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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite

John Pilger bilanziert die Besatzung im Irak

Raus aus dem Irak!

Vor vier Jahren reiste ich durch den Irak, von den Bergen im kurdischen Norden, wo der hl.Matthäus begraben liegt, bis zum Herzen Mesopotamiens sowie nach Bagdad und in den schiitischen Süden. Selten habe ich mich zu Hause so sicher gefühlt.
In den edwardianischen Kolonnaden des Bagdader Bücherbasars schrie mich einmal ein junger Mann an und beklagte sich über die Not, die seine Familie unter dem von den USA und Großbritannien auferlegten Embargo zu erleiden hatte. Was daraufhin geschah war für die Iraker typisch: Ein Passant beruhigte den jungen Mann und legte den Arm um seine Schultern, während ein anderer mir schnell versicherte: »Vergeben Sie ihm. Wir verbinden die Menschen im Westen nicht mit den Handlungen ihrer Regierungen. Seien Sie uns willkommen.«
Bei einer der traurigen Abendauktionen, wohin Iraker gehen, um, durch die Not gezwungen, ihren persönlichsten Besitz zu veräußern, sah eine Frau mit zwei kleinen Kindern, wie ihr Kinderwagen für ein paar Pennies wegging; ein Mann, der seit seinem 15.Lebensjahr Tauben gehalten hatte, kam mit seinem letzten Vogel und dem Käfig — und doch sagten die Leute zu mir: »Seien Sie uns willkommen.«
Eine solch würdevolle Haltung wurde oft von den Exilirakern zum Ausdruck gebracht, die Saddam Hussein verabscheuten und sowohl das Wirtschaftsembargo als auch den britisch-amerikanischen Überfall auf ihr Land verurteilten. Tausende dieser Anti-Saddam-Aktivisten demonstrierten im vergangenen Jahr in London gegen den Krieg, zum Ärger der Kriegstreiber, die niemals die Dichotomie ihres prinzipiellen Standpunkts verstanden.

Das zerrissene Gewebe

Reiste ich heute wieder in den Irak, würde ich vielleicht nicht lebend zurückkommen. Ausländische Terroristen haben dafür gesorgt. Mit den tödlichsten Waffen, die man für Milliarden von Dollars kaufen kann, den Drohungen ihrer Cowboy-Generäle und der von Panik genährten Brutalität ihrer Fußsoldaten haben über 120000 dieser Invasoren das Gewebe einer Nation zerrissen, die Saddam Hussein überlebt hat. Sie haben in den Irak eine alltägliche, mörderische Gewalt gebracht, welche die eines Tyrannen, der nie eine vorgetäuschte Demokratie versprochen hat, noch übertrifft.
Amnesty International berichtet, dass US-Truppen »Iraker bei Demonstrationen getötet haben, Gefangene folterten und misshandelten, willkürlich Menschen festgenommen und sie unbegrenzt gefangen gehalten haben, als Vergeltungsmaßnahmen Häuser zerstörten und Kollektivstrafen verhängten«.
In Fallujah schlachteten US-Marineinfanteristen als Rache für die Tötung von vier US-Söldnern bis zu 600 Menschen ab. Dies geschah durch Angriffe aus der Luft und mit schweren Waffen, die in Wohngebieten zum Einsatz kamen. Unter den Toten von Fallujah waren viele Frauen, Kinder und alte Menschen.
Nur die arabischen Fernsehstationen, besonders Al Jazeera, zeigten das wahre Ausmaß dieses Verbrechens, während die britisch-amerikanischen Medien weiter die Lügen von Downing Street und Weißem Haus verbreiten.

