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Da sind sie wieder, die Montagsproteste. Natürlich sofort angefeindet und delegitimiert von Berufs-(Ex-
)Bürgerrechtlern und den Leuten der professionellen, parlamentarischen Politik nicht zuletzt von den Medien. Doch die Mehrheit von unten
lässt sich davon wenig beeindrucken und demonstriert fleißig weiter in zunehmender, heterogener Masse.
Sie gehen auf die Straße: Arbeitslose, Angestellte, Selbstständige, Sozialhilfebeziehende kurz gesagt: Betroffene aus allen Kreisen
und Schichten. Und es ist toll, dass sich nach 15, 20 Jahren der Politik des Sozialabbaus, ein halbes Jahr vor der Angst, nun endlich wenigstens Teile der
Betroffenen aus der häuslichen Isolation wagen. Sie gehen auf die Straße und schreien oder schweigen ihren Unmut heraus. Erstaunlich bei diesen
aktuellen Protesten ist vor allem, dass sie sich wie ein Lauffeuer auch in kleineren Städten ausbreiten und erfrischend unprofessionell organisiert sind.
Diesmal spielen die großen Städte nicht die Vorreiterrolle, gibt es keine Avantgarde, die das alles vorausgesehen hat. Hier ähnelt die Situation
verblüffend der von 1989, legitimiert allein dadurch die Verwendung des Begriffs »Montagsdemonstration«.
Des Weiteren offenbart sich eine enorme Skepsis gegenüber allen etablierten Parteien
und den Gewerkschaften. Das Vertrauen in dieses parlamentarische System und die politischen Strukturen strebt dem Nullpunkt entgegen. Die Entfremdung
innerhalb unserer Gesellschaft vervollständigt sich, rundet sich ab und schlägt auf die grundlegende Basis zurück.
Nun können wir das als Chance und als Gefahr begreifen. Zunächst liegen die
Gefahren auf der Hand, dass diese Bewegung aus allen möglichen Richtungen instrumentalisiert wird. Bundesweit sind rechte Rattenfänger
unterwegs und versuchen, die Demonstrationen zu unterwandern und für ihre Zwecke und Parolen zu missbrauchen. Wie gut das gelingt, ist vor allem von
der sozialen Destrukturierung der jeweiligen Region abhängig. In manchen Orten gelingt es ihnen, sich mit ihren Transparenten an die Spitze zu setzen, in
anderen Orten werden sie aus der Menge gedrängt. Dabei ist beinahe allen klar, dass sich unsere Probleme nicht durch den Rückzug auf die
Nationalstaaten lösen lassen. Doch Lösungen hat bisher kaum jemand anzubieten. Und damit kommen wir zur anderen Seite der
Intrumentalisierungsversuche.
Den geringen Organisationsgrad und die mangelnde politische Erfahrung der meisten Akteure
ausnutzend, treten Organisationen auf den Plan, die seit Jahrzehnten keinen Fuß auf den Boden bekommen haben. Sie bemühen sich, mit scheinbar
demokratischen Mitteln ihre eigenen Interessen durchzusetzen und die Dynamik der weiteren Entwicklung zu bestimmen. Das hat in einigen Städten
bereits zur Spaltung der Proteste geführt und macht ihre Organisation, Fortsetzung und Zielführung schwieriger.
Hinzu kommen die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-
Westfalen, die bei den etablierten Parteien Begehrlichkeiten wecken, sich stärker bei den Protesten zu zeigen. Auch die Wahlalternative Soziale
Gerechtigkeit hat sich bisher kaum als konstruktive politische Kraft etabliert.
Bleiben noch die Gewerkschaften. Sie halten sich zurück, sind gespalten. Die
Bundesebene möchte es sich nicht mit der Regierung verderben und hält sich zurück, lässt aber den Landesverbänden freie Hand,
sich zu beteiligen. Und ohne deren Hilfe wäre wohl kaum etwas möglich.
