SoZSozialistische Zeitung |
Als erster Spitzenpolitiker versuchte Anfang September NRW-Ministerpräsident Steinbrück,
altbundesdeutsche Volksseelen gegen den Osten zum Kochen zu bringen. Vor dem Bundeskabinett wetterte er, westdeutsche und EU-
Strukturhilfegelder gingen überproportional ins ehemalige DDR-Gebiet; das müsse sich u.a. zugunsten seines Landes ändern,
das z.T. ebenfalls Not leide. Bayerns CSU-Ministerpräsident klatschte Beifall.
Tage zuvor hatte der PDS-Stratege Gysi die Befürchtung ausgesprochen,
es könnte in den Westländern zu Anti-Ost-Protesten kommen. Viele dort hätten »schlicht die Schnauze voll«, weil
»so viel Geld« in die Ex-DDR fließe, gleichzeitig aber die Ostdeutschen gegen den Sozialabbau demonstrierten und PDS
wählten.
Eine Emnid-Umfrage ergab, die Mehrheit der Ossis nehme »zu wenig
Rücksicht auf die Sorgen und Nöte der Westdeutschen«, jeder dritte Altbundesbürger halte sie für undankbar. Zwar
gab der frühere SPD-Geschäftsführer Glotz zu bedenken: »Undankbar ist das falsche Wort. Der Anschluss der DDR war
ja kein Akt des Mitleids.«
Doch schossen andere sich auf die »bösen und faulen«
Ostdeutschen ein und verlangten eine generelle Überprüfung der Ostförderung. Forsa zufolge lieben einander die Deutschen so,
dass sich 21% die Mauer zurückwünschen jeder vierte im Westen und jeder achte im Osten.
Anfang April hatte der Spiegel, einst »Sturmgeschütz der
Demokratie«, jetzt Schlachtschiff des erneuerten Sozialdarwinismus, das Signal zur verstärkten Kolonialisierung des Ostens gegeben.
Unter dem Titel »1250 Milliarden Euro Wofür? Wie aus dem Aufbau Ost der Absturz West wurde« behauptete er, die
Ossis hätten zu hohe Sozialleistungen eingefordert, Großprojekte in den Sand gesetzt (taten das nicht eher westliche Projektoren?)
und so zwei Drittel der heutigen BRD-Wachstumsschwäche verursacht. Daher müsse der Osten in eine billige
»Sonderwirtschaftszone« umgewandelt werden.
Faktisch stachelte das Blatt zur Frontbildung dies- und jenseits der Elbe-Werra-
Linie an, damit das asozialste Abbauprogramm deutscher Geschichte leichter durchgesetzt werden könne. Auch der Ausspruch des vom
Dritte-Welt-Würger IWF gekommenen Herrn Köhler, dass es »überall in der Republik große Unterschiede in den
Lebensverhältnissen« gibt und geben wird, gilt vorwiegend dem innerdeutschen West-Ost-Gefälle.
Sahnt der Osten tatsächlich beim Westen ab? Walter Friedrich, einst Leiter des DDR-Instituts für Jugendforschung, hat in einer auf
Basis soziologischer Studien verfassten Arbeit nachgewiesen, dass besagtes Gefälle nicht gottgewollt, sondern durch altbundesdeutsche
Kapital- und Staatsinstanzen verursacht worden ist.
Zusammen mit der vom damaligen Bonner Staatssekretär Köhler mit
vorbereiteten Währungsunion vom 1.7.90 wurde demnach als Beginn der Ostkolonialisierung die Eroberung des DDR-Binnenmarkts durch
BRD-Handelsketten vollbracht. Supermärkte, Versandhäuser, Banken, Versicherungen und Industriekonzerne des Westens sicherten
sich einen bis heute dauernden Gewinnschub von jährlich 7% und errichteten zulasten des Ostens Hunderttausende neue
Westarbeitsplätze. Nach vollzogenem DDR-Anschluss gingen den Ossis mehr als 400000 Immobilien im Wert von 50100 Milliarden
Mark durch Rückübertragung an westdeutsche »Alteigentümer« verloren, sackte der BRD-Staat
Vermögenswerte der Nationalen Volksarmee von 200 Milliarden Mark ein.
Das westdeutsche Kapital erzielte den größten Reibach, indem es
sich mit Hilfe der Treuhandanstalt (THA) auf Kosten der bisherigen DDR-Bürger den entscheidenden Teil des sog. Volkseigentums
einverleibte. Zu diesem gehörten 4,2 Millionen Hektar Forst- und landwirtschaftliche Nutzfläche sowie 15000 Staatsbetriebe. Deren
Wert betrug nach THA-Schätzung 600 Milliarden Mark.
Unter Birgit Breuel gelang es der Anstalt, alles für 73 Milliarden
loszuschlagen und zudem noch 337 Milliarden Mark Schulden aufzuhäufen. Das Rezept zu diesem »Erfolg« waren
Verkäufe zu Niedrigpreisen ab 1 Mark an altbundesdeutsche Großkonzerne und Geschäftemacher einerseits, Übernahme
der Kosten für ökologische Sanierungen, Tilgung von Altkrediten usw. durch die THA andererseits.
Soweit es nicht der Zerstörung anheim fiel, wurde dieses Eigentum zu
85% westdeutschen, zu 10% ausländischen und nur zu 5% ostdeutschen Interessenten zuteil. Die Treuhand, in erster Linie ihre Chefetage,
fasste für ihren Einsatz beim größten Raubzug des deutschen Imperialismus seit dem Zweiten Weltkrieg 38 Milliarden Mark ab.