Der verdrängte Aufstand

In den Nachrichtensendungen der BBC und in ihrem Nachrichtenmagazin Newsnight tauchen noch immer die »Terroristen« von Premier Blair auf — ein Begriff, der niemals auf die wirkliche Quelle und Ursache des Terrorismus im Irak, die ausländischen Invasoren, angewandt wird. Diese haben laut Amnesty International und anderen Quellen bislang mindestens 11000 Zivilisten getötet. Die Gesamtzahl der Getöteten, einschließlich der Rekruten, kann bis zu 55000 betragen.
Seit über einem Jahr findet im Irak ein nationalistischer Aufstand statt, der mindestens 15 verschiedene Gruppen umfasst, die meisten waren Gegner des alten Regimes. In dem von Washington und London erfundenen verlogenen Wörterbuch wird dies unterschlagen. »Überreste«, »Stammesfürsten« und »Fundamentalisten« dominieren in diesem Wörterbuch, während dem Irak das Erbe einer Geschichte verwehrt wird, in der ein großer Teil der modernen Welt wurzelt.
Selbst jetzt, wo der Aufstand sich verbreitet, gibt es nur eine kryptische Geste gegenüber dem Offensichtlichen: dass dies ein nationaler Befreiungskrieg ist und dass »wir« der Feind sind. Typisch dafür ist der Sydney Morning Herald. Nachdem er seine »Überraschung« über die Vereinigung von Schiiten und Sunniten ausgedrückt hatte, beschrieb der Bagdader Korrespondent des Blattes kürzlich, »wie sich GIs ihre irakischen Freunde zu Feinden machen« und wie er und sein Fahrer von Amerikanern bedroht worden seien. »Ich hol dich hier raus, schneller als du denkst, du Scheißkerl!«, äußerte ein Soldat gegenüber dem Journalisten.
Dass dies nur ein Schimmer jenes Terrors und jener Demütigung war, die die Iraker jeden Tag in ihrem eigenen Land zu erdulden haben, wurde nicht deutlich gemacht; stattdessen publiziert diese Zeitung salbungsvolle Bilder von trauernden US- Soldaten, um Sympathie für Invasoren zu wecken, die das Leben Tausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder vernichtet haben.
Ein Grundsatz des westlichen Journalismus besteht darin, »unsere« Schuld, wie ungeheuerlich sie auch immer sein mag, herunterzuspielen oder abzustreiten. Unsere Toten werden gezählt; die der anderen nicht. Unsere Toten zählen; die der anderen nicht.

Eine alte Geschichte

Das ist eine alte Geschichte: Es gab schon viele Iraks oder, wie es Blair nannte, »historische Kämpfe« gegen »Aufständische und Terroristen«. Betrachten wir Kenya in den 50er Jahren. Die offizielle Version wird im Westen noch immer hochgehalten — zuerst in der Presse verbreitet, dann in Filmen und Romanen; und wie im Falle des Irak ist sie eine Lüge.
»Die Aufgabe, auf die wir unser Sinnen und Trachten richten«, erklärte der Gouverneur von Kenya 1955, »ist die Zivilisierung einer großen Anzahl von Menschen, die sich in einem sehr primitiven moralischen und sozialen Zustand befinden.« Das Abschlachten Tausender von Nationalisten, die niemals als solche benannt wurden, war britische Regierungspolitik.
Der Mythos des kenyanischen Aufstands bestand darin, dass die Mau-Mau einen »dämonischen Terror« über die heroischen weißen Siedler hereinbrechen ließen. In Wirklichkeit töteten die Mau- Mau gerade mal 32 Europäer. Im Vergleich dazu wurden etwa 10000 Kenyaner von den Briten getötet, die Konzentrationslager errichteten, in denen die Bedingungen so hart waren, dass 402 Insassen innerhalb eines Monats starben.
Folter, Auspeitschungen und Misshandlungen von Frauen und Kindern waren alltäglich. »Die Sondergefängnisse«, schrieb der Historiker V.G. Kiernan, »waren wahrscheinlich so schlimm wie ähnliche Einrichtungen der Nazis oder der Japaner.« Über nichts von alldem wurde berichtet. Der »dämonische Terror« existierte nur in einer Richtung: Schwarz gegen Weiß. Die rassistische Botschaft war eindeutig.
Dasselbe geschah in Vietnam. 1969 wurde die Enthüllung des amerikanischen Massakers im Dorf My Lai auf dem Cover von Newsweek als »Eine amerikanische Tragödie«, nicht als vietnamesische, beschrieben. Tatsächlich gab es sehr viele Massaker wie in My Lai, und über nahezu keines von ihnen wurde damals berichtet.
Die wirkliche Tragödie der Soldaten einer Besatzungsmacht wird auch unterdrückt. Über 58000 US-Soldaten wurden in Vietnam getötet. Laut einer Studie von Veteranen tötete sich eine ebenso große Anzahl selbst nach ihrer Rückkehr in die Heimat.

