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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 13

Revolutionäre Linke in Frankreich

Wahlkonjunktur vorbei?

Bei den Europawahlen 1999 erreichte die gemeinsame Liste LCR—LO über 5% der Stimmen und den Einzug ins Europaparlament. Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 kamen drei revolutionäre Kandidaten in der ersten Runde zusammen auf 10%, der Kandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire, Olivier Besancenot, auf 4,2%. Bei den Europawahlen 2004 war das Ergebnis von 2,5% für die gemeinsame Kandidatur von LCR und Lutte Ouvrière eine herbe Enttäuschung. Das nachstehende Interview führte Manuel Kellner Anfang August mit François Duval, einem Leitungsmitglied der LCR (französischen Sektion der IV.Internationale).

Wie analysiert ihr das schlechte Ergebnis bei den Europawahlen?

Dieses Ergebnis ist für die LCR ein Misserfolg. Es unterstreicht noch einmal den Trend der Regionalwahlen vom März 2004. Er fällt auch mit europaweiten Tendenzen zusammen. Alle Regierungsparteien — außer denen, die gerade an die Regierung gekommen sind — wurden abgestraft. Davon hat in Frankreich die sozialdemokratische PS profitiert. Die abhängig Beschäftigten und Besitzlosen haben PS gewählt, um der bürgerlichen Rechten eine erneute Niederlage zu bereiten.
Wenn die PS nicht an der Regierung ist, wird sie trotz ihrer Anpassung an den Neoliberalismus (die auch in ihrer Zustimmung zur EU-Verfassung zum Ausdruck kommt) immer noch gewählt, um Opposition gegen den entfesselten Neoliberalismus auszudrücken. Das bedeutet keine Zustimmung zu ihrer Politik der PS. Der wahlpolitische Wiederaufschwung der PS setzt sich keineswegs in eine stärkere Verankerung dieser Partei unter den »einfachen Leuten« oder in verbesserten Beziehungen zu den sozialen Bewegungen um.
Die Verbündeten der PS, die vorher im Rahmen der »pluralen Linken« mit ihr zusammen regiert haben, haben ebenso wie die radikale Linke Stimmenanteile verloren. Sie konnten den Rückgang in Grenzen halten, aber sie sind schwächer geworden. Gegenüber den letzten Europawahlen 1999 haben die Grünen etwa 4 Prozentpunkte, die Französische Kommunistische Partei (PCF) hat 1,5 Prozentpunkte verloren. Diese Verluste zeigen ebenso wie die der radikalen Linken, dass sich der wahlpolitische Raum links von der PS verengt hat.
Doch auch die Wahlenthaltung, die mit fast 57% auf ein Rekordniveau gestiegen ist, hat der revolutionären Kandidatur geschadet. Sie ist Ausdruck der Krise der politischen Repräsentation. Soziale Ausgrenzung, Atomisierung der Individuen und die in Misskredit geratene Politik produzieren politische Ausgrenzung. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung in Sachen Europa politisch regelrecht enteignet worden ist. Wozu soll man ein Parlament wählen, das keine Macht hat, während die entscheidenden Entwicklungen sowieso nicht beeinflusst werden können? 75% der Lohnabhängigen und 78% der Jungwähler sind den Urnen ferngeblieben. Aber gerade in diesem Milieu findet sich das Gros der Wählerschaft der revolutionären Linken.

i>Nach dem Erfolg der revolutionären Linken beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 standen sich im zweiten Wahlgang in der Stichwahl der Gaullist Chirac und der Faschist Le Pen gegenüber. Hat diese Erfahrung bei den nachfolgenden Wahlen eine Rolle gespielt?

Ganz bestimmt, und zwar viel mehr, als wir gedacht haben. Das Herausfallen des PS-Kandidaten aus dem zweiten Wahlgang am 21.April 2002 war ein regelrechtes Trauma, das bis heute wirkt. Umso mehr haben auch junge Leute diesmal PS gewählt, ohne mit der Politik der PS einverstanden zu sein. Dieses Problem könnte leider durchaus bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen fortbestehen.
Hinzu kam für die Europawahlen auch die widersprüchliche Auswirkung der Kämpfe gegen die neoliberale Rentenreform vom Frühjahr 2003. Seit ungefähr zehn Jahren gibt es eine Welle von Mobilisierungen, die wachsenden Protest ausdrücken, aber ohne Erfolg oder gar in Niederlagen enden. Das lastet natürlich auf dem Selbstbewusstsein vieler tausend Lohnabhängiger. Auch das erhöht die Neigung, bei Wahlen doch wieder für das »kleinere Übel« zu stimmen.
Im Frühjahr 2004 kam die Niederlage im Kampf gegen die Reform der Krankenversicherung hinzu. Das hat bei vielen das Bedürfnis erzeugt, sich gegenüber der konservativ-liberalen Regierung bei den Wahlen durch eine Stimmabgabe für die PS zu revanchieren, weil sie nun einmal die größte Oppositionspartei ist. Darin äußert sich natürlich eine Schwäche der Revolutionäre, vor allem ihre zu geringe wahlpolitische und institutionelle Glaubwürdigkeit. Mehrere hunderttausend Wähler haben ihr Verhältnis zur radikalen Linken geändert, dies haben wir nicht vorausgesehen. Wir hatten zwar nicht die Illusion, die 10% von 2002 linear fortsetzen zu können, haben aber doch nicht damit gerechnet, so weit zurückzufallen.

