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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2004, Seite 20

Portugal

30 Jahre Nelkenrevolution

Am 25.April 1974, vor 30 Jahren, beendete ein Staatsstreich der Mehrheit der portugiesischen Armee die jahrzehntelange Herrschaft der Diktatur.
25.April 1974, 0.29 Uhr: Mit der Ausstrahlung des legendären Liedes »Grândola, Vila Morena« von José (Zeca) Afonso im Programm des katholischen Radio Renascença hat der Countdown für die letzten Stunden des faschistischen Regimes begonnen. In zahlreichen Kasernen überall im Land beginnen die Operationen zu seinem Sturz. Gegen 3 Uhr werden simultan zahlreiche Schlüsselpositionen in Lissabon besetzt, darunter alle Radio- und Fernsehsender und der Flughafen. Gegen 4.30 Uhr sendet die Bewegung der Streitkräfte (MFA) ihr erstes Kommuniqué, in dem die Bevölkerung zur Ruhe und die Angehörigen aller paramilitärischen und Polizeikräfte zur Nichteinmischung aufgefordert werden.
8 Uhr: Nach und nach kommen Zehntausende von Menschen vom Südufer des Tejo an den Cais da Alfandega an, unmittelbar neben dem Terreiro do Paço, an dem zahlreiche Ministerien liegen. Ihnen bietet sich ein erstaunliches Bild: Der gesamte Platz ist abgeriegelt und von Militärs in Schützenpanzern besetzt, desgleichen alle in die Stadt führenden Straßen. 8.45 Uhr: Nur 100 Meter entfernt, in der Rua da Ribeira das Naus kommt es zu einer Zuspitzung. Eine Einheit der 7.Kavallerie unter dem Kommando des regimetreuen Brigadegenerals Reis droht, das Feuer zu eröffnen. Reis verweigert Verhandlungen. Ein erster Schießbefehl wird nicht ausgeführt. 9.50 Uhr: Die Flucht eines Ministers und mehrerer Staatssekretäre aus den belagerten Ministerien wird bekannt. Um 10 Uhr ergibt sich ein Major unter dem Kommando von Reis, die Hälfte seiner Männer wechselt die Seite.
Tausende Menschen sind inzwischen überall auf den Straßen, feiern die Soldaten und schmücken sie mit Nelken. 11.30 Uhr: Immer mehr Menschen strömen zum Largo do Carmo, inmitten der Altstadt, wo sich Regierungschef Caetano und mehrere Minister in der Kaserne der Republikanischen Nationalgarde (GNR) verschanzt haben. Sie werden ultimativ aufgefordert, sich zu ergeben, während rundum Tausende begeisterter Zivilisten ihre sofortige Kapitulation fordern. Die Spannung auf dem Platz wächst. Kurz nach 15 Uhr — das Ultimatum für eine Antwort ist soeben verstrichen — wird die Fassade der Kaserne mit Maschinengewehren beschossen. Gegen 18 Uhr gibt Hauptmann Maia die Kapitulation des Regimes bekannt. Caetano hat die Macht an General Spinola abgetreten. Spinola, Kritiker des Regimes, der freilich von einer Erneuerung des Kolonialreichs träumt und weitergehende Vorstellungen der MFA ablehnt, hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt, was der MFA hinnimmt, um Blutvergießen zu vermeiden. Das faschistische Regime ist nach fast 48 Jahren Herrschaft und über einem Jahrzehnt des Krieges in Afrika am Ende.
Staatsstreiche von links können als eine Ausnahmeerscheinung gelten, in einem Mitgliedstaat der NATO gar als einzigartig. Es war vor allem der Krieg in Afrika, der die Soldaten, allen voran die mittleren Offiziere, bewegt, sich gegen das Regime zu erheben. Eine ganze Generation von Militärs hatte die Sinnlosigkeit des Krieges hautnah erlebt. Währenddessen verarmte Portugal, wirtschaftlich ohnehin das Schlusslicht Westeuropas. Es war das mittlere Offizierskorps, das zuerst die Paradoxie und Aussichtslosigkeit dieses Krieges erkannte, in dem ihre Soldaten, immer schlechter ausgebildete Wehrpflichtige, gnadenlos verheizt und sie selbst zu Kollaborateuren einer zunehmend kriminellen Kriegführung wurden. Nicht wenige hatten eigene Kontakte mit Vertretern der Befreiungsbewegungen geknüpft, die ihnen sozioökonomische Hintergründe verdeutlichten und sie mit den Theorien von Marx, Lenin und Fanon bekannt machten.
Der weitere Verlauf der Entwicklung elektrisierte die europäische Linke für kurze Zeit, vor allem als nach dem Sturz Spinolas im September 1974 und dem Scheitern eines dilettantischen Gegenputschversuchs im März 1975 die Bewegung unter dem Einfluss linker Massenmobilisierung nach links rückte. Mit dem Wahlsieg der Sozialdemokraten war freilich die revolutionäre Phase zugunsten einer bürgerlich-demokratischen Herrschaft beendet. Die Kolonien wurden unabhängig, Portugal blieb Mitglied der NATO. 1979 schließlich kam die Rechte für ein Jahrzehnt an die Regierung. Sie erklärte von Anfang an den Gewerkschaften der niedergehenden Großindustrien den Krieg und gewann ihn, führte Portugal in die EU und strich das Ziel der »klassenlosen Gesellschaft« aus der nachrevolutionären Verfassung.
Eine Bilanz muss mit dem Abstand von 30 Jahren zwiespältig ausfallen: Einerseits wurden nicht nur die großen Hoffnungen zahlloser Linker in Portugal und weltweit auf einen sozialistischen Weg enttäuscht, sondern zahllose Aktive frustriert. Die mit den massenhaften Besetzungen brachliegender Großgüter im Alentejo begonnene Agrarreform endete spätestens mit dem EU-Beiritt 1986. An ihre Stelle trat eine kapitalistisch rationalisierte Landwirtschaft. Die Klasse der Landarbeiter ist heute verschwunden bzw. ersetzt durch Arbeitskräfte aus der Ukraine und anderen Ländern der neuen Peripherie.
Ähnliches gilt für die damals vor allem in den Großbetrieben wie Lisnave konzentrierte Arbeiterbewegung. Andererseits gehört Portugal heute nicht mehr selbst zu den wirtschaftlich peripheren Ländern, sondern hat nachholend eine kapitalistische Modernisierung vollzogen. Und anders als später in Spanien, Argentinien und Chile handelte eben nicht die Diktatur selber die Bedingungen ihres Endes aus, mussten nicht ihre Opfer schweigen oder sich weiter demütigen lassen. Die Frage nach dem Realismus eines sozialistischen Weges stellt sich heute anders. Denn eher als dessen Erfolg scheint im Nachhinein sein blutiges Ende vorstellbar. So scheint die damals von radikalen Linken bestenfalls belächelte pazifistische Attitüde der Revolutionäre in Uniform, die soviel Wert darauf legten, kein Blut zu vergießen, eher als historischer Realismus.

Jan Henkel

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