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Unbeachtet von Medien und Öffentlichkeit wird derzeit auf dem Verordnungswege eine Weichenstellung zur Neubestimmung
des sozialkulturellen Existenzminimums vorgenommen. Bis Anfang April 2004 soll der Bundesrat einem erst Mitte Januar von der Bundesregierung vorgelegten
Entwurf für eine Verordnung zustimmen, mit der die Regelsätze als Teil des neuen Sozialhilferechts (SGB XII) für die Zukunft festgeschrieben
werden sollen.
Tritt der vorliegende Verordnungsentwurf in Kraft, droht das Existenzminimum auf Dauer auf einem
Niveau festgeschrieben zu werden, das weitreichende Folgen nicht nur für das deutsche Sozialleistungs- und Steuersystem, sondern auch für die
Gesamtheit der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik haben wird. Wie dem Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu entnehmen ist, hat im
letzten Jahrzehnt vor dem Hintergrund einer Auseinanderentwicklung der Einkommen und Vermögen das Ausmaß der Einkommensarmut in der
Bundesrepublik zugenommen. Durch das vorgesehene Bemessungssystem wird einer weiteren Verschärfung der Armutsproblematik keine wirksame Barriere
entgegengesetzt.
Die Regelsätze bestimmen zusammen mit den Unterkunftskosten und etwaigen Mehrbedarfszuschlägen das Leistungsniveau in der Sozialhilfe.
Grundlegende Bedeutung für das deutsche Steuer- und Sozialleistungssystem haben die Regelsätze dadurch gewonnen, dass das mit den
Regelsätzen betragsmäßig konkretisierte Existenzminimum zunächst von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und dann von
der Politik auch zur Festsetzung des Grundfreibetrags im Einkommens- und Lohnsteuerrecht sowie für Unterhaltsrecht und Pfändungsfreigrenzen
herangezogen worden ist. Von daher ist das Regelsatzsystem heute für die Lebenslage aller Bürgerinnen und Bürger und nicht nur
für die Sozialhilfeempfänger von Bedeutung. Es bildet einen Eckwert des bundesdeutschen Sozialstaats.
Das Sozialhilfeniveau zog bislang dem Niveau der verfügbaren Haushaltseinkommen in der
Bundesrepublik eine Untergrenze. Dabei können Haushalte nicht nur fehlende oder unzureichende Sozialleistungen, sondern auch zu geringe Verdienste durch
ergänzende Sozialhilfe aufstocken. Insofern bestimmte die Sozialhilfe zugleich die Basis, auf der die deutsche Lohn- und Gehaltspyramide stand. Ab Anfang
2005 werden nun alle Erwerbsfähigen gleichgültig ob sie erwerbstätig oder arbeitslos sind mit ihren Angehörigen auf die
neue Grundsicherung für Arbeitsuchende des SGB II verwiesen, sofern sie einen materiellen Hilfebedarf geltend machen. Während in der Sozialhilfe
(Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) künftig nur ein begrenzter Kreis von Leistungsempfängern
verbleibt, haben Langzeitarbeitslose und Niedrigverdiener künftig nur noch Ansprüche auf die neue Grundsicherung des SGB II, können also (als
Erwerbsfähige) Arbeitslosengeld II oder (als deren Angehörige) Sozialgeld beziehen.
Dabei sind die Regelungen des SGB II vorrangig so konzipiert worden, den Grundsicherungsbedarf
möglichst niedrig anzusetzen, um eine anreizorientierte Ausgestaltung dieser Transferleistung sicherzustellen. Die Gesamtheit der Regelungen des SGB II soll
den Weg für den Ausbau eines Niedriglohnsektors ebnen; eine Vermittlung in Arbeit soll »um jeden Preis« möglich werden. Mit der
Ausdifferenzierung der Verdienste nach unten soll zugleich das gesamte Lohn- und Gehaltsgefüge nach unten gedrückt werden. Dies setzt voraus, dass
das Arbeitslosengeld II als neuer unterster Sockel so niedrig angesetzt wird, dass dieser Prozess nicht behindert wird.
Das SGB II bietet somit eine »Grundsicherung«, die vorrangig keine Sicherungs-, sondern eine negative Anreizfunktion zu erfüllen hat.
Dagegen sind die Regelsätze der Sozialhilfe nach dem SGB XII vorrangig durch den verfassungsrechtlichen Auftrag geprägt, die Würde des
Menschen durch einen Zugang zu einem hinreichenden Einkommen zu gewährleisten. Hier dienen die Regelsätze also dazu, eine Grenze nach unten zu
ziehen (»Sockelung«) und die sozialstaatliche Schutz- und Sicherungsaufgabe einzulösen. Gleichzeitig bilden sie jedoch auch das Referenzsystem
für die Festlegung des Leistungsniveaus in der neuen »Grundsicherung für Arbeitsuchende« gemäß SGB II. Diese
widersprüchliche Aufgabenstellung bestimmt den aktuellen Verordnungsentwurf.
