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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 3

(K)ein Spaziergang

Bei den Tiduray auf den Philippinen

Die ersten 30 Kilometer hinter der Stadt sind zwar etwas holprig, aber die Straße ist zumindest betoniert. Dann verwandelt sie sich in einen zweispurigen, mit Schlaglöchern übersäten Feldweg. Meine Begleiter erzählen mir grinsend, dass die Strecke offiziell schon längst befestigt sei, das Geld dafür hätten die Regionalbehörden auch schon aus Manila bekommen — nur sei es nicht in den Straßenbau geflossen... Bei einem Kontrollbesuch habe man den aus Manila angereisten Verantwortlichen bedeutet, man könne zwar zur Besichtigung hinausfahren, nur sei leider momentan die Sicherheitslage etwas problematisch und man könne für nichts garantieren. Die Kontrolleure blieben dann lieber in der Provinzhauptstadt, ließen sich bewirten und reisten nach ihrer Unterschrift unter die Kontrollbestätigung wieder ab. Vielleicht ist es auch ganz anders gelaufen und sie haben einen Anteil bekommen — so genau weiß das hier keiner — nur dass der »National Highway« eine Katastrophe ist, das weiß jeder.
Die Philippinen sind einer der korruptesten Staaten in Südostasien. Je weiter eine Region von der Zentralregierung entfernt ist, desto geringer ist der Teil der ausgeschütteten Mittel, der am Bestimmungsort ankommt — und Mindanao ist ziemlich weit weg. Von 100000 Pesos, die für die Gesundheitsversorgung in Manila ausgeschüttet werden, kommen zum Beispiel ganze 30000 auf Munizipalebene in Mindanao an und wie viel davon dann tatsächlich seinem Zweck zugeführt wird, ist nicht genau bekannt. Wenn jemand jedenfalls in einem staatlichen Krankenhaus operiert werden muss, bekommen er bzw. seine Verwandten eine Liste mit den notwendigen Medikamenten und Materialien wie Nahtmaterial usw., um diese in der Apotheke einzukaufen.
Als wir vom »Highway« abbiegen, wird es schlimmer. Tief ausgefahrene, wegen der Regenzeit verschlammte, teilweise überflutete Fahrspuren lassen den Pickup, der mit zehn Personen und Gepäck nicht gerade leicht ist, immer wieder, trotz Allrad und Differentialsperre, stecken bleiben. Und dann ist der Weg zu Ende, der Fahrer dreht um, wir schultern unser Gepäck und tauchen auf einem Tiduray-Trail in der rasch hereinbrechenden Dunkelheit ins Unterholz ein.
Die Tiduray sind ein Stamm der so genannten Lumad, das ist die Sammelbezeichnung für die Ureinwohner Mindanaos. 18 Stämme mit einigen Unterstämmen gibt es, die durch die verschiedenen Einwanderungswellen ins Inland abgedrängt wurden und dort in den Bergen (der höchste Berg der Philippinen, der Mount Apo, knapp 3000 Meter hoch, liegt in Mindanao) auch heute noch in ihren Stammesverbänden leben, auch wenn sich ihre Lebensbedingungen durch die Verkleinerung ihres Gebiets und durch die großflächigen Abholzungen der Urwälder dramatisch verändert haben.
Straßen gibt es in dieser Region nicht, nur schmale Trails wie der, auf dem wir über mehrere hundert Höhenmeter zum Fluß absteigen, schnurgerade auf dem kürzesten Weg über Stock und Stein steil bergab führend, teils verschlammt und rutschig, sodass ich mich immer wieder, schnaufend und mit meiner Höhenangst kämpfend, am Gebüsch festhalten muss, während meine Begleiter leichtfüßig vor und hinter mir laufen, sich unterhaltend und ab und zu teils amüsiert, teils besorgt nach mir umschauend. Zwei transportieren unsere Marschverpflegung, zwei Säcke Reis, auf dem Kopf. Im Flusstal angekommen, müssen wir nach einer Rast noch insgesamt drei Mal den wegen des Regens ziemlich tiefen Fluß queren, dann geht es an der anderen Seite wieder ebenso steil den Berg hinauf.
