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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 12

Transatlantische Beziehungen

Partner in Arbeitsteilung

Als sich die Regierungen Deutschlands und Frankreichs im vergangenen Jahr gegen einen Angriff auf den Irak aussprachen, wurde vielfach über einen Bruch der transatlantischen Beziehungen spekuliert. US-Militarismus und europäischer Pazifismus, so betonten Gegner wie auch Befürworter des Irakkriegs immer wieder, seien nicht miteinander kompatibel.
Mittlerweile müssen die USA erfahren, dass militärische Überlegenheit allein sie ihren Kriegszielen — der Errichtung eines stabilen Marionettenregimes im Irak — nicht näher bringt. Sie wenden sich wieder stärker der Diplomatie zu; die militärische Präsenz europäischer Truppen rückt stärker ins öffentliche Bewusstsein und transatlantische Zusammenarbeit zur Bewältigung der Kriegsfolgen ist angesagt.
Sogar die Idee eine transatlantischen Freihandelszone — in der Vergangenheit immer mal wieder vorgetragen, bislang aber nicht realisiert — steht wieder auf der Tagesordnung. Ein Netzwerk hochrangiger Politiker und Unternehmer von beiden Seiten des Nordatlantik — das Transatlantic Policy Network — hat einen Antrag ins Europäische Parlament eingebracht, der über einen gemeinsamen transatlantischen Markt hinaus auch eine gemeinsame Strategie innerhalb der Welthandelsorganisation anstrebt.
Dem Antrag zufolge sollen diese Themen auf dem anstehenden Europäisch- Amerikanischen Gipfel am 25./26. Juni in Dublin besprochen werden. Ob es in absehbarer Zeit ein transatlantisches Freihandelsabkommen geben wird oder nicht, sei dahingestellt. Dahingehende Bestrebungen lassen sich jedenfalls als Hinweis darauf verstehen, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Atlantische Kapitalismus nicht vor der Spaltung steht. Die herrschende Klasse auf beiden Seiten des Nordatlantiks scheint vielmehr entschlossen, ihre weltbeherrschende Position zu verteidigen und sich nicht in einem anhaltenden innerfamiliären Zwist zu verschleißen.
Zwischen den USA, die im Zweiten Weltkrieg zur kapitalistischen Führungsmacht aufgestiegen sind, und Europa, das erst durch Binnenmarkt, Währungsunion und die damit verbundene Herausbildung supranationaler Institutionen zu einem Machtfaktor geworden ist, dürfte es auch in Zukunft immer wieder Meinungsverschiedenheiten oder handfesten Krach geben. Dennoch werden sich Unternehmen und Politiker auf beiden Seiten des Nordatlantik immer wieder zusammenraufen, wenn es darum geht, ihren privilegierten Zugriff auf Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und die von ihnen hergestellten Waren gegen potenzielle Rivalen wie auch gegen Widerstand in armen Ländern zu verteidigen.

Kollektiver Imperialismus unter US-Führung

Der wahrscheinliche Fortbestand des Atlantischen Kapitalismus lässt sich am besten verstehen, wenn anstelle kurzlebiger Konjunkturen der Außen- und Handelspolitik dessen geschichtliche Entwicklung betrachtet wird.
Nachdem die USA ihre Unabhängigkeit erklärt und gegen die europäischen Kolonialmächte erkämpft hatten, brachte der US-Kapitalismus — durch hohe Zollmauern vor der technologisch zunächst noch überlegenen Konkurrenz aus Europa geschützt — außer einem riesigen Binnenmarkt auch einen eigenständigen politischen Überbau hervor. Dadurch wurde es möglich, ökonomische Interessen wirksam zu bündeln und auch über die eigenen Grenzen hinaus zu vertreten. Ein Konflikt mit den europäischen Weltmächten England und Frankreich sowie dem aufstrebenden Deutschland konnte aber vermieden werden, solange die USA sich darauf beschränkten, Lateinamerika in ihren »Hinterhof« zu verwandeln. Damit traten sie zwar das Erbe Portugals und insbesondere Spaniens an, beide Länder aber waren ökonomisch längst zu schwach, um sich gegen den Verlust ihrer vormaligen Kolonien zu wehren.
Zur Weltmacht stiegen die USA erst auf, nachdem die europäischen Mächte sich in zwei Weltkriegen verschlissen und dabei den Anschluss an technologische und organisatorische Entwicklungen verpasst hatten, welche zum ökonomischen Fundament amerikanischer Macht wurden. An die Stelle eines in europäische Kolonialreiche aufgeteilten Weltkapitalismus trat ein informeller Imperialismus unter amerikanischer Führung. Darin konnten ehemalige Kolonien zwar nationale Souveränität erlangen, blieben aber unter dem Einfluss von US-Konzernen und US-dominierten internationaler Institutionen und wurden, sofern die nationale Selbstbestimmung eine sozialrevolutionäre Richtung anzunehmen drohte, militärisch angegriffen.
Aus dieser Entwicklung könnte man schließen, dass ein US-amerikanischer Superimperialismus die rivalisierenden europäischen Imperialismen abgelöst hätte. Mit Blick auf die gemeinsame Frontstellung gegenüber dem Sowjetkommunismus scheint es aber sinnvoller, von einem kollektiven Imperialismus unter Führung der USA zu sprechen. Ohne das Militär- und Wirtschaftspotenzial Westeuropas, das enorme Ressourcen der Sowjetunion zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Bereich konventioneller Truppen gebunden hat und außerdem mit seinen Wachstumserfolgen als attraktives Gegenmodell zum Sowjetkommunismus diente, hätten die USA ihre Führungsposition nicht lange aufrechterhalten können. Insofern kann davon gesprochen werden, dass der kapitalistische Weltmarkt nach 1945 von einer Atlantischen Bourgeoisie beherrscht wurde.