Tatsächlich wurden in dem Ende 2003 verabschiedeten SGB II die Beträge für
das neue Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld vorab festgeschrieben. Die eigentlich hierfür als Richtgröße maßgeblichen
Sozialhilferegelsätze sollen nunmehr nachträglich auf dem Verordnungswege bestimmt werden. Der Verdacht liegt nahe, dass mit der Verordnung nur
noch nachträglich legitimiert werden soll, was bereits vorab im SGB II unter dem Diktat der schon eingeschlagenen Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik vorgegeben wurde.
Umso kritischer ist die Vorgehensweise zu bewerten, wonach dieser zentrale Grundpfeiler unseres
Steuer- und Sozialleistungssystems (wie bisher) auf dem Verordnungswege bestimmt wird und über die Verordnung innerhalb weniger Wochen unterhalb der
öffentlichen Wahrnehmungsschwelle entschieden werden soll. Aber nicht nur das Verfahren, sondern auch der Inhalt der geplanten Verordnung gibt Anlass zu
grundlegender Kritik, denn die in der Verordnung vorgesehene Vorgehensweise entspricht keineswegs den Anforderungen eines transparenten, nachvollziehbaren und
in sich konsistenten Bemessungsverfahrens:
♦ Die Verordnung sieht die Bemessung des notwendigen Lebensbedarfs in Form
sogenannter Regelsätze vor, die auf der Grundlage tatsächlicher Verbrauchsausgaben von Haushaltsgruppen im unteren Einkommensbereich festgelegt
werden. Dabei muss ein Zirkelschluss ausgeschlossen sein, wonach die tatsächlichen Verbrauchsausgaben von sozialhilfeberechtigten Haushalten für die
Bestimmung des notwendigen Bedarfs herangezogen werden.
♦ Dafür reicht es jedoch nicht aus, dass, wie vorgesehen, nur die
Sozialhilfeempfänger in der betrachteten Haushaltsgruppe unberücksichtigt bleiben. Notwendig wäre es, ebenso alle Bezieher von
Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende sowie für Ältere und Erwerbsgeminderte herauszunehmen. Unberücksichtigt bleiben
müssten auch diejenigen, die über Sozialhilfe- oder Grundsicherungsansprüche verfügen, diese jedoch nicht wahrnehmen (die sog.
Dunkelziffer der Armut).
♦ Indem bei der Bemessung der Regelsätze allein auf untere
Haushaltseinkommen Bezug genommen wird, wird zugleich festgeschrieben, dass bei der politisch gewollten Abkoppelung des unteren Einkommensbereichs von der
allgemeinen Einkommensentwicklung (Niedriglöhne, Renten usw.) auch das Existenzminimum hinter dieser Entwicklung immer weiter zurück bleibt.
♦ Für die Regelsätze werden statistische Angaben auf Basis der
jeweils letzten verfügbaren Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) herangezogen. Da die EVS nur alle fünf Jahre erhoben wird, müssen
diese Daten zunächst erst einmal aktualisiert werden. Dabei bleiben die in der Zwischenzeit entstandenen zusätzlichen Aufwendungen und Belastungen
unberücksichtigt (z.B. Zuzahlungen in der Krankenversicherung).
♦ Auch die für die Jahre bis zur neuen EVS vorgesehene Anpassung der
Regelsätze mit der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts wird zu einem Hinterherhinken der Regelsätze hinter der allgemeinen
Einkommensentwicklung führen. Geht doch der politische Konsens dahin, im Zuge der demografischen Verschiebungen das Rentenniveau durch eine
verminderte Rentenanpassung weiter abzusenken. Dieser Mechanismus wird damit auf die Sozialhilferegelsätze ohne weitere Begründung
übertragen.
♦ Willkürliche Setzungen und nicht zu begründende
Vorgehensweisen kennzeichnen die Festsetzung von Abschlägen, mit denen aus den tatsächlichen Ausgaben unterer Haushaltsgruppen die
regelsatzrelevanten Ausgaben im Sinne des notwendigen Lebensbedarfs abgeleitet werden. Durch diese Abschläge wird der Gesamtwert der
Verbrauchsausgaben unterer Haushaltsgruppen um knapp 60% auf den regelsatzrelevanten Verbrauch reduziert, wobei die Abschläge u.a. damit begründet
werden, dass bei Sozialhilfeempfängern Ausgaben für Pelze, Segelflugzeuge, Gebühren von Anlageberatern etc. unberücksichtigt bleiben
sollten Ausgaben, die gerade bei unteren Haushaltsgruppen von größter Bedeutung sein dürften! Auch für die vorgesehene
Verringerung der Alterstufen ist keine plausible Begründung vorgelegt worden.
