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Vor vier Jahren reiste ich durch den Irak, von den Bergen im kurdischen Norden, wo der hl.Matthäus begraben liegt, bis
zum Herzen Mesopotamiens sowie nach Bagdad und in den schiitischen Süden. Selten habe ich mich zu Hause so sicher gefühlt.
In den edwardianischen Kolonnaden des Bagdader Bücherbasars schrie mich einmal ein
junger Mann an und beklagte sich über die Not, die seine Familie unter dem von den USA und Großbritannien auferlegten Embargo zu erleiden
hatte. Was daraufhin geschah war für die Iraker typisch: Ein Passant beruhigte den jungen Mann und legte den Arm um seine Schultern, während
ein anderer mir schnell versicherte: »Vergeben Sie ihm. Wir verbinden die Menschen im Westen nicht mit den Handlungen ihrer Regierungen. Seien Sie
uns willkommen.«
Bei einer der traurigen Abendauktionen, wohin Iraker gehen, um, durch die Not gezwungen,
ihren persönlichsten Besitz zu veräußern, sah eine Frau mit zwei kleinen Kindern, wie ihr Kinderwagen für ein paar Pennies wegging;
ein Mann, der seit seinem 15.Lebensjahr Tauben gehalten hatte, kam mit seinem letzten Vogel und dem Käfig und doch sagten die Leute zu mir:
»Seien Sie uns willkommen.«
Eine solch würdevolle Haltung wurde oft von den Exilirakern zum Ausdruck gebracht,
die Saddam Hussein verabscheuten und sowohl das Wirtschaftsembargo als auch den britisch-amerikanischen Überfall auf ihr Land verurteilten. Tausende
dieser Anti-Saddam-Aktivisten demonstrierten im vergangenen Jahr in London gegen den Krieg, zum Ärger der Kriegstreiber, die niemals die Dichotomie
ihres prinzipiellen Standpunkts verstanden.
Reiste ich heute wieder in den Irak, würde ich vielleicht nicht lebend zurückkommen. Ausländische Terroristen haben dafür
gesorgt. Mit den tödlichsten Waffen, die man für Milliarden von Dollars kaufen kann, den Drohungen ihrer Cowboy-Generäle und der von
Panik genährten Brutalität ihrer Fußsoldaten haben über 120000 dieser Invasoren das Gewebe einer Nation zerrissen, die Saddam
Hussein überlebt hat. Sie haben in den Irak eine alltägliche, mörderische Gewalt gebracht, welche die eines Tyrannen, der nie eine
vorgetäuschte Demokratie versprochen hat, noch übertrifft.
Amnesty International berichtet, dass US-Truppen »Iraker bei Demonstrationen
getötet haben, Gefangene folterten und misshandelten, willkürlich Menschen festgenommen und sie unbegrenzt gefangen gehalten haben, als
Vergeltungsmaßnahmen Häuser zerstörten und Kollektivstrafen verhängten«.
In Fallujah schlachteten US-Marineinfanteristen als Rache für die Tötung von vier
US-Söldnern bis zu 600 Menschen ab. Dies geschah durch Angriffe aus der Luft und mit schweren Waffen, die in Wohngebieten zum Einsatz kamen.
Unter den Toten von Fallujah waren viele Frauen, Kinder und alte Menschen.
Nur die arabischen Fernsehstationen, besonders Al Jazeera, zeigten das wahre Ausmaß
dieses Verbrechens, während die britisch-amerikanischen Medien weiter die Lügen von Downing Street und Weißem Haus verbreiten.
In den Nachrichtensendungen der BBC und in ihrem Nachrichtenmagazin Newsnight tauchen noch immer die »Terroristen« von Premier Blair
auf ein Begriff, der niemals auf die wirkliche Quelle und Ursache des Terrorismus im Irak, die ausländischen Invasoren, angewandt wird. Diese
haben laut Amnesty International und anderen Quellen bislang mindestens 11000 Zivilisten getötet. Die Gesamtzahl der Getöteten,
einschließlich der Rekruten, kann bis zu 55000 betragen.
Seit über einem Jahr findet im Irak ein nationalistischer Aufstand statt, der mindestens
15 verschiedene Gruppen umfasst, die meisten waren Gegner des alten Regimes. In dem von Washington und London erfundenen verlogenen Wörterbuch
wird dies unterschlagen. »Überreste«, »Stammesfürsten« und »Fundamentalisten« dominieren in diesem
Wörterbuch, während dem Irak das Erbe einer Geschichte verwehrt wird, in der ein großer Teil der modernen Welt wurzelt.
