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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 9

Frankreich

Erwerbslose haben Erfolg vor Gericht

Am 1.Januar 2003 war in Frankreich eine »Reform« des Arbeitslosengelds in Kraft getreten. Die Leistungshöhe wurde neu berechnet und zwar in einer Art und Weise, dass bis Ende März 315000 Erwerbslose aus dem Leistungsbezug rausgeflogen waren; monatlich stieg ihre Zahl um 25000. 2000 von ihnen haben sich das nicht gefallen lassen und Klage eingereicht.
Der Richter am Zivilgericht Marseille gab Mitte April einer Klage von 35 Erwerbslosen gegen den Gesamtverband der Arbeitslosenversicherungskassen (UNEDIC) statt, die Leistungszahlungen seien vorzeitig ausgesetzt worden. (In Frankreich ist das Amt, das vermittelt, ein anderes als das Amt, das die Leistung auszahlt.) Ähnliche Klagen sind vor vielen anderen Gerichte anhängig.
Die vier Erwerbslosenorganisationen CGT-Chômeurs, AC!, APEIS und MNCP haben auch das Oberste Verwaltungsgericht angerufen; sie machten geltend, die Vereinbarung zwischen Regierung, Gewerkschaften und Unternehmerverband vom Dezember 2002, aufgrund derer die Bezieher von Arbeitslosengeld neu eingestuft wurden, enthalte einen Formfehler; deshalb müsse sie zurückgezogen werden. Der Formfehler besteht nach Aussagen des Rechtsvertreters der Erwerbslosen darin, dass die zuständige Kommission, die zur Prüfung der Vereinbarungen herangezogen werden musste, personell seit 1990 nicht erneuert worden war.
Das Oberste Verwaltungsgericht hat der Klage der Erwerbslosen im Mai stattgegeben. Damit sind die letzten beiden Vereinbarungen über die Reform der Arbeitslosenversicherung und alle Dokumente, die sich darauf beziehen, nichtig. Betroffen sind alle Arbeitsuchenden, die auf der neuen Grundlage Arbeitslosengeld bezogen haben. Die Leistungsstelle muss theoretisch die Akte von mehreren Hunderttausend Erwerbslosen überprüfen; einige davon sind bereits aus dem Register der Vermittlungsstelle (ANPE) gestrichen. Die Vereinbarungen müssen neu verhandelt werden.
Der UNEDIC schätzt die möglichen Kosten auf 1,5—2 Milliarden Euro, weil Leistung nachgezahlt werden muss. »Dies trifft die Regierung zu einem Zeitpunkt, da sie stark im Defizit steht und allmonatlich mit dem Finanzminister über die Zahlungen des Arbeitslosengelds verhandelt«, schreibt die Tageszeitung Le Monde am 22.April. Das Amt für Statistik hat zudem im April einen neuen Arbeitslosenrekord vermeldet: 9,8%, soviel wie im »schwarzen Jahr« 1993.
Die unterzeichneten Parteien fürchten »Chaos bei der Leistungsstelle«, große »juristische Probleme« und vor allem hohe Kosten. Dem Vernehmen nach bereitet sich die Regierung darauf vor, eine Verordnung zu erlassen, damit die aufgetretene Gesetzeslücke gefüllt wird: »Theoretisch könnten weder Beiträge erhoben, noch Leistungen ausbezahlt werden, bis die Lücke geschlossen ist«, erklärt ein Vertreter der Gewerkschaft FO. Die Regierung kann die Höhe der Beiträge und der Leistungen vorübergehend per Dekret regeln. Der neue Arbeitsminister, Jean-Louis Borloo, hat die Vertreter der Erwerbslosenorganisationen empfangen. Der Regierung sitzt noch die Niederlage bei den Regionalwahlen Mitte März im Nacken.
Die vier Erwerbslosenorganisationen fordern, dass alle, die falsch eingestuft wurden, unverzüglich ihre Nachzahlung in voller Höhe erhalten. Doch, schreiben sie in einer gemeinsamen Erklärung vom 3.Mai, das reicht nicht. Denn nicht nur die Neueingestuften werden massiv benachteiligt, sondern alle, die seit dem 1.Januar 2003 erwerbslos geworden sind: Sie wurden entweder wegen unzureichender Anwartszeiten vom Bezug ausgeschlossen (das betrifft die Jugendlichen und die prekär Beschäftigten), oder aber die Dauer des Bezugs wurde erheblich gekürzt: von 30 auf 20 Monate, von 60 auf 45 Monate usw.
»Alle, die sich so sehr ins Zeug legen, dass Arbeit um jeden Preis angenommen wird, seien daran erinnert, dass die Schwächung des Leistungsbezugs ein Hindernis dafür ist«, schreiben die Erwerbslosenorganisationen in ihrer Erklärung. Vor allem die älteren Erwerbslosen wurden von den neuen Regelungen hart getroffen, weil sie aus dem Bezug von Arbeitslosengeld ganz herausgefallen sind und höchstens noch Anrecht auf Leistungen vergleichbar der hiesigen Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe haben — und das lange bevor sie in Rente gehen können.
Auch die Reform der Arbeitslosenhilfe, die die Regierung ebenfalls auf den Weg gebracht hatte, ist ausgesetzt worden; die Regierung muss die entsprechenden Maßnahmen annullieren, ebenso die zur Neuregelung der Sozialhilfe.
Die französischen Erwerbslosenorganisationen fordern eine völlige Neuregelung des Leistungsbezugs bei Erwerbslosigkeit und Sozialhilfe. Eine solche Reform soll nach ihrer Auffassung folgendes leisten:
alle Formen der Erwerbslosigkeit abdecken;
die unterschiedlichen Systeme vereinheitlichen und demokratisieren;
die Leistungsrechte garantieren, dauerhaft und für alle gleich gestalten;
das Recht auf freie Berufs- und Ausbildungswahl sichern.
Sie fordern die sofortige Eröffnung neuer Verhandlungen und ihre Beteiligung daran, sowie die Beteiligung aller Gewerkschaften. Das Ziel müsse eine Reform der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung sein; sie müsse vor allem zulasten der Unternehmen gehen, die in großem Stil prekär Beschäftigte einsetzen und Massenentlassungen durchführen. Der Mindestlohn SMIC müsse zum Bezugspunkt für alle genommen werden.
Michel Rousseau von den Euromärschen sagt dazu: »Die Erwerbslosen in Frankreich sind es nicht gewohnt, Klage einzureichen. Das ist das erste Mal, dass sie es tun, und das erste Mal, dass sie Erfolg haben.«

Angela Klein

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