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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 10

Kopfpauschale

Und sie wissen sehr wohl, was sie tun

Wollen Wissenschaftler eine neue Methode erproben, so greifen sie gerne zum Mittel des sog. Feldversuchs. Nun sind Politiker meist keine Wissenschaftler, aber dafür haben sie ja ihre Leute, im Falle der Diskussion um die sog. Kopfpauschale in der Krankenversicherung den Herrn Professor Rürup, der sein Modell wie sauer Bier anpreist. Erstaunlich ist dabei nur, dass ausgerechnet er die Erfahrungen des größten Feldversuchs auf diesem Gebiet hartnäckig ignoriert.
In der Schweiz gibt es nämlich seit 1996 eben diese Kopfpauschale und die Ergebnisse sind bis dato ziemlich eindeutig. Neben der Tatsache, dass inzwischen das Schweizer Gesundheitssystem nach dem amerikanischen das zweitteuerste der Welt ist, hat die Umstellung des Krankenversicherungssystems dort gleichzeitig dazu geführt, dass der Staatsanteil an der Finanzierung von 31 auf 25% gesunken ist.
Entsprechend sind im gleichen Zeitraum die Beiträge gestiegen: Seit 1996 um insgesamt 60%, was dazu geführt hat, dass inzwischen 30% der Versicherten staatliche Zuschüsse bekommen müssen. Trotzdem gleicht das die soziale Benachteiligung nicht aus.
Der Schweizer Gesundheitsökonom Willy Oggier (bekennender Neokeynesianer, wie er dem Autor einmal offenbarte) stellt dazu schlicht fest: »Die schweizerischen Erfahrungen zeigen, dass schon der untere Mittelstand — Familien mit Kindern — zu den Verlieren eines solchen Systems gehört«.
Wobei Willy Oggier natürlich als Ökonom seine Hauptkritik nicht daran ansetzt, dass wegen der hohen Selbstbeteiligungen, die im System vorgesehen sind, viele Leistungen nur noch für Besserverdienende bezahlbar sind, sondern daran, dass die Löcher, die diese Form der Krankenversicherung in die Taschen der Bevölkerung reißt, der Schweizer Wirtschaft schaden: »Seit 1996 hatten wir jedes Jahr ein schlechteres Wirtschaftswachstum als die EU gehabt. Teilweise haben wir sogar Deutschland im Wirtschaftswachstum unterboten.«

Drei Modelle

Im Wesentlichen stehen derzeit drei Modelle zur Diskussion. Das weitestgehende ist das der FDP, das noch auf den flugunfähigen Liberalen Möllemann zurückgeht. Der hatte schon Anfang der 90er Jahre verkündet, im Prinzip werde es über kurz oder lang nur noch eine Grundabsicherung geben, alles darüber hinaus sei privat zu bezahlen oder zu versichern.
In stillem Gedenken hat sich seine Partei eben dieses Modell auf die Fahnen geschrieben. Die Grundabsicherung soll zwar Pflicht sein, kann aber wahlweise bei gesetzlichen oder Privatkassen abgeschlossen werden. Alles weitere sei dann Privatsache.
Die SPD wiederum hat sich auf die Seite ihres zweiten wissenschaftlichen Vorzeigeathleten, des Herrn Professor Lauterbach, geschlagen und favorisiert die sog. Bürgerversicherung. Sie will auch vom Einfrieren des Arbeitgeberanteils nichts wissen. Der grüne Koalitionspartner in Gestalt von Josef Fischer allerdings legt, wie zu erwarten, gerade auf den letzteren Punkt besonderen Wert bei seiner Variante.
Peinlich ist dabei nur, dass der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums querschießt: Er zieht eine Kopfpauschale im Gesundheitssystem einer Bürgerversicherung vor. Einheitsprämien senkten die Lohnnebenkosten stärker als eine Krankenversicherung, in die mehr Einnahmen aus mehreren Einkommensarten einfließen sollen, sagte Beiratsvorsitzender Heinz Grossekettler.
Er überreichte der Parlamentarischen Staatssekretärin im Finanzministerium, Barbara Hendricks (SPD), ein Gutachten sowie eine Studie zur Reform der Einkommensteuer. Beide Arbeiten hatte der Beirat auf eigene Initiative hin erstellt.
In der Union wiederum ist in den letzten Wochen ein offener Streit zwischen CDU und CSU ausgebrochen. Während Merkel und Konsorten eine einkommensunabhängige Kopfpauschale nach dem Schweizer Vorbild fordern mit einem steuerfinanzierten Ausgleich für sog. Geringverdiener, will die CSU zwar eine »Bürgerprämie«, aber bei der Berechnung eine einkommensabhängige Staffelung beibehalten.
Nach einem Bericht des Handelsblatts wird in der CDU-Spitze inzwischen an einer modifizierten Kopfpauschale gearbeitet. Sie soll rund 170 Euro für Erwachsene betragen. Der Sozialausgleich von 26 Milliarden Euro soll über eine Zusatzabgabe auf alle Einkünfte ohne Abschreibungen von 1,7% aufgebracht werden. Eine CDU-Sprecherin verwies lediglich auf das Ziel von CDU und CSU, bis Jahresende ein gemeinsames Reformkonzept zu erarbeiten.
Denn vor allem der ehemalige Gesundheitsminister Seehofer, ausgerechnet der, der den seit mindestens 15 Jahren anhaltenden Abbau der Solidarversicherung maßgeblich vorantrieb, hat angesichts der nächsten Bundestagswahl sein Herz für die Familien entdeckt und findet starke Worte: »Ich will es nicht durchgehen lassen, dass stillschweigend eine gesellschaftspolitische Revolution durchgesetzt wird.« Den eigentlichen Grund für seine Einwände nannte er an anderer Stelle allerdings auch: Die Kopfpauschale sei ein »Sympathiekiller«.