O. läuft meistens an der Spitze, ein »Medizinmann« der Tiduray, der an dem Kurs für Notfallmedizin und kleine Chirurgie, den ich in der Stadt leitete, teilnahm. Die Medizinmänner der Tiduray sind multifunktional. Sie sind gleichzeitig Arzt, Lehrer, Fachmann für Agrikultur und Priester, denn die Tiduray sind Animisten, auch wenn ich bei dem Begrüßungs- und Einleitungs»gottesdienst« am nächsten Tag, den O. zu Beginn des Ältestentreffens abhält, den Eindruck gewinne, dass sie einiges aus dem christlichen Ritus, wie eine Art Abendmahl, adaptiert haben. Dreihundert Jahre spanische Kolonialherrschaft haben unübersehbar ihre Spuren hinterlassen — und unüberhörbar, denn die Stammessprache ist mit spanischen Wörtern durchsetzt, meist solche, für die es ursprünglich keine Ausdrücke gab, weil sie nicht nötig waren, wie z.B. die Wochentage.
Die Bewohner der Hütte in traditioneller Bauweise, auf Bambuspfählen mit geflochtenen Wänden und Schilfgrasdach, in der wir übernachten, haben einen ihrer zwei Räume für uns freigemacht, wir schlafen bis auf die Glücklichen, die eine Hängematte mithaben, auf dem blanken Bambusboden. Strom gibt es nicht, deshalb gehen die Tiduray mit den Hühnern ins Bett und stehen zwischen fünf und halb sechs morgens auf, denn das Kerosin, mit dem sie ihre aus alten Flaschen gebastelten Lämpchen betreiben, kostet Geld und das ist Mangelware.
Die Tiduray betreiben im Wesentlichen Subsistenzwirtschaft. Ursprünglich waren sie Halbnomaden, die alle ein bis zwei Jahre den Standort wechselten und sich neben dem Anbau von Feldfrüchten als Jäger und Sammler von dem natürlichen Reichtum der Urwälder und Flüsse ernährten. Durch die Abholzungen wurden sie zunehmend zur Sesshaftigkeit gezwungen, siedeln aber bis auf wenige Ausnahmen immer noch einzeln, der nächste »Nachbar« ist meist eine halbe Stunde Fußweg oder mehr entfernt. Dörfer, in denen dann eine kleine Schule steht, bestehen selten aus mehr als vier oder fünf Familien und die Schüler gehen häufig erst mit acht Jahren zur Schule, weil der Weg zu weit ist. Angebaut werden Hochlandreis, Mais, Bananen, Kokosnüsse, Süßkartoffeln, unter den wegen des Klimas in Pfahlbauweise errichteten Hütten halten sie einige Schweine und Hühner, die tagsüber frei herumlaufen und an denen jeder deutsche Ökobauer seine helle Freude hätte.
Mit dieser Art des Anbaus auf ungünstigem Gelände — Steil- und Hanglagen, Kleinfeldbewirtschaftung in Handarbeit, maximal mit Zugrindern — und aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten, auch wenn der eine oder andere über ein Pferd verfügt, sind sie auf dem Markt nicht konkurrenzfähig — weder gegenüber der meist von US- amerikanischen Multis wie Dole und Del Monte betriebenen Plantagenwirtschaft in den günstigeren, weil flachen Anbaugebieten, noch gegenüber den eingewanderten »Cristianos«.
Diese siedeln entlang der von der Küste ins Landesinnere vorgetriebenen »Highways« und betreiben intensiven Anbau, z.B. mit Genmais und ertragreichen Reissorten auf Nassfeldern.
So können die Tiduray zwar überleben, aber ein Mehrprodukt, das ihnen eine Verbesserung der Lebensbedingungen ermöglichen würde, ist auf diese Weise nicht zu erwirtschaften.
