SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 21

Erasmus Schöfer: Zwielicht. Die Kinder des Sysifos, Köln: Dittrich 2004, 595 Seiten, 24,80 Euro

Zwielicht

Zwielicht — ein Buch zum Erleben. Ein Buch zum Bedenken. Ein Buch zum Erinnern. Ein Buch zum Amüsieren. Auch ein Buch zum Nach-Fragen: Erasmus Schöfer ist es gelungen, mit dem zweiten Band seines Zeitromans Die Kinder des Sysifos Lesevergnügen und Historie eindrucksvoll zu verknüpfen (das gute alte aufklärerische »prodesse et delectare« — »nützen und ergötzen«). Zwielicht schildert den vielfältigen außerparlamentarischen Widerstand der 70er Jahre mit seinen Höhepunkten wie mit seinen Widersprüchen (der erste Band Ein Frühling irrer Hoffnung behandelt den Aufbruch 1968: die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Meinungsmache der Springer-Presse).
Erleben können die Leserinnen und Leser eine wundervolle wie tragische Liebesgeschichte mitten im Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl damals am Kaiserstuhl. Sehr wirklichkeitsgesättigt, mit eingestreuten Originaldokumenten, mit Auftritten realer Personen wie Walter Mossmann, Balthasar Ehret genannt Belz, Wolfgang Sternstein, Lothar Späth u.a., mit dramatischen Szenen, mit Gedichten. Die Formenvielfalt ist Programm. Schöfer will entgrenzen — Genreregeln ebenso wie Ideologien, Genderkorsetts wie Dudendogmen, Soziokäfige wie Politraster.
Armin Kolenda, die Zentralfigur des Romans, Ex-Sozialarbeiter und Journalist, ist »handelnder Zuschauer« bei der Betriebsübernahme der Glashütte Süßmuth durch die Belegschaft 1971 in Hessen, der AKW-Nee-Bewegung der Kaiserstühler 1975, dem Kampf der Düsseldorfer Mannesmann-Arbeiter gegen die Werksschließung 1977. Zugleich ist er aktiv im »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« und reflektiert dessen Entwicklung. Das ist oft spannend und witzig erzählt, etwa wenn Schöfer die »Verwendung friedlicher Jauche zur Platzverteidigung gegen Polizeiangriffe« erwähnt oder die Staatsmachthüter als »Huftiere« bezeichnet.
Die durchstreiften Gegenden erstehen vor dem inneren Auge der Leserinnen und Leser sehr unmittelbar, weil Schöfer es versteht, unverbrauchte, originelle Metaforik zu verwenden. Im Schwarzwald sind die Straßengräben »noch sattgrün bepelzt«; »eine Flattermaus wischt taumelig um die Straßenlaterne«; zur Unterstützung der »Waldschlächter der Hochtief« zücken die Schutzbullen ihre »Haugummis«; im Düsseldorfer Malocher-Viertel Reisholz riecht man das »Parfüm der Trübseligkeit«.
Bedenken kann man die Erkenntnis des alten Pförtners und Werkkreisliteraten Jupp Ippers: »Nichts ist makellos richtig. Aber etwas ist meistens richtiger.« Richtig, aber was? Meint Schöfer damit, »dass »sowas nicht hinhaut: befreite Inseln im Kapitalismus«? Ist es demnach richtiger, den Ausstieg gar nicht erst anzugehen? — Ein Gutteil besser als das Leben in alten verseuchten Fahrwässern kann das Experimentieren in Halbutopia doch gelingen, wie etwa in politischen Kommunen!? Vielleicht führt Schöfer uns in den Folgebänden der geplanten Tetralogie so eine Aufbruch-Insel mal vor Augen, zeigt neben Abwehrkämpfen Keimformen einer alternativen Gesellschaft?
Bedenklich kann man die reichlich reizvoll geschilderten Autofahrten finden — trotz des realistisch geschilderten Straßenmords an einer schwarzen Katze und der Feststellung: »Wir sitzen alle flott in den eisernen Menschenfressern und treten aufs Gaspedal.«
Wer dabei gewesen ist bei dem einen oder anderen geschilderten Ereignis der Zeitgeschichte wird sicher mit Gewinn eigene Einschätzungen abhorchen auf Übereinstimmungen und Differenzen mit denen Schöfers und seiner Figuren. »Die Glotze vor jedem Arbeiterkopp, die is sowieso die dickste Kanone im Arsenal der Geldsäcke, dagegen is der Radikalenerlass ‘n Karnevalsböller.« Aus Anlass des Schleyer-Mords durch die RAF und der Überreaktion des Staatsapparats: »Revolution im Niemandsland. Im Grunde wie Jesus. Der hat auch mit zwölf Genossen angefangen, vom Kommunismus zu reden. Hat aber keine Römer umgebracht. Hohepriester auch nicht.« Beim Gewerkschaftstag der IG Metall: »Sie [die Metaller] mosern ein bisschen rum, aber sind froh, dass sie ein paar Elefanten haben, die den Pfad trampeln im Dschungel.« Im Zusammenhang mit der Herausgabe der systemkritischen Werkkreis-Bücher durch den Fischer-Verlag: »Das Kapital finanziert (und stärkt damit doch?) seine Gegner. Oder fesselt und entwaffnet es uns mit dieser Taktik?«
Jüngere Leserinnen und Leser oder solche, die die 70er Jahre nicht alternativ-politisch mitgestaltet haben, können Schöfers Werk als eine ergiebige Quelle nutzen: Es liefert lebendige Anschauung ebenso wie Standpunkte des beteiligten Autors: kritisch gegenüber SPD, DKP, K-Gruppen und RAF, sympathisierend mit Selbstorganisation und Anarchie.
Amüsieren kann man sich ausgiebig: etwa wenn man liest, wie Schöfers Protagonist Armin und seine Kollegin ihre Pensionswirtin wahrnehmen: »Sie schüttelte mißbilligend die Wickler«, und am nächsten Morgen: »Trägt sie noch ihren Kopfschmuck von heut nacht?« — »Die Folgen davon.«
Witzig auch, wie Erasmus sich selbst einbaut: »Kennst du den Schöfer?«, fragt Armin Kolenda seine Kollegin, woraufhin der Autor ein WDR-Interview erfindet, aus dem man allerlei über den Romanschreiber erfährt, u.a. auch, dass er sich (1977 zum Zeitpunkt des fiktiven Interviews) in der literarischen Meisterdisziplin erst noch beweisen müsse, ehe er mit sich zufrieden sein könne.
Welches Zwielicht thematisiert der so betitelte Roman? Vor Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang? Was dämmert da? Befreiung oder Verfinsterung? Beides verschränkt wohl eher. Denn: »Die Menschen sind noch nicht die Besten.« Nähere Auskunft in den Folgebänden?? Besser: in Leserköpfen. Im Sinne der eingreifenden Literatur, wie Autor Schöfer sie versteht: »als Zuarbeiter der notwendigen Befreiung vom Kapitalismus, weil er eben nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Köpfe zerstört.«
»Literatur als Auslöser von veränderndem Handeln« will Schöfer schaffen... Zwielicht ist dazu ein starker Beitrag.

Ariane Dettloff

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang