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Schlägt man dieser Tage eine beliebige deutsche, britische oder US-amerikanische Wirtschaftszeitung auf, so wird man mit
ziemlicher Sicherheit mindestens einen Beitrag finden, der sich in der einen oder anderen Form mit dem Land der Mitte beschäftigt. China als
vielversprechender Markt, China als verlängerte Werkbank, als attraktiver Börsenplatz, als Motor der Weltwirtschaft, als Zeitbombe. China ist in, keine
Frage. Nicht, weil es eine launenhafte Mode wäre, sondern weil das Riesenland und mit ihm die Weltwirtschaft an einem Wendepunkt steht: Trotz immer noch
weit verbreiteter Armut, trotz der vielen hundert Millionen Bauern, die von der Industrialisierung bisher weitestgehend unberührt blieben, ist die Volksrepublik
auf dem besten Wege dahin, seinen angemessenen Platz im Weltsystem (wieder) einzunehmen und dieses damit gehörig umzukrempeln.
China boomt. Seit nunmehr 25 Jahren, sieht man von einigen kurzzeitigen Kriseneinbrüchen
ab. Derzeit hat die Regierung Schwierigkeiten, das Wirtschaftswachstum auf die angestrebten 7,8% zu beschränken, weil sich in Sektoren wie Stahlproduktion,
Bauwirtschaft, Automobilindustrie und anderen eine Überproduktionskrise anbahnt. 9,6% betrug das Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2004 aufs Jahr
umgerechnet, was in Beijing bereits als Erfolg der auf Abkühlung zielenden Politik gewertet wurde. In den vorhergehenden Quartalen hatte das Wachstum 9,9%
und 9,8% betragen. Seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen Ende der 70er Jahre hat Chinas Ökonomie Jahr für Jahr im Schnitt über 8% zugelegt.
Noch rasanter ist die Zunahme der Arbeitsproduktivität: Von 1995 bis 2002 nahm sie jährlich um 17% zu.
Die Grundlage dieses kometenhaften Aufstiegs ist daran gibt es wenig zu deuteln die
schrittweise Ausdehnung der Warenproduktion, wie Marxisten es nennen, oder der Marktwirtschaft, wie es im auch in China herrschenden Diskurs
genannt wird. Nach dem die Volksrepublik unter Führung Mao Zedongs drei Jahrzehnte mit einem kruden »Kriegskommunismus« experimentiert
hatte, der überwiegend auf Zwang, ideologischen Kampagnen und äußerst hierarchischen Rationierungssystemen beruhte und der
vor allem im »Großen Sprung nach vorn« mehreren Dutzend Millionen Menschen das Leben kostete, hatte Deng Xiaoping nach Maos Tod die
ländlichen Volkskommunen aufgelöst und schrittweise private Unternehmen zugelassen. Auf dem Land führte das innerhalb kürzester Zeit
zu erheblicher Produktivitätssteigerung, allerdings fallen die chinesischen Bauern seit Ende der 80er Jahre hinter der Entwicklung in den Städten
zurück. Nur in der Nähe zu den Boomregionen an der Küste profitiert auch die Landwirtschaft von der rasch wachsenden Kaufkraft der neureichen
Mittelschicht in den Metropolen.
Dort, in Zentren wie Shanghai, Beijing (Peking), Shenzhen vor den Toren Hongkongs oder
Guangzhou (Kanton) schießen die Wolkenkratzer und moderne Wohnblöcke wie Pilze nach einem Sommerregen aus dem Boden. In den umliegenden
Provinzen boomt der Autobahnbau und städtebauliche Schätze wie wertvolles, knappes Ackerland müssen im atemberaubenden Tempo
Bürohäusern und neuen Fabriken weichen. Das geht inzwischen schon so weit, dass Chinas Ernährung nicht mehr aus eigener Produktion gesichert
werden kann und die Preise für Lebensmittel auf dem Weltmarkt in nie gekannte Höhen klettern, wie internationale Hilfsagenturen unlängst
beklagten.
