerbslose, Jobber, Scheinselbstständige oder Industriearbeiterinnen und -arbeiter
mehr festlegen. […]
Das Klassenbündnis all derjenigen, die ihre Arbeitskraft vermieten oder
Sozialeinkommen beziehen müssen, um leben zu können, ist viertens nur auf der Grundlage gemeinsamer Rahmenbedingungen und Vereinbarungen
möglich. Seine entscheidende Voraussetzung aber ist und bleibt die konsequente innere Demokratie. Ich halte diese Hypothese für besonders
wichtig, und deshalb möchte ich sie etwas näher erläutern:
a) Nur in basisdemokratischen Strukturen lässt sich die elementare Forderung nach
sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität dauerhaft verwirklichen. Mit dieser Grundforderung nehmen wir
zugleich die Ziele vorweg, auf die sich eine Gegenperspektive verständigen sollte: Keine Macht für niemand kein Eigentum für
niemand kulturelle Gleichberechtigung alles Heterogenen.
b) Auf allen Ebenen des sich organisierenden Gegenprojekts sollte ein konsequentes
Delegations- und Rotationsprinzip durchgesetzt werden, um die Entstehung neuer abgehobener Funktionärsschichten von vornherein zu vermeiden. Diese
Forderung erscheint banal. Aber wer sich nicht erst seit gestern für emanzipatorische gesellschaftliche Perspektiven engagiert, weiß, wie wichtig
eine schon im Vorfeld des Neubeginns getroffene Verabredung über diese Frage ist.
c) Das Bündnis hat nur dann eine Perspektive, wenn die inneren Strukturen seiner
Partner und Teilnehmer demokratisiert werden. Deshalb sollten auf mittlere Sicht bei allen Bündnispartnern basisdemokratische Strukturen geschaffen
werden. […]
In allen diesen Fragen sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und nichts auf die lange
Bank schieben. Auch die linken Gewerkschaftsgruppen sollten sich einmal darüber Rechenschaft ablegen, inwieweit sie von den Gewerkschaftszentralen
nur deshalb toleriert werden, weil sie einen für das Image unverzichtbaren Rest von Basisaktivismus aufrecht erhalten. Letztlich werden sie aber nur
nützliche Idioten bleiben und immer auf der Stelle treten, solange sie nicht die Frage nach der innergewerkschaftlichen Demokratie auf die Tagesordnung
setzen. Solange sind auch sie für die Masse der Beschäftigten unglaubwürdig und werden zwischen der skeptischen Zurückhaltung der
Belegschaften und der Blockadepolitik der Gewerkschaftsleitungen zerrieben. […]
Bei jedem handlungsorientierten Ansatz wäre vom jeweiligen lokalen
»Standort« auszugehen, wo es handlungsbereite Menschen gibt und ihre Assoziation zu einem Bündnis gegen den Sozialkahlschlag
möglich ist. Denn das vernetzte kapitalistische Weltsystem besteht heute aus 700 bis 800 Standorten plus jeweiligem Hinterland. Wenn wir uns in diesen
Standorten verankern, befinden wir uns innerhalb der entscheidenden Nervenzentren des Weltsystems, von denen aus die Weltinstitutionen, supranationalen
Machtblöcke und Nationalstaaten dirigiert werden.
Je nach der sozialen Zusammensetzung der Standorte könnten im Prozess des
Aufbaus der ersten Kommunikationsnetze spezifische Aktionsformen entwickelt und erprobt werden. Generell denkbar wären Initiativen zur Durchsetzung
eines existenzsichernden Mindestlohns, von radikaler Arbeitszeitverkürzung und betrieblicher Demokratisierung. In unseren Breiten könnte man
hier an die Erfahrungen der Jobber- und Erwerbslosenbewegungen der 1980er Jahre anknüpfen, aber auch an die Praxis der neuen italienischen und
französischen Basisgewerkschaften; die hiesige Gewerkschaftslinke könnte hier ihren Platz finden, falls das Projekt der innergewerkschaftlichen
Demokratisierung misslingen sollte. Dass in vielen Schwellenländern ganz andere Voraussetzungen bestehen und bspw. die in den maquiladores
ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeiter eine wesentliche Rolle spielen werden, versteht sich von selbst.
Parallel zu diesen Aktivitäten in der Produktions- und Verteilungssphäre
könnten Stadtteilbüros gegründet werden, in denen die vom Sozialkahlschlag Betroffenen beraten werden, zugleich aber auch
selbstorganisierte Netze der sozialen Kommunikation (lokale Radios und TV-Stationen) und der sozialen Aneignung aufbauen. Diese soziale Aneignung
könnte man konkret Gebührenboykott , aber auch perspektivisch verstehen: Die Sozialfonds, Bildungseinrichtungen und das
Gesundheitswesen sollten in kommunale Selbstverwaltung zurückgeholt werden, bevor sie vollends geplündert sind. Auch hier gibt es inzwischen
erste Erfahrungen, beispielsweise aus Berlin und Ostdeutschland.
Wie aber könnten derartige lokale Initiativen miteinander in Kontakt treten? Als
Brücke zwischen der lokalen Verortung und der weltweiten Vernetzung mit anderen Standortbewegungen könnten vor allem die Flüchtlinge
und Migranten fungieren. Sie sind überall als kleinere oder größere Sozialgruppen präsent, und es dürfte nicht schwerfallen, ihre
ohnehin schon bestehenden Kommunikationsstrukturen in das Gegenprojekt einzubeziehen, sofern sie an den jeweiligen Standorten geschützt und als
gleichwertige Partner respektiert werden. […]
Von großer Bedeutung wäre es nun, diese drei Komponenten eines social
movement unionism auf der jeweiligen Ebene einer lokalen beziehungsweise regionalen Agglomeration miteinander zu verknüpfen und parallel dazu
durch die Netzwerke der Migranten und Flüchtlinge, aber auch durch den Auf- und Ausbau internationaler Transportarbeitergewerkschaften den globalen
Kontext herzustellen. […]
Das alles sind nur erste Überlegungen. Jedoch sprechen gewichtige Annahmen
dafür, dass es drei wesentliche Elemente sein werden, die geeignet sein könnten, eine realistische Gegenperspektive mit Leben zu füllen:
Erstens die Maulwürfe der sozialen Gegenbewegungen in den Agglomerationen, zweitens die Netzwerke der Migranten sowie die Aktivisten einer
weltweit agierenden gewerkschaftlichen Basisbewegung, und drittens die »organischen Intellektuellen«, die in diesen Netzwerken verankert sind
und auf den globalen Gegen-Foren über die Wege zu einer sozial gerechten und egalitären Welt nachdenken. […]
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