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Der Schwall von Feierlichkeiten, die Böllerschüsse und Feuerwerke von Tallinn bis Valletta, mit denen die
»Geburt« des Europa der 25 gefeiert wurde, hatten etwas Groteskes. Die EU-Osterweiterung wirft mehr Fragen und Zweifel auf als Hoffnungen und
Zuversicht.
Die herrschenden Klassen und Eliten des kapitalistischen Europa, deren Werk die Europäische Union im Wesentlichen ist, haben in den letzten
50 Jahren einen weiten Weg hinter sich gebracht, neue Strukturen und neue Mechanismen aufgebaut, um sich zu reorganisieren, zu konsolidieren, damit sie den
Herausforderungen der sog. Globalisierung begegnen können.
Am Anfang dieses Prozesses standen die politisch-kulturellen Gefechte der Föderalisten,
aber auch das Wissen um das Gemetzel und die Trümmerhaufen, die zwei Weltkriege hinterlassen haben. Den entscheidenden Ausschlag gaben dann
jedoch wirtschaftliche Erwägungen sei es solche des Wiederaufbaus, sei es der Druck, supranationale Strukturen zu bilden.
Nicht zufällig war die erste Gemeinschaftsstruktur die Europäische Gemeinschaft
für Kohle und Stahl (EGKS), die 1951 die damals wichtigsten Produktionssektoren zusammenführte. Nicht zuffällig folgte 1960 die
Freihandelszone und 1962 die Gemeinsame Agrarpolitik, die bis heute eine vorrangige Rolle in der Union spielt und weitreichende Folgen hat. Die jetzt
erweiterte Union zählt 450 Millionen Menschen und kennt eine Vielzahl von Institutionen und Regeln, die in unterschiedlichem Maße
Auswirkungen auf das Leben in den Mitgliedstaaten haben.
Immer vom Standpunkt der herrschenden Klassen aus gesprochen war die bedeutendste
Zielmarke, die in diesen 50 Jahren erreicht wurde, die Schaffung einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Europäischen Zentralbank.
Es wäre ein Fehler, das erreichte Ausmaß der Integration zu unterschätzen und sich nicht Rechenschaft abzulegen über alle
Konsequenzen, die sie für die Kämpfe der Arbeiterbewegung hat.
Vor diesem Hintergrund gilt es nun, die Grenzen, Spannungen und Widersprüche des Projekts zu verstehen. Eine erste Beschränkung besteht
darin, dass die größte Errungenschaft, der Euro, bisher nur in 12 der 15 alten Mitgliedstaaten gilt, und der Beitritt neuer Mitglieder zur Eurozone in
absehbarer Zeit keineswegs ausgemacht ist (von den Beitrittsländern würde derzeit wahrscheinlich nur Estland die nötigen Voraussetzungen
erfüllen). Wichtiger ist vielleicht, dass Großbritannien als großes Land mit einer relativ starken Ökonomie, draußen bleibt und
sein Beitritt keineswegs sicher ist.
Ein zweites Problem stellt die NATO dar. Nur einige der Beitrittsländer gehören
ihr an die baltischen Staaten, die Slowakei, Slowenien , auch die Türkei, über deren Beitritt zur EU aber heftig gestritten wird. Diese
Situation ist ein Hindernis für die Formulierung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, die eh schon schwierig ist, wie das Beispiel
Irak gezeigt hat.
Auf sozioökonomischem Gebiet wächst mit der Osterweiterung die
Bevölkerung der Union um 20%, ihre Bruttoinlandsprodukt (BIP) aber nur um 5%. Das Pro-Kopf-Einkommen der neuen Länder liegt erheblich
unter dem der alten, die Arbeitslosigkeit ist hier höher und in einigen Ländern weiterhin steigend in Polen ist sie zwischen 1996 und 2003
von 13% auf 20% gestiegen, in der Tschechischen Republik von 3,5% auf 10%.
Die ausländischen Direktinvestitionen sind in großem Umfang bereits in den
vergangenen zwölf Jahren getätigt worden und werden nach Einschätzung der Wirtschaftspresse nicht mehr nennenswert steigen. Die
Europäischen Strukturfonds werden mindestens bis 2006 keine wesentliche Stütze darstellen. Auf dem Land werden die Bauern in den neuen
Ländern bis 2013 (!) warten müssen, bis sie Stützen bekommen, die mit denen in den alten Ländern vergleichbar sind. Die
Regionalfonds werden gerade mal 4% des BIP der neuen Länder ausschütten, dazu noch mit dem perversen Effekt, dass die Mittel umso
spärlicher fließen, je ärmer das Land ist (siehe Financial Times vom 26.4.).
Die alten Länder machen aus ihrer Angst vor der größeren Konkurrenz
durch die neu Hinzugekommenen keinen Hehl: das betrifft die niedrigeren Kosten der Arbeitskraft ebenso wie die neuen Wanderungsbewegungen. Verschiedene
Quellen schätzen, dass sich die Wirkung der Osterweiterung in Grenzen halten, wenn nicht eher positiv sein wird. Länder wie Deutschland und
Österreich, die den Migrationsdruck am meisten zu fürchten haben, fordern für sich das Recht, die Freizügigkeit der Arbeitenden in den
ersten sieben Jahren einschränken zu dürfen.