Die Nahrungsmittelpreise sind nur ein Beispiel von vielen, wie China beginnt, den Weltmarkt nachhaltig zu beeinflussen. Ein anderes ist das Erdöl, das sich
unter anderem durch die chinesische Nachfrage ebenfalls stark verteuert hat. China, bis Anfang der 90er Jahre Selbstversorger, ist inzwischen zu einem der wichtigsten
Erdölimporteure und nach den USA zum zweitgrößten Konsumenten geworden. Im Juli 2004 lagen die Rohölimporte um rund 40%
höher als noch vor einem Jahr. Erst kürzlich hat die Volksrepublik ihr Interesse an der Konkursmasse des russischen Erdölkonzerns Jukos
signalisiert. Über eine Erdölpipeline aus Sibirien wird bereits seit Jahren verhandelt, während sich eine solche für Erdgas aus Kasachstan
bereits im Bau befindet.
Erdöl ist auch einer der Gründe weshalb China seine traditionell guten Kontakte zu
vielen afrikanischen Staaten intensiver denn je pflegt. In Sudan ist man z.B. der wichtigste Abnehmer für das dort geförderte schwarze Gold, insgesamt
kommen von dort immerhin 6% der chinesischen Importe. Entsprechend nervös regiert man in Beijing auf die Interventionsgelüste westlicher Staaten.
Aber nicht nur der Erdölimport boomt. Die Volkswirtschaft des Landes der Mitte hat mit rund
1,16 Billionen Euro inzwischen eine Größe erreicht, die dazu führt, dass das fortgesetzt hohe Wachstum wie ein Import-Staubsauger wirkt. Chinas
Stahlwerke, Kupfer- und Aluminiumhütten sowie Fabriken aller Art können die Rohstoffe und Vorprodukte gar nicht so schnell importieren, wie sie
für den Export oder die zahllosen Infrastrukturprojekte verarbeitet werden. Für seine Nachbarn und auch für einige entferntere Staaten ist es daher
inzwischen zum wichtigsten Wachstumsmotor geworden.
Noch vor etwas mehr als einem Jahr herrschte in Südostasien vor allem Angst vor der
Konkurrenz chinesischer Produkte. Auch befürchtete man, China würde zu Ungunsten seiner Nachbarn zu viele ausländische Investitionen
anziehen. Doch inzwischen bekommen dortige Produzenten und Politiker glänzende Augen, wenn sie von den wachsenden Exporten nach China sprechen.
Auch Australien sowie einige afrikanisch und vor allem lateinamerikanische Staaten profitieren
erheblich von Chinas Aufschwung. So fußt Argentiniens rasche wenn auch brüchige Erholung nach dem großen Crash vom
Dezember 2001 vor allem auf Chinas Hunger nach Soja.
Mehr noch als der Pampastaat konnte Brasilien seinen Handel mit dem Land der Mitte ausbauen. 1999 hatte der Warenaustausch zwischen den beiden
schlummernden Großmächten 1,54 Milliarden US-Dollar umfaßt, 2003 waren es bereits 6,68 Milliarden US-Dollar (5,6 Milliarden Euro nach
aktuellem Kurs). Der größere Teil des Wachstums ging auf das Konto der brasilianischen Exporte, die im vergangenen Jahr 4,5 Milliarden US-Dollar
ausmachten. Damit ist Brasilien Chinas wichtigster Handelspartner in Lateinamerika.
Für Brasília steht Beijing immerhin bereits auf Platz Vier der Liste der
größten Wirtschaftspartner. Derzeiten machen Sojabohnen 30% und Eisenerz 10% der brasilianischen Exporte in das Land der großen Mauer aus,
womit die Exportstruktur weniger einseitig ist als die argentinische.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen hat Brasiliens Präsident Lula da Silva begonnen, an einer
Allianz zu schmieden, die neben China auch Indien, Südafrika und Russland umfassen soll und die dem reichen Norden im Rahmen der WTO-Verhandlungen
bereits einige harte Nüsse zu knacken gegeben hat.
