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Bei den Europawahlen sind über 60% der Stimmen in Tschechien für Parteien abgegeben worden, die sich durch eine
»euroskeptische« Haltung auszeichnen: nämlich die von Staatspräsident Vaclav Klaus geführte liberale ODS und die Kommunistische
Partei von Böhmen und Mähren (KSCM).
Die ODS vertritt die Meinung, die EU habe den Kommunismus dahingehen abgelöst, dass sie
die individuellen Freiheiten und die nationalen Rechte bedroht, weil »kollektiviert«; die KSCM widersetzt sich gleichermaßen den neoliberalen
»Reformen« aus Brüssel wie dem großdeutschen Einfluss in Tschechien.
Anders als Mitte der 90er Jahre gibt es heute in Tschechien eine klare »linke« Mehrheit,
zählt man die Sitze der Sozialdemokraten und der KSCM zusammen. Die Sozialdemokraten haben sich bislang allerdings immer geweigert, eine
Regierungskoalition mit der KSCM einzugehen. Diese Haltung ist aber zunehmend umstritten in der Partei.
Zdenek Jicinsky gehört zu den linken Sozialdemokraten, die die Auffassung vertreten, dass
eine Ignorierung der KSCM die Linke insgesamt schwächt. »Unsere Partei hat sich 1989 auf einer antikommunistischen Basis aufgebaut. Aber wenn wir
Glaubwürdigkeit gewinnen und unseren Einfluss stärken wollen, können wir auf dieser Basis nicht länger arbeiten. 1989 war der
Antikommunismus eine natürliche Reaktion der Mehrheit der tschechischen Gesellschaft auf das alte Regime. Die Rechten, die dann aufgetaucht sind, haben
sich seiner bedient, um ihre politische und ideologische Hegemonie zu errichten und mit extrem unpopulären Reformen die ›Transformation zum
entfesselten Kapitalismus‹ durchzusetzen.« Die Tschechen aber, meint Jicinsky, haben ihre Illusionen verloren; die Vorherrschaft des
Antikommunismus schwindet. »Mehr und mehr vergleichen sie heute die positiven und die negativen Seiten des alten und des neuen Regimes. Sie sehen, dass
nichts einfach schwarz oder weiß ist. Das alte Regime war nicht ›das Reich des Bösen‹, und das neue ist nicht ›die beste aller
Welten‹.«
»Für die Wähler sind die Kommunisten kein Schreckgespenst mehr«,
meint Petr Uhl, einer der bekanntesten Oppositionellen der 70er und 80er Jahre. »Viele Menschen interessieren sich für die Kritik, die die KSCM an der
antisozialen Politik der britischen Labour Party und der deutschen SPD formuliert, weil die tschechischen Sozialdemokraten versuchen, sie zu importieren; sie lehnen
auch die Unterstützung für Bushs Irakkrieg ab. Auch Nichtkommunisten sehen heute in der KSCM eine Alternative zu den Sozialdemokraten, weil sie
linker, sozialer, demokratischer sei.«
Die KSCM ist zur größten Protestpartei geworden. Die Rentner, die sie wählen,
treibt nicht nur Nostalgie für die »verlorenen Sicherheiten«, sondern eher die tagtäglichen Demütigungen, die ihnen eine zu geringe
Rente beschert.
Die Minderheit der Roma, von denen 90% erwerbslos sind, kämpft gegen ihre Ghettoisierung
und den krankhaften Rassismus der tschechischen Mehrheit und wählt die KSCM, weil sie im Parlament am konsequentesten gegen die Privatisierungen und
die Einschnitte in das System der sozialen Sicherheit gestimmt hat und staatliche Ausgaben für Gesundheit und Bildung und für die Bekämpfung
der Armut fordert.
In den 80er Jahren, wo Oppositionelle verfolgt und eingesperrt wurden, oder gezwungen waren
auszuwandern, lebten viele Menschen besser als heute.
In dem Maße aber, wie das Gespenst des Antikommunismus verblasst, wird es der KSCM schwer fallen, sich in die westeuropäische
antikapitalistische Linke zu integrieren. Die von ihr projizierten Schreckgespenster wie der deutsche Revanchismus, der Niedergang der öffentlichen Sicherheit
seit 1989 und die Abwehr der Immigration, die sie mit »Epidemien« und »Kriminalität« gleichsetzt, werden auf betretenes Schweigen
stoßen.
Solche Positionen haben noch Rückhalt in der tschechischen Gesellschaft. Wirtschaftlich und
gesellschaftlich fortschrittliche Positionen kombinieren sich hier häufig mit autoritären Positionen, was die individuellen Freiheiten betrifft.
Petr Uhl erklärt dies mit dem Erbe aus der totalitären Zeit: »In den letzten 15
Jahren hat es einen starken Wandel in unserem Wertesystem gegeben. Wir sind dabei, unsere frühere Akzeptanz der Unterordnung des Individuums unter den
Staat, die Partei oder irgendein Kollektiv, die ungleiche Position der Frauen, die autoritären und paternalistischen Beziehungen, die Einebnung der
Unterschiede, die Einheit um jeden Preis, die verbreitete Kultur der Geheimniskrämerei zu überwinden.«
Das ist eine tiefgreifender kultureller Wandel, der in anderen osteuropäischen Gesellschaften
ganz ähnlich läuft. Politisch wurde er in den 90er Jahren von der Sozialdemokratie und einigen kleineren Parteien der Mitte repräsentiert, die sich
auf den westlichen Liberalismus und die dissidente Tradition von Kulturschaffenden wie dem ehemaligen Staatspräsidenten Vaclav Havel beziehen. Das trennt
sie von den Liberalen um Klaus ebenso sehr wie von der KSCM, die sich beide bemühen, die »traditionellen Werte« hochzuhalten.
Die ODS ist nur wirtschaftsliberal, nicht im politischen und kulturellen Sinne. Die KSCM baut sich
auf wie die Résistance im letzten Krieg und theoretisiert eine autoritäre und intolerante Version des tschechischen Nationalismus. Nach der
Auflösung der tschechoslowakischen Föderation 1992 hat dieser Nationalismus noch zugenommen.
In den Augen von Petr Uhl ist der wirkliche Lakmustest für die KSCM »die Akzeptanz
des Multikulturalismus, d.h. der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Verschiedenheit«. Anders ausgedrückt: der Wille, die Roma und andere
Minderheiten zu integrieren. Dann stehe ihr der Weg nach Westen offen. Andernfalls werde sie den Weg der russischen KP gehen: in den Chauvinismus und
Antisemitismus.
Mark Johnson
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