i>Welche Debatte hat die enttäuschenden Wahlergebnisse in der radikalen Linken ausgelöst?

Auf dem Kongress der LCR im Oktober 2003 gab es zwei Minderheiten, die gegen die Orientierung der Mehrheit auftraten. Die eine (sie gewann 13% der Delegierten) meinte, die gemeinsame Liste mit LO sei richtig, sei aber zu sehr auf die Wahlen begeschränkt, was die Dynamik der Kandidatur behindere. Es gehe um eine dauerhafte umfassende Einheit der Revolutionäre, vor allem vermittelt über privilegierte Beziehungen mit LO.
Die zweite Minderheit (sie gewann 29%) sah den Fehler in der gemeinsamen Liste mit LO. Die LCR sei damit dem verengten, sektiererischen, arbeitertümelnden, den sozialen Bewegungen äußerlichen Tendenzen von LO aufgesessen. Teuer bezahlen müsse die LCR auch ihre — der langjährigen Politik von LO entsprechende — Weigerung, bei Stichwahlen zur Wahl der traditionellen Linken gegen die bürgerliche Rechte aufzurufen. Die LCR habe sich unnötig isoliert.
Die Mehrheit hält die Wahlallianz mit LO für richtig, die sie in den Rahmen des Kampfes für eine breitere neue, glaubwürdige, antikapitalistische Kraft der Linken stellt. Auch wenn LO selbst diese Orientierung nicht verfolgt, so dachten wir doch, durch das Wahlbündnis einen weiteren Schritt in diese Richtung tun zu können. Sind wir Opfer unbeeinflussbarer Faktoren geworden, oder haben wir Fehler gemacht? Die Diskussion darüber fängt erst an.
Der Verzicht auf das Bündnis mit LO hätte die Hinnahme der wahlpolitischen Zersplitterung der revolutionären Linken bedeutet. Das wäre den Revolutionären schlecht bekommen, und vor allem der LCR, die sich immer für diese Einheit eingesetzt hat. Ohne Einheit mit LO hätten wir noch mehr verloren.
Im Übrigen hätten wir uns ohne die gemeinsame Liste mit LO gar nicht überall aufstellen können. Es wäre dann auch wenig glaubwürdig, für die Einheit der antikapitalistischen Linken einzutreten. Dogmatismus und Sektierertum von LO sind gleichwohl ein Problem, und dass die LCR dafür einen politischen Preis zahlen würde, war uns klar…

Was sind heute die Perspektiven der LCR?

Wir müssen einen neuen Anlauf nehmen. Ermutigend sind die Ergebnisse unserer Finanzkampagne: in sechs Wochen gingen 230000 Euro Spendengelder ein. Wir sind nicht so isoliert, wie die Wahlergebnisse es glauben machen, und können mit einem breiten Milieu von Aktiven zusammen arbeiten. Neben der Kampagne für ein linkes, internationalistisch begründetes »Nein« zur EU-Verfassung werden wir nach der Sommerpause gegen die Offensive für eine Arbeitszeitverlängerung vorgehen müssen — dabei berufen sich die Unternehmer und die bürgerlichen Politiker natürlich auf das »deutsche Beispiel«.
In den Mobilisierungen werden wir uns wieder um die breite Einheit aller gewerkschaftlichen Kräfte und aller Kräfte der Linken bemühen und der PCF besondere Aufmerksamkeit widmen. Wir wollen dieser Partei nicht nur gemeinsames Handeln, sondern auch eine breite Debatte über Fragen der strategischen Orientierung vorschlagen: auf die PS oder auf die Schaffung einer breiten antikapitalistischen Kraft.
Zwar geht es nicht heute konkret um Regierungsbeteiligung, aber die politische Unabhängigkeit der Linken ist unverzichtbar, um in den gesellschaftlichen Kämpfe ein antikapitalistisches Programm vertreten zu können.

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