Selbst jetzt, wo der Aufstand sich verbreitet, gibt es nur eine kryptische Geste gegenüber
dem Offensichtlichen: dass dies ein nationaler Befreiungskrieg ist und dass »wir« der Feind sind. Typisch dafür ist der Sydney Morning
Herald. Nachdem er seine »Überraschung« über die Vereinigung von Schiiten und Sunniten ausgedrückt hatte, beschrieb der
Bagdader Korrespondent des Blattes kürzlich, »wie sich GIs ihre irakischen Freunde zu Feinden machen« und wie er und sein Fahrer von
Amerikanern bedroht worden seien. »Ich hol dich hier raus, schneller als du denkst, du Scheißkerl!«, äußerte ein Soldat
gegenüber dem Journalisten.
Dass dies nur ein Schimmer jenes Terrors und jener Demütigung war, die die Iraker
jeden Tag in ihrem eigenen Land zu erdulden haben, wurde nicht deutlich gemacht; stattdessen publiziert diese Zeitung salbungsvolle Bilder von trauernden US-
Soldaten, um Sympathie für Invasoren zu wecken, die das Leben Tausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder vernichtet haben.
Ein Grundsatz des westlichen Journalismus besteht darin, »unsere« Schuld, wie
ungeheuerlich sie auch immer sein mag, herunterzuspielen oder abzustreiten. Unsere Toten werden gezählt; die der anderen nicht. Unsere Toten
zählen; die der anderen nicht.
Das ist eine alte Geschichte: Es gab schon viele Iraks oder, wie es Blair nannte, »historische Kämpfe« gegen »Aufständische
und Terroristen«. Betrachten wir Kenya in den 50er Jahren. Die offizielle Version wird im Westen noch immer hochgehalten zuerst in der Presse
verbreitet, dann in Filmen und Romanen; und wie im Falle des Irak ist sie eine Lüge.
»Die Aufgabe, auf die wir unser Sinnen und Trachten richten«, erklärte der
Gouverneur von Kenya 1955, »ist die Zivilisierung einer großen Anzahl von Menschen, die sich in einem sehr primitiven moralischen und sozialen
Zustand befinden.« Das Abschlachten Tausender von Nationalisten, die niemals als solche benannt wurden, war britische Regierungspolitik.
Der Mythos des kenyanischen Aufstands bestand darin, dass die Mau-Mau einen
»dämonischen Terror« über die heroischen weißen Siedler hereinbrechen ließen. In Wirklichkeit töteten die Mau-
Mau gerade mal 32 Europäer. Im Vergleich dazu wurden etwa 10000 Kenyaner von den Briten getötet, die Konzentrationslager errichteten, in denen
die Bedingungen so hart waren, dass 402 Insassen innerhalb eines Monats starben.
Folter, Auspeitschungen und Misshandlungen von Frauen und Kindern waren alltäglich.
»Die Sondergefängnisse«, schrieb der Historiker V.G. Kiernan, »waren wahrscheinlich so schlimm wie ähnliche Einrichtungen
der Nazis oder der Japaner.« Über nichts von alldem wurde berichtet. Der »dämonische Terror« existierte nur in einer Richtung:
Schwarz gegen Weiß. Die rassistische Botschaft war eindeutig.
Dasselbe geschah in Vietnam. 1969 wurde die Enthüllung des amerikanischen Massakers
im Dorf My Lai auf dem Cover von Newsweek als »Eine amerikanische Tragödie«, nicht als vietnamesische, beschrieben. Tatsächlich
gab es sehr viele Massaker wie in My Lai, und über nahezu keines von ihnen wurde damals berichtet.
Die wirkliche Tragödie der Soldaten einer Besatzungsmacht wird auch
unterdrückt. Über 58000 US-Soldaten wurden in Vietnam getötet. Laut einer Studie von Veteranen tötete sich eine ebenso große
Anzahl selbst nach ihrer Rückkehr in die Heimat.
Mit doppeltem Maß
Dr.Doug Rokke, Direktor Projekts der US-Armee für abgereichertes Uran nach dem
Golfkrieg 1991, schätzt, dass mehr als 10000 amerikanische Soldaten seitdem an Kriegsfolgen gestorben sind, viele an Krankheiten, die durch radioaktive
Kontamination verursacht waren. Als ich ihn fragte, wieviele Iraker denn gestorben seien, runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. »Uran
wurde in Granaten verwendet«, sagte er.