Das ist auch eines der Themen, die bei der Versammlung der Ältesten am nächsten Tag zur Sprache kommen. Die Häuptlinge, alte Männer mit verwitterten Gesichtern, breiten ihre Probleme aus und derer sind zahlreiche. Viele Jugendliche wandern wegen der trüben Zukunftsaussichten in die Städte ab und die Ältesten werden langsam unsicher, ob ihr Festhalten an den traditionellen Strukturen richtig ist. Ein wesentliches Problem ist, dass sie von der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ihres angestammten Gebietes bis auf den Anbau nichts bekommen: im Gegenteil, die großzügigen, gegen Bestechungsgelder vergebenen Holzeinschlaglizenzen machen die Umweltsituation für sie immer prekärer. Zwar gibt es seit 1997 ein Gesetz, das die Rechte der Ureinwohner anerkennt, sogar eine damals eingerichtete zuständige Behörde in Manila, aber diese erklärte auf die Frage, warum sie bis dato nichts unternommen hätte, dass die finanziellen Mittel gerade eben ausreichten, um ihre Gehälter zu bezahlen. Und Landtitel hat der Stamm bis heute nicht.
Deshalb greifen die Tiduray zur Selbsthilfe, indem sie aus eigener Initiative ihre alten Selbstverwaltungs- und Kollektivstrukturen zu reaktivieren versuchen und auch eigene Verteidigungsstrukturen gegen die Bedrohungen von außen entwickeln. Da sind zum einen marodierende Banden, lost commands genannt, bewaffnete Kleingruppen, die Anfang der 90er Jahre so häufig die Gehöfte überfielen und ausraubten, dass ein Teil der Bauernfamilien nachts nicht mehr in ihren Hütten schlief, sondern im Busch, dann die Milizen der Holzunternehmen (übrigens ist die einzige deutsche Firma, die jeder Tiduray kennt, der Motorsägenhersteller Stihl), das Militär und die entlang der Straßen immer weiter vordringenden Einwanderer. Die Regierung in Manila betrieb in den letzten Jahrzehnten eine systematische innere Kolonisation der Philippinen, indem sie aus dem bevölkerungsreichen Luzon Christen nach Mindanao umsiedelte. Das führte in Mindanao zu zunehmenden Spannungen zwischen den dort ansässigen Bevölkerungsgruppen der Lumad und Moros (insgesamt 13 Stämme moslemischen Glaubens, die in einer zweiten Einwanderungswelle vor knapp 700 Jahren aus dem Gebiet des heutigen Indonesien islamisiert wurden) und den neu eingewanderten Christen, die, wie gesagt, den Lebensraum der Ureinwohner immer weiter einengen.
In den 90er Jahren bauten die Tiduray deshalb eine Art Territorialverteidigung auf, die kollektiv gestützt wird, dezentralisiert ist und ihre Gebiete beschützt. Eine regelrechte Guerillastrategie verfolgen diese Einheiten nicht. Sie dienen ausschließlich zum Schutz der ansässigen Bevölkerung gegen Bandenüberfälle und Übergriffe der Milizen. Natürlich ist das illegal: In den Philippinen ist Waffenbesitz lediglich der Polizei, der Armee und den sog. Milizen erlaubt. Letztere sind ein etwas schwammiger Begriff, denn viele Großgrundbesitzer unterhalten Privatarmeen, die sie einfach gegen einen entsprechenden Obolus bei den Behörden als Miliz registrieren lassen und zum Beispiel an die Holzfällerfirmen vermieten. (Im Übrigen spielen diese Privatarmeen auch bei der Wahlmanipulation eine nicht kleine Rolle, aber das ist wieder eine andere Geschichte.) Gelegentlich wehren sich die Tiduray-Einheiten auch gegen die Abholzungen in ihrem Gebiet. Vor einigen Wochen erteilte ausgerechnet die regionale Umweltschutzbehörde gegen Bares eine Lizenz zum Holzeinschlag an ein Unternehmen. Die Tiduray der dortigen Region protestierten und kündigten an, gegen die Verantwortlichen einen Arrest zu verhängen. Als keine Reaktion erfolgte, wurde der stellvertretende Leiter der Umweltschutzbehörde gekidnappt und erst nach Rücknahme der Genehmigung wieder freigelassen.