Eine sicherlich auch im Rahmen der gegebenen kapitalistischen Verhältnisse spannende
Entwicklung, die langfristig die Gewichte in der internationalen Politik verschieben könnte. Aber hier soll nicht das hohe Lied auf die kapitalistische
Entwicklung gesungen werden. Natürlich fordert sie ihren Preis und geht mit Raubbau an Natur und Menschen einher.
Chinas Verkehrspolitik z.B. folgt ganz der Logik der großen Vorbilder in den USA und
Westeuropa. Zwar wird das Eisenbahnnetz noch weiter ausgebaut und modernisiert, zugleich werden aber vor allem die Küstenprovinzen mit einem Netz von
Autobahnen überzogen. In Städten wie Guangzhou oder Shanghai wird alles auf die kleine Minderheit der Autofahrer ausgerichtet, in wahren Betonorgien
Straßen zweistöckig gebaut und der in vielen romantischen Chinabildern noch vorherrschende Radverkehr in die Nebenstraßen verbannt. Die
Folgen sind die üblichen: Die Städte ersticken in Lärm, Dauerstaus und Smog.
Hinzu kommen verschmutzte Flüsse, in vielen Region zunehmende Knappheit sauberen
Trinkwassers, abgeholzte Wälder am Oberlauf des Yangtses und seiner Zubringer (trotz Verboten der Zentralregierung), die mitverantwortlich für die
verheerenden Überschwemmungen der letzten Jahre sind.
Auch Arbeiter und Bauern zahlen mit ihren Knochen für den Erfolg. Nicht zu letzt in den Kohlenminen sind tödliche Arbeitsunfälle an der
Tagesordnung, aber auch in vielen Fabriken der Kleidungs-, Sport- und Spielzeugindustrie, in denen junge Arbeiterinnen oft zehn Stunden und mehr am Tag arbeiten,
nimmt man es mit den Sicherheitsbestimmungen selten genau.
Wer seine Gesundheit unter den harten Arbeitsbedingungen ruiniert, hat Pech gehabt: Mit der
Einführung der Marktwirtschaft wurde auch die kostenlose Gesundheitsversorgung abgeschafft. Nur die alte Arbeiterklasse in den großen staatseigenen
Betrieben ist noch besser gestellt, aber ihre Zahl nimmt schnell ab. Von 1995 bis 2002 gingen in Chinas Fabriken 15 Millionen Arbeitsplätze verloren. Viele
staatseigene Betriebe, die unter Marktbedingungen nicht konkurrenzfähig sind, wurden geschlossen oder privatisiert.
Niu Wenyuan, der an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften die Abteilung für
Strategien der nachhaltigen Entwicklung leitet, geht davon aus, dass die offizielle mittlere Wachstumsrate* von 8,7% für die Jahre 1985 bis 2000 auf 6,5%
reduziert werden muss, wenn man die sozialen und ökologischen Folgen der Entwicklung rausrechnen würde.
»Ein großer Teil von Chinas Wirtschaftswachstum beruht auf der Ausbeutung von
Ressourcen die unseren Kindern gehören sollten«, meinte Niu gegenüber dem englischsprachigen Internetmagazin China Economic Net im Vorfeld
der diesjährigen Tagung des Nationalen Volkskongresses im Frühjahr, auf dem das Problem eine gewisse Aufmerksamkeit erzielte.
Einflussreiche Wissenschaftler schlugen vor, künftig auch ökologische und soziale
Faktoren in die Statistik einzubeziehen, was in einem Land, in dem der Wachstumsindikator des Bruttoinlandsprodukts zum alleinigen Maßstab der Politik
geworden zu sein scheint, von einiger Tragweite wäre. Allerdings ist bisher kein sichtbares Ergebnis dieser Diskussionen auszumachen. Noch gilt Nius
Feststellung, nach der in China die ökologischen und sozialen Kosten für einen Dollar Gewinn vier- bis elfmal so hoch sind wie in einem Industrieland.
