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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 9

Die Gesundheitsreform wirkt schlimmer als versprochen

Verhaltensänderung durch Zuzahlungen

»Warum? Machen wir die Agenda 2010« — übt die Bundesregierung in Zeitungsanzeigen und auf Reklametafeln für ihre nächste Rechtschreibreform. Für die Antwort stellt sie sich dann einmal ganz dumm: »DARUM! Die Krankenkassenbeiträge sinken — die Gesundheitsreform wirkt«. Seit Jahresanfang bekommen die Menschen ihr Gesundheitsmodernisierungsgesetz zu spüren. Die fatalen Wirkungen treten schnell zu Tage.

Viele haben bezweifelt, dass Patienten überhaupt einen nennenswerten Entscheidungsspielraum haben, um bei ihrer Gesundheit oder bei der Behandlung ihrer Krankheiten zu sparen. Können empfindliche Preiserhöhungen ihr Verhalten ändern? Die Zahlen geben da eine deutliche Antwort — sei es bei den Arztbesuchen, beim Medikamentenverkauf oder beim Rauchen.
Zum Jahresbeginn 2004 hat die Bundesregierung für jede Zigarettenpackung die steuerliche Zuzahlung angehoben. Im ersten von drei Teilschritten stieg der Preis um 40 Cent pro Packung. Der Umsatz an — versteuerten — Zigaretten brach um 26% ein, im Gegenzug kletterte jedoch der von Tabakfeinschnitt zum Selbstdrehen um 22%. Der billige Einkauf bei den EU-Nachbarn bekam Auftrieb. Im Ergebnis — so Schätzungen — hat diese Zuzahlung gerade einmal 2% der Raucher von ihrer Sucht entzogen.
Offenbar spürten die Menschen diese Preiserhöhung trotz ihrer stufenweisen Abmilderung derart heftig, dass sie ihr Konsumverhalten änderten. Neben dieser erheblichen »Merklichkeit« entscheidet über die Wirkungen einer Zuzahlung aber auch die »Nachfrageelastizität«, also die Möglichkeit für die einzelnen, auf Alternativen auszuweichen. Darum wirken Zuzahlungen so unterschiedlich bei Zigaretten und Arztbesuchen, Rettungswagen oder Notfallambulanzen, Medikamenten, Brillen und Beerdigungen.

Praxisgebühr: 10 Euro

»Deutsche gehen immer seltener zum Arzt«, machte die Welt am 2.April 2004 auf. Und wirklich: Die Kassenärztlichen Bundesvereinigung vermisst im Vergleich zum Vorjahr etwa 5—8% der Besuche von Patienten. Jeder elfte Bundesbürger hat 2004 bereits einen Arzttermin aufgeschoben, um die je Quartal beim ersten Besuch fällige Praxisgebühr zu sparen. Das erbrachte eine repräsentative DAK- Umfrage unter mehr als 1000 Patienten, die sie am 3.Juni 2004 in Mainz vorstellte. Dramatischer noch war, dass um 26,2% weniger Patienten die Notfalldienststellen in Anspruch nahmen.
Dabei trifft die »Merklichkeit« des neu eingeführten Eintrittsgelds von 10 Euro nicht alle Kranken gleich. Zwei Umfragen, die eine von Forsa, die andere vom wissenschaftlichen Institut der AOK, kamen unabhängig von einander zum fast gleichen Ergebnis. Für jede fünfte Person mit einem Haushaltsnettoeinkommen unter 1000 Euro ist die Praxisgebühr ein Grund, nicht zum Arzt zu gehen. Bei den Personen mit einem Einkommen über 3000 Euro gilt dies gerade einmal für jede zwölfte. Diese erhebliche soziale Schieflage könnte bereits zu einem vernichtenden Urteil über die Gesundheitsreform führen.
Um das beiseite zu schieben, wurde öffentlich ein ganz anderes Gefälle in die Schlagzeilen gerückt — die internationalen Unterschiede. »Deutsche gehen häufig zum Arzt«, meldete dpa im Juni 2004. 43% lassen sich regelmäßig untersuchen, auch wenn sie keine Beschwerden haben. Bei ihren europäischen Nachbarn tun das durchschnittlich nur etwa 16%. Vor allem Briten gehen nur zum Arzt, wenn es ihnen wirklich schlecht geht. »Schätzungsweise 1,7 Millionen Arztbesuche ergeben sich nur, weil die Arbeitnehmer ihre Krankheit gegenüber dem Arbeitgeber rechtfertigen wollen oder müssen«, rechnete die DAK vor und führt dies auf ein tief ausgeprägtes Misstrauen bei Personalchefs zurück.
Ursachen und Wirkung verwischen unvermeidbar bei solchen länderübergreifenden Schnappschüssen. Fügen wir also noch einige andere Schlaglichter hinzu: Der deutsche Krankenstand fiel Anfang 2004 auf das Rekordtief von 3,35%. Der Krankenstand in Großbritannien liegt mehr als viermal so hoch, was an versäumten rechtzeitigen Arztbesuchen liegen konnte. Oder an den massiven Rationierungen im Gesundheitswesen unter Margret Thatcher. Es könnte aber ebenso eine Folge der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 43 Stunden sein, jede Sechste arbeitet dort sogar mehr als 48 Stunden.
Die rationierende Sparwirkung des deutschen Zuzahlungsgesetzes ist ebenso widersprüchlich. Die Überfälle auf Praxen stiegen um 90% an, meldet die von dieser Verdoppelung der Schadenfälle getroffene Axa- Versicherung und erhöhte die Beiträge. Und es wurden nicht nur Arztbesuche verhindert, sondern auch zusätzliche ausgelöst, gerade weil die Menschen ein erneutes Abkassieren beim nächsten Arzt vermeiden.
So haben sich die Überweisungen von Hausärzten an Fachärzte verdoppelt, auch die Überweisungen in die umgekehrte Richtung nahmen deutlich zu. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung kommt sogar zu dem Ergebnis: Im erstem Quartal 2004 behandelten die Ärzte fast jeden zweiten Patienten aufgrund einer Überweisung; ein Jahr zuvor war es nicht einmal jeder elfte.
Früher klagten die niedergelassenen Ärzte darüber, mehr und mehr einzelne Patienten bei gedeckeltem Budget versorgen zu müssen. Jetzt gilt umgekehrt — die eingebrochene »Nachfrage« führt nicht automatisch zu gekürzten Budgets. DAK-Manager Herbert Rebscher gab Anfang April zu, »dass aufgrund der Praxisgebühr die Zahl der Arztbesuche bei der DAK im ersten Quartal um 9% gesunken ist. Das spart an dieser Stelle zwar nichts … Aber es zieht entsprechend weniger Arzneimittelverschreibungen nach sich.«

