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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 11

Tariq Ali über den Widerstand gegen den US-Neoliberalismus in Lateinamerika

Eine Bolivarianische Föderation

Das folgende Interview mit dem britisch-pakistanischen Buchautor und Aktivisten Tariq Ali führte die australische Zeitung Green Left Weekly während seines kürzlichen Aufenthalts in der venezolanischen Hauptstadt Caracas.

Wie ist die Explosion der sozialen Bewegungen gegen den Neoliberalismus in Lateinamerika zu erklären?

Lateinamerika wurde von den USA lange als Experimentierfeld benutzt. Wo Washington Volksbewegungen durch die Errichtung von Militärdiktaturen zerschlagen hat, tat es dies zuerst in Lateinamerika: in Brasilien, Argentinien, Chile. Damals bekam die US-Regierung Lateinamerika ökonomisch in den Griff. Nun rebelliert das Experimentierfeld des American Empire als erstes gegen dieses Empire.
Chile unter Pinochet, Brasilien unter Cardoso, Argentinien unter verschiedenen Regierungen wurden deindustrialisiert. Diese Regierungen dachten, dass ihre Länder in einer ökonomischen Blase existieren könnten, die von einem falschen Boom geschaffen worden war. Aber jedesmal, wenn die Investitionen riskant wurden, zogen sich die internationalen Investoren zurück. Sie hatten nicht die Absicht, Brasilien oder Argentinien aufzubauen — und so kam es nach und nach zu neuen sozialen Bewegungen von unten: Bauernbewegungen, Landlosenbewegungen, Erwerbslosenbewegungen fingen an, das alles in Frage zu stellen. Anfangs in den Dörfern, in einer Stadt, in einer Region. Nach und nach breiteten sie sich aus.
Es gab einen Aufstand in Cochabamba in Bolivien gegen die Wasserprivatisierung und einen Kampf der Bauern von Cuzco in Peru gegen die Stromprivatisierung. Beidesmal war die erste Antwort der Regierung die Repression, dennoch musste sie den Rückzug antreten. Dann gab es einen unglaublichen Zusammenbruch in Argentinien, wo innerhalb von drei Wochen vier oder fünf Präsidenten kamen und wieder gingen. Das macht die Krise des neoliberalen Kapitalismus sehr deutlich.

Pariert das US-Empire diese Proteste mit einer sanfteren Version des Neoliberalismus?

Ich glaube nicht, dass so etwas gegenwärtig vorbereitet wird. Das werden sie nur tun, wenn sie sich bedroht fühlen. Und das tun sie momentan nicht. Und zwar auch deswegen nicht, weil — das muss man so deutlich sagen — es innerhalb der sozialen Bewegungen eine idealistische Losung gibt, die da lautet: »Wir können die Welt ändern, ohne die Macht zu ergreifen.« Diese Losung bedroht niemanden, sie ist eine moralische Losung. Was dachten die Zapatisten — die ich bewundere —, als sie von Chiapas nach Mexiko-Stadt marschierten, was geschehen würde? Nichts geschah. Es war ein moralisches Symbol, es war nicht einmal ein moralischer Sieg, weil nichts geschah.
In der lateinamerikanischen Politik mag dieser Satz noch verständlich gewesen sein, denn die Leute waren von den jüngsten Erfahrungen ausgebrannt: die Niederlage der Sandinisten, die Niederlage der Bewegungen, die den bewaffneten Kampf führten.
Deshalb ist das venezolanische Beispiel so interessant. Es sagt: »Um die Welt zu verändern, muss man die Macht übernehmen, und man muss damit anfangen, Veränderungen durchzusetzen — in kleinen Schritten wenn nötig. Ohne dies wird sich nichts ändern.«

Welche Alternative zum Neoliberalismus bietet die globale Bewegung für soziale Gerechtigkeit, wenn sie die Frage der Staatsmacht ausklammert?

Sie hat keine Alternative! Diese Aktivisten denken, dass dies ein Vorteil ist. Aber aus meiner Sicht ist es ein Zeichen des politischen Bankrotts. Wenn du keine Alternative hast, was sagst du den Leuten, die du mobilisierst? Die Landlosenbewegung MST in Brasilien hat eine Alternative. Sie sagt: »Nehmt das Land und gebt es den armen Bauern, lasst es sie bearbeiten.« Die Position der Zapatisten hingegen ist eine für den Cyberspace. Doch wir leben in der wirklichen Welt. Deshalb ist das Modell der MST Brasiliens viel interessanter als das Modell der Zapatisten in Chiapas.

In Kolumbien hat es eine gewaltige Militarisierung gegeben, ähnlich der US-Strategie des Kalten Krieges in Lateinamerika. Wie passt das zu einer neuen Empire-Strategie, die weitgehend ökonomisch ist?