Hier zeigt sich einmal mehr die weiterhin tiefe Spaltung zwischen Ost und West. Der
wesentlich größere Anteil sozial Benachteiligter im Osten spiegelt sich in deutlich höheren Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen wider.
Hier werden die Gewerkschaften nicht als legitime Interessenvertreter akzeptiert. Hier spricht man auch 15 Jahre nach 1989 eine andere Sprache. Hier gibt es
kein Vertrauen. Wird sich das ändern, wenn sich die Proteste nun langsam gen Westen ausbreiten? Wie stellt sich die Lage denn aktuell dar?
Demonstrationen gibt es in rund 140 Städten in der gesamten Republik. Mindestens
132000 Menschen gingen am 23.August auf die Straße. Zunächst bestimmt der Ruf »Weg mit Hartz IV« die Märsche. Ob dies
möglich ist darüber denkt kaum jemand nach. Die Regierung wird nervös und versucht mit allerlei Ablenkungsmanövern, aus
der Schusslinie zu kommen. Natürlich nimmt das niemand ernst nein, es nimmt niemand ernst und die Proteste gehen weiter. Erste Rufe nach
einem Generalstreik werden laut.
Parallel dazu gibt es Versuche der Vernetzung. Derzeit noch generalstabsmäßig geplant von den bereits erwähnten Altmarxisten, die sich
demnächst outen werden und damit im Abseits landen. Die Gefahr ist groß, damit der Presse in die Hände zu spielen, die schon jetzt versucht,
eine Spaltung und Schwächung der Bewegung herbeizureden.
Denn politische Alternativen sind rar. Kippt Hartz IV, kippt auch die Bundesregierung, und die
nachfolgende Regierung setzt die gleiche Politik fort. Wirklich alternative parlamentarische Kräfte sind weit und breit nicht in Sicht. Die Gewerkschaften
sind unschlüssig und uneins, propagieren alte Konzepte und warten darauf, dass sich die Bewegung totläuft.
In den alten Bundesländern sehen bisher noch wenige die Dringlichkeit, über
außerparlamentarischen Druck eine wirkliche Änderung der politischen Situation herbeizuführen. Die Linke ist uneins und hat aus den
Sozialforen und Vernetzungen der vergangenen Jahre noch nicht genügend Kraft für einen konzertierten Vorstoß geschöpft. Hinzu
kommt die Gefahr, durch eine immer noch 68er geprägte Sprache an den Aktivisten der Straße vorbeizureden. Der jahrzehntelangen Erfahrung
sozialer Auseinandersetzungen im Westen steht das Erlebnis, ein System ohne politische Struktur von unten kippen zu können, im Osten
gegenüber. Und weiterhin lauert die Gefahr von rechts.
Doch auch ein anderes Szenario ist denkbar. Die kommenden Monate bieten genug
Gelegenheiten, die Proteste am lodern zu halten. Zunächst sind Arbeitsämter und Kommunen mit der Bearbeitung der eingehenden Anträge
völlig überfordert.
Selbst wenn die Demonstrationen nach weiteren zwei, drei Wochen an Dynamik verlieren,
werden im Oktober die Zuwendungsbescheide für das Arbeitslosengeld II verschickt. Dann erfahren Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger,
wieviel Geld sie ab Januar tatsächlich bekommen, was eine weitere Protestwelle nach sich ziehen kann.
Diese Zeit können die lokalen Sozialforen, Gewerkschaften und
Nichtregierungsorganisationen nutzen, sich zu vernetzen und eine Diskussion über tatsächliche Alternativen in Gang zu bringen. Das beginnt bei der
Aussetzung der Absenkung des Spitzensteuersatzes, geht über Bürgergeld, Grundeinkommen und endet mit der solidarischen Einfachsteuer. Gelingt
es außerdem, Arbeitslosen- und Migrantenverbände mit ins Boot zu holen und die globale Perspektive in der Diskussion zu halten, kann das der
Anfang einer wirklich neuen Qualität sozialer Bewegung sein.
Grundvoraussetzung dafür ist eine Sprache zu sprechen, die alle Protestierenden
verstehen.
Karsten Bretschneider
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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