Mit doppeltem Maß
Dr.Doug Rokke, Direktor Projekts der US-Armee für abgereichertes Uran nach dem Golfkrieg 1991, schätzt, dass mehr als 10000 amerikanische Soldaten seitdem an Kriegsfolgen gestorben sind, viele an Krankheiten, die durch radioaktive Kontamination verursacht waren. Als ich ihn fragte, wieviele Iraker denn gestorben seien, runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. »Uran wurde in Granaten verwendet«, sagte er.
»Zehntausende Iraker — Männer, Frauen, Kinder — wurden kontaminiert. Während der 90er Jahre sah ich auf internationalen Symposien irakische Offizielle auf ihre Kollegen aus dem Pentagon und dem Verteidigungsministerium zugehen und sie um Hilfe zur Dekontamination bitten und anflehen. Die Iraker haben kein Uran verwendet; es war nicht ihre Waffe. Ich sah, wie ihre Bitten abgewiesen wurden. Es waren Mitleid erregende Szenen.«
Während der Invasion im vergangenen Jahr verwendeten die Invasionstruppen erneut Urangranaten, wobei sie ganze Regionen so verseucht hinterließen, dass sich nur Militärpersonal in vollständigen Schutzanzügen diesen nähern können. Irakischen Zivilisten jedoch wird keine Warnung oder medizinische Hilfe zuteil; Tausende Kinder spielen in diesen Zonen. Die »Koalition« hat der Internationalen Atomenergiebehörde die Erlaubnis verweigert, Experten dorthin zu senden, um das, was Rokke als »eine Katastrophe« beschreibt, zu untersuchen.
Wann wird über die Katastrophe angemessen von denen berichtet, die angeblich dafür da sind, die Öffentlichkeit auf dem Laufenden zu halten? Wann werden die BBC und andere die Lage der etwa 10000 ohne Anklage festgehaltenen Iraker untersuchen, von denen viele in US-Konzentrationslagern im ganzen Land gefoltert werden. Wann werden sie endlich über die Einzäunung ganzer irakischer Dörfer mit Stacheldraht berichten?
Wann werden die BBC und andere aufhören, von der »Übergabe der irakischen Souveränität« am 30.Juni zu reden, obwohl es diese Übergabe nicht geben wird? Das neue Regime wird aus Handlangern bestehen, jedes Ministerium wird von US-Beamten kontrolliert werden, mit einer von den Amerikanern geführten Armee und Polizei von Handlangern.
Ein aus der Saddam-Ära stammendes Gesetz, das Gewerkschaften für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors verbietet, wird in Kraft bleiben. Führende Mitglieder von Saddams berüchtigter Geheimpolizei, der Mukhabarat, werden die »Staatssicherheit« leiten — unter Anleitung des CIA.
Die US-Militärs werden denselben Status genießen, der den anderen sie in 750 Militärbasen in der ganzen Welt beherbergenden Nationen auferzwungen wurde, d.h. sie werden faktisch weiter am Ruder bleiben. Der Irak wird zu einer Kolonie der USA, wie Haiti. Und wann werden Journalisten den Mut haben, auf die zentrale Rolle hinzuweisen, die Israel bei diesem gewaltigen kolonialen Projekt für den Nahen und Mittleren Osten spielt?
Vor einigen Wochen tat Rick Mercier, ein junger Kolumnist des Free-Lance Star, einer kleinen Zeitung in Virginia, was kein anderer Journalist im letzten Jahr tat. Er entschuldigte sich bei seinen Lesern für die Travestie der Berichterstattung der Ereignisse, die zum Überfall auf den Irak geführt haben. »Leider ließen wir uns in unserer Berichterstattung von nicht zutreffenden Behauptungen leiten. Leider ließen wir uns von einer Bande egoistischer irakischer Überläufer an der Nase herum führen. Leider fielen wir auf Colin Powells Vorstellung bei den Vereinten Nationen herein … Vielleicht werden wir beim nächsten Krieg unsere Arbeit besser machen.«
Es wird behauptet, dass die britischen Offiziere im Irak die »Taktik« ihrer US- Kameraden mittlerweile als »entsetzlich« beschreiben. Nein, eine koloniale Besatzung ist selbst entsetzlich, wie die Familien von 13 von britischen Soldaten getöteten Iraker bestätigen werden, die die britische Regierung verklagen. Wenn die britische Militärführung von ihrer eigenen kolonialen Vergangenheit auch nur ein Minimum begreifen würde, zumindest den blutigen Rückzug der Briten aus dem Irak vor 83 Jahren, würden sie dem kleinen Wellington/Palmerston in Downing Street ins Ohr flüstern: »Ziehen wir jetzt ab, bevor sie uns rausschmeißen!«
John Pilger

John Pilger ist ein bekannter britischer Autor und Filmemacher (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)



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