Medikamente: Bis zu 10 Euro

Barmer-Chef Eckart Fiedler bezifferte im Juni 2004 die Einsparungen seiner Kasse bei den Arzneimitteln auf mehr als 10%. Für Arztbesuche selbst gab die Kasse im ersten Quartal nicht einmal 5% weniger aus als im ersten Quartal 2003. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände meldet wenig später: Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben im ersten Halbjahr 2004 rund 1,4 Milliarden Euro eingespart. Der Begriff »Sparen« verharmlost dabei das tatsächliche Umverteilen und Rationieren zulasten der Kranken.
Die Zuzahlungen für die einzelnen verschriebenen Medikamente wurden Anfang 2004 angehoben. Angeblich können so überflüssige Verordnungen und Mitnahmeeffekte gemindert werden. Tatsächlich aber ging bereits von 1992 bis 2001 die Zahl der Verordnungen um etwa 30% auf 742 Millionen zurück. Und trotzdem stieg der Umsatz um fast 25% auf 21,3 Milliarden Euro. Je weniger Pillen wir verordnet bekommen, umso teurer werden sie uns in Rechnung gestellt.
Rezeptfreie Medikamente sind seit Anfang 2004 grundsätzlich unversichert. Knapp ein Viertel des Pharmamarkts machen solche rezeptfreien Mittel aus; bislang wurden etwa 10% davon durch Ärzte verordnet. Früher zahlten wir etwa die Hälfte der rezeptfreien Medikamente direkt aus der eigener Tasche; nun sind es mehr als 75%.
Im Juli 2004 — nach all dem Trubel um Hamsterkäufe und Kaufverweigerung — rechnet das Statistische Bundesamt vor: Der Warenkorb »Gesundheitspflege« verteuerte sich zum Vorjahr um mehr als 20%. Doch Vorsicht: Die Statistiker ermitteln diese Teuerung für durchschnittliche Bürger und nicht für die tatsächlich davon betroffenen Kranken. Es macht ja gerade das Wesen einer Versicherung aus, das Kostenrisiko auf die Gesunden und Kranken gleichmäßig zu verteilen. Jetzt treffen die Zuzahlungen und Versicherungslücken ausschließlich die Kranken, je behandlungsbedürftiger umso heftiger. Die weniger Kranken testen ihre persönlichen Schmerzgrenzen aus. So ging die Nachfrage nach rezeptfreien Grippe- und Erkältungsmittel um 75% zurück.
Die »Nachfrageelastizität« dagegen, also das Ausweichen auf preiswerte Alternativen und billigere Bezugswege, wurde offenbar erheblich überschätzt. Noch 1999 wurde der mögliche Umsatz des Versandhandels bei Medikamenten auf 15 % beziffert. Doch in den ersten fünf Monaten 2004 nutzte gerade mal 1‰ der Versicherten die Internetapotheken, der Marktanteil blieb darum eher unter 2%.
Nicht nur das Verhalten der »Kunden« am Gesundheitsmarkt ist durch die Gesundheitsmodernisierung im Rahmen der Agenda 2010 gehörig gestört worden. Auch am Markt der Leistungsanbieter werden die Karten neu verteilt.