Amerikanische Herausforderung

Streit war dabei vorprogrammiert: So haben die USA die europäische Wirtschaftsintegration zwar unterstützt, weil nur dadurch das von ihnen gewünschte antikommunistische Bollwerk geschaffen werden konnte. Andererseits haben sie stets versucht, die Herausbildung eines europäischen Machtblocks zu verhindern. Dies ist jedoch nicht gelungen, weil die Institutionen, die zunächst nur zur Regulierung des europäischen Binnenhandels gedacht waren, zunehmend auch die Bündelung europäischer Machtpotenziale ermöglicht haben. Auf diese Weise wurden die Einführung des Euro, die europäische Verfassung und Militäreinheiten unter einheitlichem europäischen Kommando möglich.
Zur gleichen Zeit konnten die USA ihre wirtschaftliche Stellung nur durch Inkaufnahme massiver Verschuldung und spekulativer Blasen behaupten. Aus dieser Tatsache wird mitunter der Schluss gezogen, die USA befänden sich im Niedergang. Dies gelte umso mehr, als mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus die Klammer der transatlantischen Partnerschaft entfallen sei. Europa solle daher — wenn es schon nicht die weltweite Führungsrolle Amerikas einnehmen könne — zumindest eine unabhängige Politik der Selbstbehauptung verfolgen.
Neu sind solche Forderungen nicht: Gegen Ende der 60er Jahre wurde erstmals von einer »Amerikanischen Herausforderung« gesprochen, die nach einem europäischen Gegengewicht verlange. Hintergrund war damals erstens das US-amerikanische Weltraumprogramm, das den technologischen Vorsprung der USA vor Europa absichern sollte. Zweitens verstanden es US-Konzerne, welche Operationen auf großen Märkten gewohnt waren, zu jener Zeit besser, die Vorteile der europäischen Marktintegration für sich zu nutzen als europäische Unternehmen, die bis dahin zumeist im Rahmen ihrer viel engeren nationalen Märkte agiert hatten. Beträchtliche US- amerikanische Direktinvestitionen in Europa waren die Folge. Diese führten vielfach zu einem Gefühl des Ausverkaufs bis hin zu der hysterischen Behauptung mancher europäischer Konservativen, Europa werde von den USA kolonisiert.
Umgekehrt wurde ein vermeintlicher Niedergang Europas in den 90er Jahren — vielfach von denselben politischen Strömungen wie 30 Jahre zuvor — mit den Direktinvestitionen europäischer Konzerne in den USA begründet. Sozialstaat und starke Gewerkschaften hätten zu einer solch hohen Kostenbelastung geführt, dass profitable Investitionen nur in den gewerkschaftsfreien Zonen Amerikas möglich seien.
In der Zwischenzeit war der Nachkriegsboom zu Ende gegangen und die USA hatten es in den 80er Jahren geschafft, trotz insgesamt verringerten Wachstums den Rückstand, den sie zu Zeiten des Booms gegenüber Europa aufgewiesen hatten, in einen Vorsprung umzukehren. Dieser relative Erfolg wurde zumeist darauf zurückgeführt, dass Gewerkschaften und Sozialstaat in den USA sehr viel brutaler angegriffen worden waren als in (Kontinental-)Europa. Unternehmer wie Gewerkschaften waren sich darin einig, dass die Zurückdrängung von Lohnforderungen und sozialstaatlicher Umverteilung die Profitrate erhöht und damit Investitionen und gesamtwirtschaftliches Wachstum angeregt habe.
In den unterschiedlichen Strategien — Union Bashing in den USA und Großbritannien und Concession Bargaining in Kontinentaleuropa — sahen viele indes auch einen Beleg dafür, dass die sich die kapitalistischen Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks auseinandergelebt hätten. An die Stelle des von beiden geteilten Nachkriegsmodells aus keynesianischer Wirtschaftssteuerung und sozialstaatlichem Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital seien »Kapitalismus pur« auf der einen, ein »Europäisches Sozialmodell« auf der anderen Seite getreten. Nach dem Ende des Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus gebe es nun einen Kampf »Kapitalismus kontra Kapitalismus«.

