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EU-Kommissar Frits Bolkestein entspricht dem Idealtyp des Neoliberalen. Siebzehn Jahre diente der 1933 geborene
Niederländer dem Öl-Multi Shell, später war er Aufsichtsrat beim Pillendreher Merck. Seine politische Karriere begann in den 70er Jahren:
Parlamentarier der niederländischen Liberalen, Handelsminister, Verteidigungsminister, Vorsitzender der Liberalen Internationale und schließlich
Kommissar für den Europäischen Binnenmarkt. Daneben gehört Bolkestein der Mont Pélérin Society an, jenem
reaktionären Think Tank, den Milton Friedman, Karl Popper und Friedrich August von Hayek 1947 gründeten und der fortan das
ökonomische Programm des Neoliberalismus propagierte. Von den Urvätern der neoliberalen Konterrevolution lernte Bolkestein, dass staatlicher
Interventionismus schnurstracks in die kommunistische Knechtschaft führt.
Beseelt von derlei Ideen macht er sich heute über die Gesetze der EU-Mitglieder her.
»Die nationalen Vorschriften sind z.T. archaisch, übertrieben aufwendig, und sie verstoßen gegen das EU-Recht«, beschied er im
Januar dieses Jahres. »Diese Vorschriften müssen schlichtweg verschwinden.« Zweifellos eine herkulische Aufgabe. Während Herkules
kurzerhand die Flüsse Alpheus und Peneis durch den Stall des Augias leitete, um ihn auf elegante Weise vom Rindermist zu befreien, greift ein EU-
Kommissar zur sauberen Methode der Richtlinie.
Im Januar präsentierte Bolkesteins Generaldirektion einen Richtlinienentwurf, der den
interventionistischen Mist im gesamten Dienstleistungssektor hinwegspülen soll. Bürokratische Hindernisse bedrohen nämlich das
»Lissabon-Ziel«. Bis zum Jahr 2010 muss die Europäische Union »der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte
Wirtschaftsraum der Welt« werden. So zumindest will es der Beschluss des Europäischen Rates. Da der Dienstleistungssektor 70% der
Wirtschaftstätigkeit in der EU ausmacht, spielt er eine Schlüsselrolle für die Formierung dieser transnationalen
Wertschöpfungsgemeinschaft.
Ihren Deregulierungszweck verfolgt die Richtlinie mit einem Mix aus schrittweiser Beseitigung staatlicher Auflagen sowie dem systematischen Unterlaufen
nationalen Rechts durch das sog. »Herkunftslandprinzip«. Danach unterliegen Dienstleistungsunternehmen in der EU nur noch den Anforderungen
ihres Herkunftslands. Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslands würden gänzlich untersagt. Selbst die obligatorische Registrierung einer
Geschäftsaufnahme will die Kommission verbieten.
Damit setzt das Herkunftslandprinzip eine effektive Wirtschaftsaufsicht in der EU faktisch
außer Kraft. Künftig könnte sich jedes Unternehmen durch Sitzverlagerung oder die simple Gründung einer Briefkastenfirma im EU-
Ausland lästiger inländischer Auflagen entledigen. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen, Standards beim Arbeits-,
Umwelt- oder Verbraucherschutz würden auf einfache und billige Weise unterlaufen.
Als Krönung ihres Entwurfs stellt die Kommission die Mitgliedstaaten unter
Zwangsverwaltung. Sie müssen nicht nur zahlreiche Anforderungen beseitigen, sondern dürfen neue Vorschriften nur noch mit Zustimmung der
Eurokraten erlassen. Die Wirtschaftsverbände sind begeistert. Der Deutsche Industrie- und Handelstag will den »Markt der Dienstleistungen
entfesseln«. Dazu solle in Europa »grundsätzlich das Herkunftslandprinzip Anwendung finden«.
Der Bundesverband der deutschen Industrie sekundiert. Nun werde Klarheit geschaffen,
»welche öffentlich-rechtlichen Regeln für den Dienstleistungssektor gelten sollen«. Und die US-amerikanische Handelskammer lobt
den Entwurf in den höchsten Tönen. Er enthalte »eine breite Palette exzellenter Maßnahmen«. Die Europäer sollten ihn
rasch annehmen und »nicht durch nationale Ausnahmen verwässern«.
Das Lob der Industrie ist gerechtfertigt, denn tatsächlich unternimmt Bolkesteins
Putztruppe einen radikalen Angriff auf die sozialen Regulierungen in der EU. Der Geltungsbereich der Richtlinie erstreckt sich auf sämtliche
Dienstleistungen, die als »wirtschaftliche Tätigkeiten« betrachtet werden. Wesentliches Kriterium: Sie werden »gegen Entgelt
erbracht«. Da mittlerweile für zahlreiche öffentliche Aufgaben Entgelte erhoben werden, betrifft der Gesetzentwurf nicht nur alle
kommerziellen Dienste, sondern auch weite Bereiche des öffentlichen und Non-Profit-Sektors: öffentlich-rechtlicher Rundfunk,
Verkehrsunternehmen, Ver- und Entsorger, Kindergärten, Volkshochschulen, Universitäten, Krankenhäuser und Sozialkassen. Gleiches gilt
für die im öffentlichen Auftrag tätigen Institutionen, von den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege bis zum Technischen
Überwachungsverein.