Auch von den reichen Vorkommen an Bodenschätzen — in Mindanao gibt es vom Gold bis zum Bauxit fast alles — haben die Ureinwohner nichts. Auch hier spielt der innere Kolonialismus der Philippinen eine Rolle. Mindanao produziert fast 70% des Reichtums der Philippinen, es landen allerdings keine 30% der Staatseinnahmen wieder dort.
Nach dem Gedankenaustausch mit den Stammesältesten, die teilweise mehrere Stunden weit zu dem Treffen gelaufen sind, geht es am späten Nachmittag wieder auf den Trail. Nach einem steilen Anstieg durch Bambusgehölz, Reis- und Maisfelder, unterbrochen von einer Dusche unter einem kleinen Wasserfall, bleiben wir in dieser Nacht in einer Hütte, deren Bewohner zum Nachbarn, der diesmal ausnahmsweise relativ nah wohnt, umziehen. Die Frau des Bauern begrüßt O. sehr herzlich — er hat sie einmal von gesunden Zwillingen entbunden. Nachts geht ein mehrstündiger Regen nieder, der sich anhört, als würden wir mitsamt unserer Hütte davon geschwemmt.
In der Nähe treffen wir am nächsten Morgen nach unserem üblichen Frühstück aus Reis und Trockenfisch in einem Bambuswäldchen auf eine Einheit der Territorialverteidigung, meist junge Leute, die hier in ihren Hängematten übernachtet haben, ausgerüstet mit einem Sammelsurium an Waffen, das einen Querschnitt durch die letzten Kriege repräsentiert: Von der Vorkriegs-Garant-Rifle über das amerikanische M16, panzerbrechende RPGs bis zum koreanischen Uzi-Nachbau ist so ziemlich alles vertreten. Die mehrstündige Diskussion über politische Fragen, Geschichte der Guerillastrategie und auch über die derzeit laufenden Friedensverhandlungen der verschiedenen Guerillaorganisationen mit der Regierung, bei der ich unter anderem Auskunft auf die Frage geben muss, ob es in Deutschland auch Probleme zwischen den verschiedenen Stämmen gebe, dauert, unterbrochen vom Mittagessen, bis zum Nachmittag. Dann, als die Hitze etwas nachlässt, geht es weiter.
Der Trail ist verschlammt und es geht wieder mehrere hundert Höhenmeter bergauf und bergab, bis wir an unserem nächsten Haltepunkt ankommen. Unsere Sachen lassen wir in einer Bauernhütte und besuchen das nahegelegene Dorf, bestehend aus einigen Hütten, einer Schule, einem kleinen Genossenschaftsgebäude und — einem sog. Gesundheitszentrum, das einzige weit und breit. Letzteres besteht aus einer solide gebauten Einraumhütte, sogar mit betoniertem Fußboden, finanziert von der Regierung. Die Hütte ist komplett leer. Für Ausrüstung oder gar Personal gab es kein Geld. Folgerichtig dreht sich auch die Diskussion mit den Ältesten hier in erster Linie um die Gesundheitsversorgung, denn das nächste Krankenhaus ist für die Tiduray ebenso schwierig erreichbar wie unbezahlbar.
Nachdem es die ganze Nacht ununterbrochen geregnet hat, ist der Rückweg am nächsten Morgen — hinunter ins Flusstal, am anderen Ufer wieder fünfhundert Höhenmeter hinauf — für mich eine einzige Rutschpartie, für die allerdings immer wieder der atemberaubende Ausblick auf die teilweise in den tiefhängenden Wolken zu schwimmen scheinenden Berge und die absolute Stille entschädigt.
Als wir mit dem Auto zurückfahren, der Lärmpegel langsam steigt und wir die Stadt mit ihrem Gedränge und Gestank von Jeepneys und Tricycles erreichen, habe ich das Gefühl, aus einer anderen Welt aufzutauchen.

Klaus Engert

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