Pudels Kern

Zur Beilegung des Streits hat inzwischen Herr Rürup einen neuen Vorschlag vorgelegt, der vorsieht, dass die Kopfpauschale für Kinder steuerfinanziert werden soll. Trickreich, wie er ist, will er den Arbeitgeberanteil auszahlen lassen und aus den darauf dann zu zahlenden Steuern die Kinderversicherung finanzieren. Die Zuschüsse für Einkommensschwache wiederum sollen entweder über eine Erhöhung des Soli oder der Mehrwertsteuer finanziert werden.
Das Perfide an den öffentlich geführten Auseinandersetzungen um die verschiedenen Modelle ist, dass sie in Vergessenheit geraten lassen, worum es letztendlich allen genannten Parteien geht: In erster Linie um eine gesellschaftliche Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner, genannt Entlastung von Lohnnebenkosten, auf gut ökonomisch Steigerung der Profitrate, öffentlich verkauft als »Schaffung neuer Arbeitsplätze«.
Da sind sich alle Parteien einig, ob sie ihr Modell nun Grundabsicherung (FDP), Bürgerversicherung(SPD/Grüne), Kopfprämie (CDU) oder Bürgerprämie (CSU) nennen. Der Streit geht ausschließlich darum, mit welchem Modell dieses Ziel am besten erreicht werden kann, ohne einerseits die Wählerinnen und Wähler allzu sehr zu vergrätzen und andererseits gröbere gesundheitspolitische Verwerfungen zu produzieren.
Die SPD beteuert zwar, sie wolle den Arbeitgeberanteil und das Solidarsystem beibehalten, hat aber in den letzten Jahren durch die Einführung von Leistungseinschränkungen und sog. Zuzahlungen auf anderem Wege fleißig dafür gesorgt, dass letzteres kontinuierlich ausgehöhlt wurde und ersterer ständig gesunken ist. Die Grünen sind demgegenüber erfrischend ehrlich unsozial und fordern offen, den Arbeitgeberanteil einzufrieren.
Karl-Josef Laumann (CDU), Sozialexperte seiner Fraktion, wird ähnlich deutlich: Er hält »gar nichts von einer einkommensbezogenen Gesundheitsprämie«, weil damit die für neue Arbeitsplätze notwendige Abkoppelung der Sozialkosten vom Lohn nicht zu erreichen sei.
Der Streit zwischen CDU und CSU dient nebenbei auch noch dazu, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, ein Systemwechsel weg vom Prinzip der Solidarversicherung sei sowieso überfällig und es gehe nur darum, ihn »gerecht« zu gestalten.
Sieht man sich die Entwicklung im Gesundheitswesen der letzten 15 Jahre an, so stellt man fest, dass die schleichende Abkehr vom Prinzip der Solidarversicherung, die zunehmende Organisierung des Systems nach marktwirtschaftlichen Prinzipien mit allen ihren Konsequenzen, weder zu einer Kostensenkung, wie ursprünglich versprochen, noch zu einer besseren Versorgung geführt hat. Sie hat lediglich dazu geführt, dass das System immer instabiler geworden ist und die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer kompletten Privatisierung dieses Bereiches nur logisch und unausweichlich erscheinen.
Und sie hat dazu geführt, dass schon heute in den Genuss der gesamten Leistungen des Systems nur der kommt, der über das nötige Kleingeld verfügt. Und das war wohl auch der Zweck der Übung. Die Kopfpauschale wird noch sehr viel härtere Konsequenzen haben, das zeigt das Schweizer Beispiel. Aber wer will es Herrn Professor Rürup schon verdenken, dass er seinen eigenen Feldversuch durchführen will — er ist nun mal ein Wissenschaftler.

Klaus Engert

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