»Ich kenne kein Volk auf Erden, das so enteignet worden ist«, konstatierte Egon Bahr.
Diesen Tatsachen gegenüber pocht der Spiegel in seinem April-Titel
darauf, dass der »Aufbau Ost« den Westen angeblich 1,25 Billionen Euro gekostet habe. Verschwiegen wird: Ein
»Aufbau« großen Stils wurde allein deshalb notwendig, weil die erbeutete DDR-Wirtschaft gnadenlos geplündert und
zerstört worden war, und kam nur ansatzweise zustande. Die Spiegel-Rechnung ist faul.
Fast die Hälfte der aufgewandten Mittel, so Friedrich, kam keiner
Wirtschaftsförderung zugute. Es waren vielmehr Sozialausgaben, die ostdeutsche Beschäftigte vordem selbst finanziert hatten. Etwa
ein Drittel der Zahlungen ging an staatliche Institutionen aller Ebenen usw. Die 9% tatsächlich zur Wirtschaftsstimulierung bestimmten Mittel
nutzten überwiegend westdeutsche Unternehmen. Allerdings fällt die Mär vom Auspressen des Westens durch den Osten nur
für den wie ein Kartenhaus zusammen, der die in Westmedien sorgsam verschwiegenen Fakten kennt.
Auf die Frage nach den Ursachen dafür, dass auf ehemaligem DDR-Gebiet statt blühender Landschaften ein Mezzogiorno
entstand, räumt Altkanzler Kohl neuerdings ein: »Es gab auch im Westen in führenden Industriepositionen Leute, die kein
Interesse daran hatten, dass sich die Betriebe in der DDR entwickeln«; nur die neu hinzukommenden Konsumenten hätten sie
interessiert.
Porsche-Chef Wiedeking bestätigte, erst seien den Menschen Hoffnungen
auf ein baldiges Wohlstandsniveau wie im Westen gemacht, dann ganze Industriezweige zerstört worden, »die man bei
sorgfältigerem Vorgehen hätte erhalten können. Das vergessen die Ostdeutschen so schnell nicht.«
Den noch Beschäftigten im Osten wird jeden Monat aufs Neue ihre
angebliche Minderwertigkeit vor Augen geführt. Noch immer erhalten sie ein Durchschnittseinkommen von 80% des westdeutschen,
beträgt ihre jährliche Arbeitszeit fast drei Wochen mehr. Selbst bei Hartz IV gibt es einen Unterschied zu ihren Ungunsten: Bei
gleichen Lebenshaltungskosten bekommen sie nur 331 statt 345 Euro. Recht geschieht ihnen: Warum gehörten sie auch jahrzehntelang
einem Staat an, in dem das Großkapital und Bonns Politkoryphäen nichts zu sagen hatten?
Als Folge neoliberalen Großangriffs auf die Restbestände des einst
erkämpften Sozialstaats hat sich zusammen mit den Widersprüchen zwischen Klassen und Schichten, Herrschenden und Volk auch
der innerdeutsche Ost-West-Gegensatz zugespitzt. Anzeichen sind die verheerenden Wahlniederlagen sog. Volksparteien bei unerwartet
großen Erfolgen der PDS einerseits, von Neonaziparteien andererseits, und der enorme Anstieg der Nichtwählerzahl.
PDS-Chef Bisky hat mit seiner Diagnose: »Es wird keine innere Einheit
geben, wenn das so weitergeht, für unsere Generation wird das nichts mehr«, grundsätzlich Recht. Die Linke in Ost und West
aber tut gut daran, weder um irgendwelcher »reinen Lehren« willen den West-Ost-Gegensatz innerhalb der BRD und das
Zurückbleiben »westlichen« Bewusstseins dem »östlichen« gegenüber in punkto Gefahrenerkenntnis
und Kampfbereitschaft klein zu reden, noch von anderen vorhandenen Widersprüchen abzusehen, unter denen der Klassenwiderspruch
weiter erstrangig ist.
Vorstellungen über einen möglichen Wiederaufbau der DDR-
Grenzanlagen oder gar der Mauer um Westberlin sind absurd. Nach dem, was geschah so der Zerstörung von Staat, Wirtschaft,
Wissenschaft und Kultur der DDR ist eine Rückkehr zur Zeit vor 1990 unmöglich. Die Ost-West-Mauer in den Köpfen
jedoch wird längere Zeit fortbestehen. Charakteristisch für sie ist das Faktum, dass an Protestdemonstrationen gegen Hartz IV und die
Agenda 2010 ganz überwiegend nur ostdeutsche Bürger teilnahmen. Bei doppelt so hoher Arbeitslosenquote und weit geringeren
materiellen Rücklagen sind sie wesentlich härter dran als der Durchschnitt ihrer westdeutschen »Brüder und
Schwestern«.
Zugleich haben sie die zum Sturz eines autoritären Regimes
führende Herbstrevolution 1989 in der DDR miterlebt und nicht vergessen. Die nun gesamtdeutsche Linke muss bemüht sein, neben
traditionellen Verwerfungen und Zwistigkeiten die »Mauer in den Köpfen« weitmöglichst abzutragen. Sie braucht dazu
sowohl klares, dialektisches Denken, als auch Toleranz gegenüber unterschiedlichen Standpunkten im eigenen Lager. Kommt dergleichen
nicht zustande, wird wieder einmal in der Geschichte die heute neoliberale Gegenseite erfolgreich sein. Das aber würde uns
teurer denn je seit 1945 zu stehen kommen.
Manfred Behrend
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