Transatlantische Arbeitsteilung

Die unterschiedlichen Reaktionen auf das Ende des Nachkriegsbooms deuten allerdings zunächst darauf hin, dass die Regulierung des Klassengegensatzes von Lohnarbeit und Kapital — trotz Herausbildung einer Atlantischen Bourgeoisie — auf nationaler Ebene erfolgt und unterschiedliche institutionelle Ausprägungen annimmt. Union Bashing und Concession Bargaining sind Ausdruck länderspezifischer Kräfteverhältnisse und unterschiedlicher institutioneller Verankerung von Gewerkschaften, Sozialstaat und politischer Repräsentation der Arbeiterklasse. Auf beiden Seiten verfolgt das Kapital aber dasselbe Ziel: die Profitrate unter Bedingungen langfristig gesunkener Wachstumsraten durch eine Umverteilung von den Löhnen zu den Profiten zu erhöhen. Dabei verfolgte die Atlantische Bourgeoisie hinsichtlich Produktion und Aneignung nicht nur dasselbe Ziel mit unterschiedlichen Mitteln, es bildete sich seit den 80er Jahren — vor dem Hintergrund anhaltender Überproduktion — auch eine transatlantische Arbeitsteilung bei der Regulation des kapitalistischen Gesamtprozesses heraus.
Während die USA — entgegen der Rhetorik von Haushaltskonsolidierung und Zurückdrängung des Staates — die Weltwirtschaft mit staatlich erzeugter oder abgesicherter Nachfrage versorgten, sorgte die Exportstrategie Europas dafür, dass der Anstieg von Nachfrage und damit auch Beschäftigung in den USA nicht zur Forderung nach höheren Löhnen führen konnte. Durch eine Politik extremer Inflationsbekämpfung sowie Abkopplung der Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung wurden auf US-Märkten neben inländisch produzierten Waren auch stets preisgünstige europäische Waren angeboten.
Der geläufige Globalisierungsdiskurs schreibt die Funktion der Importkonkurrenz insbesondere den sich industrialisierenden Ländern Asiens zu. Demnach müssen die Produktionskosten im Inland — insbesondere Löhne — gesenkt werden, weil andernfalls Waren, die im Ausland billiger produziert werden können, die inländische Produktion verdrängen.
Tatsächlich sind die transatlantischen Austauschbeziehungen aber sehr viel intensiver als die zwischen den Ländern des Atlantischen Kapitalismus und Asien. Das betrifft nicht nur die Umsatzzahlen, sondern insbesondere auch die Art des Handels. In vielen technologisch fortgeschrittenen Branchen treten asiatische Unternehmen noch gar nicht als Anbieter auf, und wo sie es tun, sind sie mit steigenden Löhnen konfrontiert. Unter den asiatischen Ländern spielt lediglich Japan eine Europa vergleichbare Rolle als Grenzanbieter, der dafür sorgt, dass einer wachsenden Nachfrage in den USA und in der Weltwirtschaft stets ein mengenmäßiger Angebotsüberschuss gegenübersteht, so dass Preis- und Lohnsteigerungen weitgehend ausbleiben.
Trotz dieser ökonomischen Parallele zwischen Europa und Japan gehört letzteres jedoch nicht zum kollektiven, die Welt gegenwärtig beherrschenden Imperialismus, weil es politisch isoliert ist. Dagegen ist es den europäischen Ländern gelungen, ihre Machtpotenziale im Zuge der europäischen Integration zu bündeln und dadurch Juniorpartner der USA zu werden.
Gegenwärtig wird der Atlantische Kapitalismus jedoch nur teilweise durch wirtschaftliche Verflechtung und schon gar nicht durch die Herausforderung anderer Supermächte zusammengehalten. Viel wichtiger ist — so paradox das klingen mag — seine Schwäche. Drei Jahrzehnte neoliberaler Offensive — gleich ob angelsächsischer oder kontinentaleuropäischer Spielart — haben es nicht vermocht, in den reichen Ländern einen gesellschaftlichen Zusammenhalt durch Beteiligung aller Bevölkerungsschichten am wachsenden Volkseinkommen zu erzeugen. Dadurch ist eine Legitimationskrise entstanden, die sich auf der einen Seite in einem gewissen Aufschwung sozialer Bewegungen ausdrückt, auf der anderen Seite aber auch in der Zunahme verschiedener Varianten von Chauvinismus und Rassismus. Gerade während des Irakkriegs wurden die öffentliche Debatte mitunter so geführt, als fände gerade ein »Clash of (American and European) Civilizations« statt.
Diese ideologische Figur — seit Jahrzehnten fester Bestandteil der transatlantischen Beziehungen — wird immer mal wieder populär, bezeichnet aber sicherlich keine Sollbruchstelle innerhalb des Atlantischen Kapitalismus. Eine solche bestünde vielmehr in einem Aufschwung antikapitalistischer Kämpfe. Nicht Europa gegen Amerika wäre dann die Frage, sondern Lohnarbeit gegen Kapital in reichen ebenso wie in armen Ländern.

Ingo Schmidt

Ingo Schmidt ist Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland.



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