»Zehntausende Iraker Männer, Frauen, Kinder wurden
kontaminiert. Während der 90er Jahre sah ich auf internationalen Symposien irakische Offizielle auf ihre Kollegen aus dem Pentagon und dem
Verteidigungsministerium zugehen und sie um Hilfe zur Dekontamination bitten und anflehen. Die Iraker haben kein Uran verwendet; es war nicht ihre Waffe.
Ich sah, wie ihre Bitten abgewiesen wurden. Es waren Mitleid erregende Szenen.«
Während der Invasion im vergangenen Jahr verwendeten die Invasionstruppen erneut
Urangranaten, wobei sie ganze Regionen so verseucht hinterließen, dass sich nur Militärpersonal in vollständigen Schutzanzügen
diesen nähern können. Irakischen Zivilisten jedoch wird keine Warnung oder medizinische Hilfe zuteil; Tausende Kinder spielen in diesen Zonen.
Die »Koalition« hat der Internationalen Atomenergiebehörde die Erlaubnis verweigert, Experten dorthin zu senden, um das, was Rokke als
»eine Katastrophe« beschreibt, zu untersuchen.
Wann wird über die Katastrophe angemessen von denen berichtet, die angeblich
dafür da sind, die Öffentlichkeit auf dem Laufenden zu halten? Wann werden die BBC und andere die Lage der etwa 10000 ohne Anklage
festgehaltenen Iraker untersuchen, von denen viele in US-Konzentrationslagern im ganzen Land gefoltert werden. Wann werden sie endlich über die
Einzäunung ganzer irakischer Dörfer mit Stacheldraht berichten?
Wann werden die BBC und andere aufhören, von der »Übergabe der
irakischen Souveränität« am 30.Juni zu reden, obwohl es diese Übergabe nicht geben wird? Das neue Regime wird aus Handlangern
bestehen, jedes Ministerium wird von US-Beamten kontrolliert werden, mit einer von den Amerikanern geführten Armee und Polizei von Handlangern.
Ein aus der Saddam-Ära stammendes Gesetz, das Gewerkschaften für die
Beschäftigten des öffentlichen Sektors verbietet, wird in Kraft bleiben. Führende Mitglieder von Saddams berüchtigter Geheimpolizei,
der Mukhabarat, werden die »Staatssicherheit« leiten unter Anleitung des CIA.
Die US-Militärs werden denselben Status genießen, der den anderen sie in 750
Militärbasen in der ganzen Welt beherbergenden Nationen auferzwungen wurde, d.h. sie werden faktisch weiter am Ruder bleiben. Der Irak wird zu einer
Kolonie der USA, wie Haiti. Und wann werden Journalisten den Mut haben, auf die zentrale Rolle hinzuweisen, die Israel bei diesem gewaltigen kolonialen
Projekt für den Nahen und Mittleren Osten spielt?
Vor einigen Wochen tat Rick Mercier, ein junger Kolumnist des Free-Lance Star, einer kleinen
Zeitung in Virginia, was kein anderer Journalist im letzten Jahr tat. Er entschuldigte sich bei seinen Lesern für die Travestie der Berichterstattung der
Ereignisse, die zum Überfall auf den Irak geführt haben. »Leider ließen wir uns in unserer Berichterstattung von nicht zutreffenden
Behauptungen leiten. Leider ließen wir uns von einer Bande egoistischer irakischer Überläufer an der Nase herum führen. Leider fielen
wir auf Colin Powells Vorstellung bei den Vereinten Nationen herein … Vielleicht werden wir beim nächsten Krieg unsere Arbeit besser
machen.«
Es wird behauptet, dass die britischen Offiziere im Irak die »Taktik« ihrer US-
Kameraden mittlerweile als »entsetzlich« beschreiben. Nein, eine koloniale Besatzung ist selbst entsetzlich, wie die Familien von 13 von britischen
Soldaten getöteten Iraker bestätigen werden, die die britische Regierung verklagen. Wenn die britische Militärführung von ihrer
eigenen kolonialen Vergangenheit auch nur ein Minimum begreifen würde, zumindest den blutigen Rückzug der Briten aus dem Irak vor 83 Jahren,
würden sie dem kleinen Wellington/Palmerston in Downing Street ins Ohr flüstern: »Ziehen wir jetzt ab, bevor sie uns
rausschmeißen!«
John Pilger
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