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Es ist schon merkwürdig: Eine Partei verliert bei allen laufenden Wahlen weiter an Stimmen, aber ihre
Führung gerät unterdessen in beste Stimmung, in Siegerlaune. Der Grund dafür liegt nicht nur in dem erleichternden
Gefühl, es hätte für die Sozialdemokratie ja noch schlimmer kommen können. Auch nicht nur in der Tatsache, dass die
konkurrierende »Volkspartei« größere Verluste als die SPD hinnehmen musste und in Binnenstreitereien geraten ist. Mehr
noch wirkt sich aus, dass Schröder, Müntefering, Benneter und ihr Gefolge allmählich verstanden haben: Je mehr
Wahlbürger sich aus der Beteiligung am sog. Urnengang zurückziehen, desto leichter ist im Parteienkartell der politische
Geschäftsbetrieb zu bewältigen.
Und dabei ist die SPD in einer durchaus günstigen Position. Sie kann sich
einstweilen zumindest auf der Bundesebene der grünen Partei als Koalitionspartnerin sicher sein, und die sammelt bei den
Besserverdienenden (und denen, die Besserverdienende zu werden hoffen) neue Stimmen ein, was umso mehr zu Buche schlägt, je
weniger Bundesbürger sich überhaupt an Wahlen beteiligen. Die SPD selbst verliert zwar an Akzeptanz bei denjenigen, die den
Abbruch des Sozialstaats partout nicht zu schätzen wissen, aber sie entledigt sich damit auch eines für das Parteienmanagements
störenden Potenzials.
Andererseits kann sie auf den »Kleineres-Übel«-Effekt hoffen:
Viele mit der rot-grünen Regierungspolitik unzufriedene Arbeitnehmer werden, so kalkuliert die SPD-Zentrale, bei der nächsten
Bundestagswahl doch wieder (leise mit den Zähnen knirschend) für Gerhard Schröder stimmen, weil sie befürchten, dass
die CDU/CSU/FDP die Interessen des großen Kapitals noch brutaler durchsetzen würden. Die Gewerkschaftsführungen, so wird
erwartet, leisten bei der Operation »Kleineres Übel« Hilfe, und zudem lassen sich symbolische Zugeständnisse an die
»soziale Ausgewogenheit« machen; Vorschläge für eine Bürgerversicherung etwa.
Die CDU/CSU kann bei dieser Taktik nicht mithalten. Auch wenn Unionspolitiker
wie Stoiber oder Rüttgers die Sozialverträglichkeit ihrer Konzepte dem Publikum gern einreden möchten, muss sich die Union
als Alternative zur SPD darstellen, ihren Marktradikalismus also aufscheinen lassen. Außerdem ist sie derzeit, wie alle wissen, auf die FDP
koalitionär angewiesen, und im Hinblick auf die Westerwelle-Partei sind, was soziale Neigungen angeht, Irrtümer ausgeschlossen.
Eine Zeitlang sah es so aus, als werde die Union, nachdem die rot-grüne
Politik die Pionierarbeiten beim Angriff auf den Sozialstaat geleistet hat, den Bundesregierungsbetrieb bei nächster Gelegenheit
übernehmen. Das muss aber nicht so laufen. Vielleicht halten es auch die wirtschaftlichen Machteliten in der Bundesrepublik für
nützlicher, wenn die SPD mitsamt den Grünen in Berlin weiter ihr Werk verrichtet und die Union ihre Scheinopposition fortsetzt, die
dazu dient, die SPD-Führung in ihrem »Reform«-Eifer anzutreiben. Diese Konstellation vermeidet Reibungsverluste bei der
Umstellung vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat. Die Expansion von Armut erzeugt weniger Widerstand, wenn sie sich unter einer
sozialdemokratisch geführten Regierung ereignet.
Zweifellos bedeutet dies den Untergang der Sozialdemokratie in ihrer
historischen Gestalt. Aber was macht das schon, wenn SPD-Politiker weiter regieren können? Die ganze Rechnung geht auf, wenn sich
und dahin geht der derzeitige Trend die Mehrheit in den unteren sozialen Klassen vom politischen Leben verabschiedet. Die
Politikprofis im Parteienkartell kommen gut damit zurecht, wenn immer mehr Menschen von ihrer Stimme bei Wahlen keinen Gebrauch machen
und sich auch sonst politisch nicht zu Wort melden. Die Anzahl der Mandate und der Politikerjobs wird dadurch ja nicht geringer. Vermindert aber
wird das Risiko, das ein demokratisches politisches System für die ökonomisch herrschenden Interessen enthält.
Eine für den Kapitalismus ideale Lösung, die da unter
maßgeblicher Hilfe der SPD angebahnt wird: die Demokratie als Staatsform, die nicht weiter stört.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
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