Hinzu kommen Konsequenzen für die globale Umwelt. Chinas wachsender Energiehunger treibt nicht nur die Weltmarktpreise für Rohöl in
Rekordhöhen. In China sind einige hundert Millionen Menschen auf dem besten Wege dahin, den zerstörerischen westlichen Lebensstil zu kopieren. Der
Verbrauch an fossilen Energieträgern wie Erdöl und Kohle, der damit verbunden ist, wird in den nächsten Jahrzehnten erheblich zum
Treibhausproblem beitragen. Wahrscheinlich wird die Volksrepublik diesbezüglich schon bald zum bevorzugten Prügelknaben westlicher Politiker
werden.
Dabei sollte man aber darauf verweisen, dass der Pro-Kopf-Ausstoß an Treibhausgasen, die bei
der Verbrennung von Erdöl- und Kohleprodukten entstehen, in China noch immer wesentlich unter dem Niveau der Industriestaaten liegt. Schließlich
kann man von 1,3 Milliarden Chinesen nicht verlangen, dass sie weniger Schadstoffe produzieren, als 82 Millionen Deutsche. Vorbei sind allerdings die Zeiten, in
denen Chinesen vom Treibhausgas Kohlendioxid weniger als jene zwei Tonnen pro Kopf und Jahr, die das globale Klimasystem problemlos verkraften kann, in die
Luft abließen.
Viele der sozialen und ökologischen Problem wären sicher in einer demokratisch
organisierten Gesellschaft, die ihre Produktion nicht über Markt und Warenbeziehungen organisiert, in der stattdessen der Gebrauchswert der Güter im
Mittelpunkt stünde, d.h. die nachdenkt wann und welche Mittel eingesetzt werden müssen, anstatt alles dem Profitstreben Einzelner zu überlassen,
zu vermeiden gewesen. Aber die Frage, ob das überhaupt auf dem geringen Entwicklungsstand der Produktionsmittel, auf dem sich China 1949 nach Jahrzehnten
des Bürgerkriegs und des Kampfes gegen die japanischen Eroberer befand, möglich gewesen wäre, hat sich inzwischen erledigt. Nicht nur
für China, sondern auch für den Rest des Planeten: Mit der Öffnung und wirtschaftlichen Integration Chinas ist der kapitalistische Weltmarkt bis in
den letzten Winkel des Globus ausgedehnt.
Der anhaltend rasante Aufstieg Chinas zeigt allerdings, dass es verfehlt wäre, dies als Sieg US-
amerikanischer oder westeuropäischer Konzerne zu interpretieren, mögen sie auch noch so viele Milliarden nach China pumpen. Die chinesische
Führung verfolgt eine auf nationale Entwicklung ausgerichtete Politik, die das Land nicht einfach zur verlängerten Werkbank des Westens macht, sondern
gezielt Infrastruktur, technisches Knowhow, ökonomische Kompetenz und neue Konzerne aufbaut. Davon zeugt nicht nur die chinesische Atombombe und ein
ehrgeiziges Raumfahrtprogramm, sondern auch ein stetig wachsender Strom chinesischen Kapitalexports, mit dem Überseemärkte und Rohstoffquellen
erschlossen werden sollen.
Bereits jetzt ist vor allem in Chinas Nachbarländern der wachsende Einfluss der chinesischen
Wirtschaft und in ihrem Gefolge auch der chinesischen Sprache zu spüren und der chinesische Yuan beginnt zu einer regionalen Währung zu werden.
Alte Ressentiments und die enormen demografischen Ungleichgewichte gehören allerdings zu den vielen Stolpersteinen, die für die Volksrepublik auf
dem Weg zu ihrem angestammten Platz im Zentrum der Welt liegen.
Wolfgang Pomrehn
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