Daneben schafft der Entwurf Fakten in umstrittenen Bereichen, wo erste Deregulierungsversuche zurückgeschlagen wurden. Dies gilt bspw. für
den öffentlichen Personenverkehr, in dem die Kommission eine Ausschreibungspflicht bei der Auftragsvergabe durchsetzen will. Auch könnte die
Liberalisierung der Hafendienste durch Bolkesteins Hintertür wieder auf die Tagesordnung kommen. Der konzertierte Widerstand von Hafenarbeitern
sorgte dafür, dass das sog. »Port Package« im November 2003 im Europäischen Parlament durchrasselte. Schließlich geriete auch
die Wasserversorgung unter Beschuss. Für sie sieht die Richtlinie lediglich eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vor, nimmt sie jedoch nicht vom
gesamten Anwendungsbereich aus.
Sämtliche Vorschriften im Dienstleistungssektor müssen die Mitgliedstaaten einer
rigiden gegenseitigen Überprüfung unterwerfen und gegebenenfalls beseitigen. Ins Visier geraten Anforderungen an die Rechtsform, die
Kapitalausstattung, Qualifikationen, festgesetzte Mindestpreise oder Zulassungsgrenzen. Letztere verhindern durch gesteuerte Zulassung zahlreicher Gewerbe
vom Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis einen ruinösen Verdrängungswettbewerb. Im Gesundheitswesen sind derlei Maßnahmen
unverzichtbar, um die Kostenentwickung zu kontrollieren. Durch das Schleifen festgesetzter Mindestpreise geraten nicht nur Honorarordnungen unter Druck,
sondern auch Dumpingverbote. Nach dem Willen der Kommission dürfen transnationale Konzerne künftig mit aggressiven Dumpingangeboten neue
Märkte erobern.
Auflagen, nach denen für bestimmte Tätigkeiten »juristische
Personen«, also Unternehmen, zu gründen sind, sollen ebenfalls verschwinden. Damit reagiert die Richtlinie auf den Trend, Beschäftigte und
Erwerbslose in kaum überlebensfähige Mini-Selbstständigkeiten zu drängen. Die mit den »Ich-AGs« der Hartz-Gesetze
betriebene Legalisierung prekärer »Scheinselbstständigkeiten« findet mit der Richtlinie ihre binnenmarktliche Fortsetzung.
Vergünstigungen für Gesellschaften »ohne Erwerbszweck« kommen
ebenfalls auf den Prüfstand. Das beträfe die Gemeinnützigkeitsprivilegien freier Träger sozialer Dienste. In der Bundesrepublik
können Wohlfahrtseinrichtungen exklusiv Subventionen erhalten, sind von Ertragsteuern befreit und Spenden sind abzugsfähig. Diese Privilegien
diskriminieren aber kommerzieller Anbieter, die Klagen auf Gleichbehandlung gegebenenfalls auf die Dienstleistungsrichtlinie stützen könnten.
Mit dem Herkunftslandprinzip kommt eine neue Qualität der Deregulierung ins Spiel.
Die EU-Staaten haben dafür Sorge zu tragen, »dass Dienstleistungserbringer lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaates
unterfallen«. Eine Kontrolle durch Behörden des Ziellands soll gänzlich unterbleiben. Nur, welches Interesse sollte ein Staat haben, die
Auslandsgeschäfte der bei ihm beheimateten Unternehmen zu kontrollieren? Warum sollte er ihnen Geschäftsmöglichkeiten verbauen, die
sich positiv in seiner Außenwirtschaftsbilanz niederschlagen? Auf die naheliegendsten Einwände liefert die Richtlinie keinerlei Antworten.
Stattdessen begnügt sie sich mit blumigen Maßnahmen der Verwaltungszusammenarbeit.
Die Standards des Ziellands bestünden praktisch nur noch für inländische Unternehmen, nicht mehr für all jene, die ihren Sitz in
anderen EU-Staaten haben oder dorthin verlagern, um strengere Auflagen zu umgehen. Im Effekt gäbe es im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches
Recht mehr. Das Recht wäre von Betrieb zu Betrieb je nach Herkunft des Dienstleisters verschieden.
Damit treten die nationalen Rechtssysteme innerhalb eines jeden Mitgliedstaats direkt
miteinander in Konkurrenz. In der Konsequenz werden inländische Betriebe, die sich strengeren Auflagen ausgesetzt sehen, die rechtliche Gleichstellung
mit der ausländischen Konkurrenz einklagen. Auf diese Weise stimuliert das Herkunftslandprinzip einen unerbittlichen Abwärtswettlauf bei
Standards und Normen.
Die Bolkestein-Richtlinie setzt eine unkontrollierbare Deregulierungslogik in Gang.
Vorschriften, die sich nicht durch gegenseitige Evaluierung schleifen lassen, würden durch Briefkasten-Firmen unterlaufen. Die jeweils niedrigsten
Standards verwandelten sich zur EU-weiten Norm. Kaum ein Sektor bliebe verschont. Der Verdrängungswettbewerb hielte fast überall Einzug. Die
öffentlichen Aufgaben gerieten unter verschärften Privatisierungsdruck.
Noch ist der Entwurf allerdings nicht durch. Nach den Plänen der Kommission sollen
das Europäische Parlament und der Rat im kommenden Jahr zustimmen. Langsam rührt sich aber Protest. Belgische Gewerkschaften gingen bereits
auf die Straße. Auch in anderen Ländern wächst die Entrüstung. Wichtigste Maßnahme, um Bolkesteins Pläne zu
durchkreuzen, ist die Herstellung von Transparenz. Die Verhandlungen gehören ans Licht der Öffentlichkeit. Dann bestünde eine gute Chance,
dass die Richtlinie das gleiche Schicksal erleidet wie das einst gescheiterte MAI.
Thomas Fritz