Schätzungen ergeben, dass das Wanderungspotenzial langfristig ca. 3% der
Bevölkerung der neuen Länder und 0,6% der Bevölkerung der alten Länder beträgt. Andererseits wurde berechnet, dass bei
einem Wirtschaftswachstum, das 2% über dem Frankreichs läge, die Slowakei 21 Jahre, Litauen 57 Jahre bräuchte, um an die
fortgeschritteneren Länder anzuschließen (läge es nur 1% darüber, bräuchten sie jeweils 42 bzw. 113 Jahre).
Auf eine nochmalige Erweiterungsrunde (z.B. um die Ukraine, Weißrussland, die Türkei) wollen wir hier gar nicht eingehen. Sie könnte
auch positive wirtschaftliche Auswirkungen haben, würde aber auf der politischen Ebene mehr Schwierigkeiten schaffen. Nicht zuletzt lehnt Russland, das
schon wegen der Osterweiterung in Sorge ist, weil die EU-Grenze sich näher heranschiebt, eine weitere Runde kategorisch ab auch wenn
Kommissionspräsident Prodi beteuert, Europa und Russland gehörten zusammen wie Kaviar und Wodka.
Die jüngsten Meldungen erklären die Zustimmung der Staats- und
Regierungschefs zum vorliegenden Entwurf einer EU-Verfassung nunmehr als wahrscheinlich, nachdem Polen und Spanien zum Nachgeben bereit sind. Es
bleibt jedoch, dass diese Verfassung nach der Art des Zustandekommens und nach ihrem Inhalt undemokratisch ist. Sie wird aus der Union keinesfalls eine
Föderation machen, nicht einmal eine anpassungsfähigere Konföderation. Die Union bleibt ein gemeinsamer Rahmen für
Nationalstaaten und wirtschaftlich ein gemeinsamer Markt für den Austausch von Waren, Kapital und Dienstleistungen.
Diese Beschränkung wird erhebliche Folgen haben. Denn unter den neuen Bedingungen
werden die konkurrenzbedingten Verwerfungen auf die Spitze getrieben, die Prozesse der Konzentration und Internationalisierung des Kapitals weiter
gefördert. Die Regierungen der Nationalstaaten werden ungeachtet ihrer orthodox-neoliberalen Rhetorik versuchen, die
Gemeinschaftsregeln zu missachten und zu neuen protektionistischen Maßnahmen zu greifen (vielleicht auf indirekte Weise), um nicht Gefahr zu laufen,
dass wichtige Unternehmen untergehen.
Schon haben Deutschland und Frankreich frech den unantastbaren Grenzwert von 3% der
Haushaltsschulden überschritten, und Frankreich unternimmt alles, um Alsthom zu retten. Wettbewerbskommissar Monti und sein Nachfolger werden
nicht untätig zuschauen, aber es ist nicht gesagt, dass sie sich gegen die Regierungen durchsetzen können.
Ein anderer Faktor von Bedeutung ist, dass die Entwicklung in Europa, angefangen bei der
Wirtschaft, in hohem Maße von Prozessen auf Weltebene beeinflusst wird, vor allem von solchen in den USA. Zumal Konzentrationsprozesse weltweite
Auswirkungen haben: Aufkäufe, Fusionen, Abkommen werden trotz vieler Misserfolge fortgesetzt und schaffen neue Kolosse, die nicht selten über
die Grenzen der Union hinausreichen.
Unvermeidliche Auswirkungen wird die Entwicklung der asiatischen Ökonomien haben. Entscheidend ist China, die Rolle Indiens hingegen ist
weniger klar. China kennt seit einigen Jahren ein rasantes Wachstum und ist auf Weltebene höchst präsent. Es ist schwer vorstellbar, dass sich dies
endlos fortsetzt. Heute schon kann man Krisentendenzen wie Überproduktion oder verschärfte Ungleichgewichte zwischen den Wirtschafstsektoren
feststellen, die für den Kapitalismus typisch sind. Das unterstreichen die internationale Wirtschaftspresse, Financial Times oder Business Week, ebenso
wie Veröffentlichungen aus Peking.
Besonders spürbar werden diese Tendenzen in der Bauwirtschaft und in der
Stahlindustrie, die in dieser Phase eine zentrale Rolle spielt. Im vergangenen Jahr hat China mehr Stahl produziert als die USA und Japan zusammengenommen.
Einige chinesische Kommentatoren sprechen sogar vom Platzen einer Blase ähnlich der, die Japan in den 80er Jahren kannte. Dabei gehen wir hier gar
nicht auf die sozialen Spannungen ein, die sehr erheblich sind.
Sollte China aber seinen Aufstieg fortsetzen und sich weiter in die Weltwirtschaft integrieren,
würde daraus ein struktureller Wandel folgen, d.h. die Vollendung der Transformation von einer kollektiven zu einer kapitalistischen Wirtschaft. Das
wäre unzweifelhaft ein großer Erfolg für den Weltkapitalismus und dies in einer Phase, in der seine eigenen Widersprüche sich
auf allen Ebenen zuspitzen. Er könnte unverhofft einen neuen Aufschwung erfahren, der auch mehrere Jahrzehnte anhalten kann. Es versteht sich von
selbst, dass dies auch in der EU neue Weichenstellungen mit sich brächte auch für die Arbeiterbewegung.
Livio Maitan, Rom
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