Hinzu kommt: Im neuen Sozialhilfegesetz ist den Bundesländern die Wahlmöglichkeit
eingeräumt worden, bei der Festsetzung der Regelsätze bundeseinheitliche oder regionale EVS-Auswertungen zugrunde zu legen. Dadurch ist einer
Bemessung nach fiskalischen Gesichtspunkten durch Auswahl der jeweils niedrigeren Bemessungsgrundlage Tür und Tor geöffnet worden.
Im SGB XII wird schließlich das sog. Abstandsgebots beibehalten, wonach das
Sozialhilfeniveau durch das verfügbare Haushaltseinkommen eines Arbeitnehmerhaushalts mit einem Vollzeitverdiener unterer Lohn- und Gehaltsgruppen nach
oben begrenzt wird. Indem bei diesem Vergleich ein Fünf-Personen-Haushalt zugrunde gelegt wird, der in der Bevölkerung wie unter den
Sozialhilfeempfängern praktisch kaum vorkommt, und der wegen der fünf Personen einen besonders hohen Bedarf aufweist, wird das Sozialhilfenniveau
für alle Haushaltstypen auf einem unvertretbar niedrigen Niveau gehalten.
Alle diese Elemente tragen dazu bei, die Festsetzung und Fortschreibung der Regelsätze nach oben zu begrenzen. Insgesamt wird durch die Verordnung
eine »Reformpolitik« von unten her abgesichert, die darauf abzielt, das Niveau sozialpolitischer Transfers abzusenken, um die Anreizfunktion dieser
Leistungen zu erhöhen. Während der beschäftigungspolitische Sinn einer solchen Politik bei 6,7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen nicht
zu erkennen ist, ist der sozial- und gesellschaftspolitische Preis sofort zu zahlen und er ist mit dem Sozialstaatsgebot nicht zu vereinbaren. Schon in den 90er
Jahren sind die Regelsätze hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück geblieben. Diese Entwicklung droht sich weiter zu verschärfen,
wobei durch das neue SGB II der Kreis derjenigen, die auf dieses Leistungsniveau verwiesen werden, massiv und auf einen Schlag erweitert wurde. Die Sozialhilfe
ebenso wie die übrigen Grundsicherungsleistungen werden durch diese Regelungen immer weniger in der Lage sein, Einkommensarmut zu vermeiden.
Als Folge des beschleunigten Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft und einer Zunahme
sozialökonomischer Existenzrisiken ist künftig kein Bürger dagegen gefeit, zumindest zeitweilig von Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsleistungen
leben zu müssen. Soll die sozialstaatliche Schutz- und Sicherungsfunktion erhalten werden, muss vor allem das unterste Leistungsnetz befestigt werden. Dieses
wird durch die vorgelegte Verordnung jedoch gerade nicht geleistet.
Wegen der hohen verfassungsrechtlichen und politischen Bedeutung für die Konkretisierung
der Würde des Menschen (Art.1 GG) und für die sozialstaatliche Verfassung unserer Gesellschaft sollte die Entscheidung über die
Regelsätze durch den Bundesgesetzgeber, den Deutschen Bundestag, gefällt werden. Durch die Beratungen im Parlament sollte diese Entscheidung die
ihr gebührende Resonanz in Politik und Öffentlichkeit finden. Die Entscheidung sollte unter Einbeziehung externen wissenschaftlichen Sachverstands
nach einem im Vornhinein festgelegten, nachvollziehbaren und auf rationalen, überprüfbaren Kriterien basierenden Verfahren getroffen werden. Nur ein
von willkürlichem Zuschnitt und willkürlicher politischer Intervention (welcher Partei auch immer) freies Bemessungssystem kann für die
Sicherung des Existenzminimums von der Steuer bis zur Sozialhilfe die erforderliche feste Grundlage abgeben und damit verfassungsrechtlichen
Ansprüchen genügt. Ein so zentraler Mechanismus wie das Regelsatzsystem sollte weder durch eine »Politik ohne Öffentlichkeit«
noch durch eine »Politik aus der Hüfte« noch gar durch beides gleichzeitig, wie derzeit bestimmt bzw. beschädigt werden.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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