Brillen und Sterbegeld

Marktführer Fielmann verkaufte aufgrund der 2003 vorgezogenen Käufe 6,4 Millionen Brillen und steigerte seinen Gewinn vor Steuern um 80%, die Aktie kletterte um 30%. Seit Anfang 2004 ist für Brillen der Versicherungsschutz gestrichen. Der Zentralverband der Augenoptiker rechnet für 2004 mit einem Umsatzrückgang von 20% und mehr als 1000 Insolvenzen. Auch hier wird die Konkurrenz nicht unbedingt das Geschäft, auf jeden Fall aber die Konzentration beleben.
Bislang werden in Deutschland weniger als 40% der Verstorbenen eingeäschert. Doch die Zahl der preiswerten Feuerbestattungen steigt rasant, seit zu Jahresbeginn das Sterbegeld in Höhe von 525 Euro aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen wurde. Mitte Mai berichtet die Frankfurter Rundschau von einer Globalisierung der besonderen Art. Der Bestatter »Pietät« fährt die Särge als Sammeltransport aus Berlin nach Tschechien; im Falle einer anonymen Beisetzung der Urne liegt dort der Preis dann bei 888 Euro.

Krankenkassen

Vorgeblich verteidigten Ulla Schmidt und ihre Genossen die Rationierungsgesetze in ihrer Planungsphase damit, es ginge auch darum, die Qualität der Gesundheitsversorgung sicherzustellen. In der anfangs zitierten Regierungsreklame reduziert sich die Agenda 2010 auf ihren Kern: »Die Krankenkassenbeiträge sinken«. Angesichts der tiefen Einschnitte beim Versicherungsschutz kommt die Beitragssenkung recht bescheiden daher. Die durchschnittlichen Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber gingen gerade mal von 14,4% auf 14,2% zurück.
Genaugenommen gleichen sich die Beitragssätze der Pflichtversicherungen zunehmend an. Daher reiben sich diejenigen, die aufgeputscht von »Verbraucherberatungen« zu vermeintlich günstigeren Kassen wechselten, jetzt die Augen. Denn ihnen wird — gegen den allgemeinen Trend — jetzt kräftig der Beitrag nach oben gesetzt.
Die bezahlten Jubler aus dem Bundesministerium haben den gehörigen Abstand, um aus den Zahlen die Trendwende zu deuten: »Nach 15 Jahren der Beitragssteigerung sind 4 Jahre der Beitragssenkung angebrochen.« Arbeitgeberpräsident Hundt dagegen bleibt nüchtern und dementsprechend hungrig: »Die versprochenen durchschnittlichen 12,2% sind bis 2006 nicht erreichbar.«
Trotz der zunehmenden Unzufriedenheit mit ihren Kassen lässt sich das Interesse an Zusatzversicherungen und Privatmedizin nur mühsam wecken. Die g/d/p-Markt- und Meinungsumfragen GmbH hat mehr als 1200 Versicherte der DAK repräsentativ befragt. Nur 13% halten eine entsprechende Zusatzversicherung für sinnvoll. Gerade mal jeder zehnte ist interessiert an einer privaten Absicherung für Zahnersatz, jeder elfte an Rundumuntersuchungen und Krebsfrüherkennung, kaum jeder fünfzehnte an privatem Versicherungsschutz für Brillen und Kontaktlinsen. Das meiste Geld wäre ihnen die Chefarztbehandlung im Krankenhaus wert, nämlich 24 Euro im Monat — an einer solchen Zusatzversicherung äußerten allerdings nur 14% der Befragten ein konkretes Interesse.
In der Logik der Gesundheitsreformer und der sie beratenden Lobbyisten wird es daher notwendig sein, die eingeleiteten Umbrüche spürbar zu verschärfen. Und auch mit den unerwünschten Nebenwirkungen lassen sich Geschäfte machen.

Tobias Michel

Tobias Michel ist Betriebsrat im Krupp-Krankenhaus Essen (tobias.michel@krupp-krankenhaus.de).



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