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Der israelische Linkssozialist und Leiter des Jerusalemer Alternativen Informationszentrums Michael Warschawski ist einer
jener wenigen, die »in ihrem Land und gegen es, aktiv, radikal, unermüdlich und unverdrossen für das bessere Leben aller
kämpfen«, wie es Moshe Zuckermann im Vorwort zu An der Grenze zutreffend beschreibt. Anders jedoch als ein Uri Avnery ist Warschawski selbst
bei den deutschen Linken nur wenig bekannt und noch weniger gelesen. Einzig in der SoZ konnte man in den letzten Jahren regelmäßig
Beiträge von ihm lesen.
Die Hamburger Edition Nautilus hat dankenswerterweise die gestiegene Nachfrage nach Israel-
und Nahostliteratur dazu benutzt, kurz nacheinander zwei der vielen Bücher Warschawskis auf deutsch herauszubringen. In An der Grenze arbeitet
Warschawski Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts in autobiografischer Form auf. Mit Höllentempo liest sich dagegen wie ein
ausführliches aktualisierendes Nachwort zu den laufenden Entwicklungen.
Auch Warschawski betont, dass die Existenz des Staates Israel auf dem Spiel steht. Anders
jedoch als rechte und linke Apologeten des israelischen Regimes, gehört er zu jenen, die nicht müde werden zu betonen, dass diese Infragestellung
weniger von »außen« kommt, von den um ihre nationale Befreiung kämpfenden Palästinensern, als von »innen«.
Für Warschawski sind es die eigenen Grundlagen des zionistischen Projekts und vor allem die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 30 Jahre, die
die israelische Gesellschaft vor die Aufgabe nachhaltiger Veränderungen stellt.
In beeindruckender Unaufdringlichkeit beschreibt er in An der Grenze die gesellschaftlichen
und politischen Wandlungen der israelischen Gesellschaft seit der großen Wende von 1967, als der israelisch-arabische Krieg zu jener israelischen
Besetzung der Westbank, des Gazastreifens, des Golan und des Sinais führte, die noch heute im Zentrum des Konflikts steht. Der die Gesellschaft bis
dahin tragende Arbeiterzionismus wurde in der Folge unter zunehmendem Rückgriff auf die orthodox-jüdische Mythologie national-chauvinistisch
aufgeladen.
Davon beflügelt, aber an sich unabhängig, entwickelte sich spätestens seit
Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre ein innerisraelischer Block von orthodox-religiösen Juden sowie Juden arabischer und orientalischer Kultur, die vom
europäisch geprägten Arbeiterzionismus verächtlich marginalisiert und diskriminiert wurden. Unter den Bedingungen des sich auch in Israel
durchsetzenden Neoliberalismus wurden schließlich nicht nur die spezifischen Grundlagen der israelischen Gesellschaft zerstört. Auf ihren
Trümmern gedieh auch dieser neue gesellschaftspolitische Block, dem der neoliberal gewendete und in den Aporien des zionistischen Projektes gefangene
Arbeiterzionismus nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Überzeugend und erhellend ist in An der Grenze vor allem diese Analyse einer
»Dialektik« von Zentrum und Peripherie, von altem Zionismus und neuem Judentum innerhalb Israels. Und was Warschawskis Analyse vor anderen
linken auszeichnet, ist, dass er die sich aufdrängende Frage politischer Parteinahme nicht schwarz oder weiß löst, sich nicht auf die eine oder
andere Seite »dieser beiden tödlichen Alternativen« schlägt. Einmal mehr versucht er den dritten Weg, »jenseits von Judäa
und Israel«, wie er sinnbildlich sagt, und »gegen diejenigen, die aus Israel den Vorposten des neoliberalen Kreuzzugs unter den Völkern des
Nahen Ostens machen wollen, und gegen diejenigen, die es in ein bewaffnetes Ghetto unter der Führung der Rabbiner eines neuen Messianismus sperren
wollen, in dem sich Fundamentalismus und Nationalismus gegenseitig verstärken«.
In Mit Höllentempo zeigt er nun auf, wie sich die israelische Gesellschaft nach der neuen
historischen »Scheidelinie« des 5.November 1995, nach dem Attentat auf Ministerpräsident Rabin, immer schneller in »eine
chauvinistische religiöse Gemeinschaft« verwandelt, »die sich in einen tödlichen Krieg gestürzt hat«. Mit
»Tränen der Wut« beschreibt er, wie sich der alte Kolonialismus gegenüber den Palästinensern nach dem Scheitern des Oslo-
Friedensprozesses und dem Ausbruch der zweiten Intifada in einen politisch-militärischen Feldzug gegen die gesamte palästinensische Gesellschaft
gewandelt hat und wie die dadurch bedingte »systematische Dehumanisierung des Kolonisierten unvermeidlich zur Dehumanisierung des Kolonisators und
seiner Gesellschaft« führt. Gewaltförmigkeit beherrscht mittlerweile auch den zivilen häuslichen wie öffentlichen Alltag und
verändert die geltende Rechtsprechung, die Militärs beherrschen die politische Arena und den öffentlichen Diskurs. Mit »totale[r]
Hemmungslosigkeit«, »grenzenlose[r] Brutalität« und in einer »Mischung aus Paranoia und Nuklearwaffen« soll die pax
israeliana einer an sich »schwer kranken« Gesellschaft durchgesetzt werden.
Schon in An der Grenze war Warschawski nicht gerade optimistisch, in Mit Höllentempo
verdunkelt sich jedoch abermals die Hoffnung auf Umkehr. Doch »nichts ist unausweichlich« und darauf setzen Warschawski und die letzten
verbliebenen Dissidenten Israels. »In der Solidarität mit den Palästinensern«, schreibt er in An der Grenze, »bestätigt sich
meine jüdisch-israelische Identität«. Wer verstehen möchte, welch analytische Tiefe und welch politisch radikaler Entwurf mit einem
solch scheinbar leicht dahingesagten, nichtsdestotrotz provozierenden Satz verbunden ist, dem seien diese beiden bewegenden und erhellenden Bücher
empfohlen.
Christoph Jünke
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