Kolumbien ist derzeit eine Ausnahme, natürlich auch Venezuela, wo Washington versucht hat, einen Staatsstreich durchzusetzen, der gescheitert ist. Die Herrschenden in den USA werden zu diesen Mitteln aber wieder greifen, wenn alles andere erfolglos bleibt. Wenn sie feststellen, dass die Demokratie ihren Interessen nicht dient, kehren sie zum Militär zurück.
Gegenwärtig besteht das Problem darin, wie man eine Gesellschaft errichten kann, in der sich sozialdemokratische Projekte für die Armen durchsetzen lassen. Darum ist Venezuela so wichtig.
Mit der Wahl Lulas in Brasilien ist eine neue Möglichkeit entstanden: Gäbe es eine »bolivarianische Föderation« aus Brasilien, Argentinien, Ecuador, Bolivien, Venezuela und Kuba, würde sich ein vollständig anderes Bild ergeben, es würde eine andere Form der Gesellschaft denkbar, nicht repressiv, nicht bösartig, die das Alltagsleben der Armen verändern würde.
Das ist jedoch nicht geschehen. Die brasilianische Arbeiterpartei (PT) ist eine große Enttäuschung geworden. Argentiniens Präsident Nestor Kirchner ist meiner Meinung nach besser als Lula.

Die Bewegung für globale Gerechtigkeit hat Probleme mit Chávez‘ Populismus, seinem militärischen Hintergrund. Sie befürchtet eine Revolution »von oben«, die die Basis ausschließt. Wie können beide miteinander versöhnt werden?

Solange die Armen in Venezuela diese Regierung unterstützen, wird sie überleben. Wenn sie ihre Unterstützung zurückziehen, wird sie stürzen. Ich glaube, es wird nützlich sein, wenn die Bewegung für globale Gerechtigkeit — in der es viele Strömungen gibt — kommt und sich anschaut, was hier vor sich geht. Geht in die Elendsviertel, schaut euch das Leben der Leute an, seht euch an, wie ihr Leben aussah, bevor dieses Regime an die Macht kam.
Man kann die Welt nicht ändern, ohne die Macht zu ergreifen, das zeigt das Beispiel Venezuela. Chávez verbessert das Leben der einfachen Leute, deshalb ist es so schwer, ihn zu stürzen — andernfalls würde er gestürzt. Es ist nutzlos, bloß Parolen zu skandieren, denn für die einfachen Leute sind Ausbildung, freie medizinische Versorgung, preiswerte Nahrung weit wichtiger als alle Parolen zusammengenommen.

Welche Bedeutung hat die Beteiligungsdemokratie?

Sie muss gestärkt werden. Die Bewegung muss sich auf jeder Ebene institutionalisieren. Ihre Organisationen, die Bolivarianischen Zirkel, die sich regelmäßig treffen, ihre Probleme diskutieren, sie sind nicht einfach eine Antwort auf Initiativen von oben. Chávez muss Institutionen für die Zukunft seines Landes schaffen, die ihn überleben.

Was steht auf dem Spiel? Kann Venezuela überleben?

Venezuela ist ein Beispiel, das die USA ausradieren möchten. Wenn so ein Beispiel existiert und immer stärker wird, können die Menschen in Brasilien, in Argentinien, in Ecuador, in Bolivien sagen: »Wenn die Venezolaner das machen können, schaffen wir das auch.« Deshalb pumpt Washington Millionen von Dollar in die stupide Opposition in Venezuela — eine Opposition, die unfähig ist, dem Volk eine andere Alternative zu bieten als das, was es vorher gegeben hat: eine korrupte, servile Oligarchie.
Eine der Schwächen der Bolivarianischen Revolution bislang war, dass sie aufgrund ihrer Belagerung zu Hause für den Rest Lateinamerikas nicht mehr getan hat. Ich hoffe, dass es nach dem Sieg beim Referendum vom 15.8. und bei den anschließenden Kommunalwahlen im September eine große Offensive in Richtung auf den Rest des Kontinents geben wird.
Das Modell der kubanischen Ärzte kann hier eine sehr gute Rolle spielen. In fünf Jahren werden Venezolaner aus Kuba als Ärzte zurückkehren. Sie können ihrem eigenen Land helfen und sie können in andere Länder gehen, und dort in den Elendsvierteln arbeiten. Vor fünfzig Jahren waren das kleine Dinge, heute ist so etwas eine große Sache.

Die privaten Medien spielen eine große Rolle in Venezuela. Wie kann ihre Desinformation bekämpft werden?

In Lateinamerika fehlen Kommunikationsmittel. Wir bräuchten hier einen Satellitenkanal wie Al Jazeera. Man könnte ihn »Al Bolivar« nennen, wenn man will. Ein solcher Sender müsste regelmäßig berichten — was die Rechten sagen, was die linken Bewegungen sagen, was die MST will, die Lula herausfordert usw. — und er müsste dies ganz unabhängig tun, ohne Verbindung zu irgendeinem Staat. Ein solcher Kanal könnte von großer Bedeutung für ganz Lateinamerika sein.

Wie wird die Strategie der USA und der Opposition bei einem Sieg Chávez‘ am 15.8. aussehen?

Es bleibt nur die Strategie, ihn durch einen Militärputsch zu stürzen. Doch das Militär scheint ihn zu unterstützen. Der letzte Putschversuch war für ihn auch eine Warnung: Man kann sich nicht bloß auf das Militär verlassen, ohne das Volk zu erziehen. Nach einem Sieg von Chávez im Referendum wird die Opposition sich spalten und völlig demoralisiert werden.

www.greenleft.org.au (Übersetzung: Hans-Günter Mull)

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