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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 5

Karl Heinz Roth über neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus

›Der National-Mythos ist zerstört‹

Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen den deutschen Nationalsozialismus versprechen die bekannten linken Historiker Karl Heinz Roth und Angelika Ebbinghaus in ihrem neuen, soeben im Hamburger VSA-Verlag erschienenen Buch Rote Kapellen — Kreisauer Kreise — Schwarze Kapellen. Für die SoZ sprach Christoph Jünke mit Karl Heinz Roth über ihre Erkenntnisse und deren Relevanz für die heutige Zeit.

In der umfangreichen medialen Debatte zum Hitler-Film Der Untergang spielte ein Argument derjenigen, die den Film loben, eine große Rolle: Das Argument, dass ein solcher Film zu einem verstärkten öffentlichen Interesse an Fragen der NS-Geschichte führt. Angelika Ebbinghaus und du habt soeben einen Band herausgebracht, in dem es um den vielfältigen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geht. Habt ihr ein solches verstärktes öffentliches Interesse an eurer Arbeit und eurem Band schon festgestellt?
Eigentlich nicht. Es gab bei den verschiedenen Diskussionen immer wieder Hinweise auf diesen Film, aber die kamen zumeist von Leuten, die sich schon lange mit der NS-Geschichte auseinandergesetzt haben und keineswegs repräsentativ für die Menschen wären. Wir haben sehr viel stärker den Eindruck, dass dieser Film die ganzen Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung sehr stark personalisiert und damit zu einer Regression führt, die letztlich sehr kontraproduktiv ist.
Die Linken sehen im Allgemeinen natürlich völlig zu Recht restaurative Tendenzen, die hinter dieser medialen Verarbeitung stehen und, mit Knopp und Co., schon eine längere Tradition haben. Auch diejenigen, die historisch mehr oder weniger professionell arbeiten, sehen dies ähnlich. Ein verstärktes Interesse haben wir bisher nicht feststellen können.

Euer neues Buch behandelt die breite Palette des politischen und »unpolitischen« Widerstand gegen den NS. Und ihr betont, dass es sich dabei um neue Forschungserkenntnisse und neue Sichtweisen auf diesen Widerstand handelt. Was ist dabei neu?
Wir, d.h. Ludwig Eiber, Stefan Roloff, Angelika Ebbinghaus und ich, haben uns in unseren Beiträgen auf drei Aspekte konzentriert. Das eine ist der Widerstand von unten, das zweite eine Neubewertung der sog. Roten Kapelle und das dritte eine sehr breite Sichtweise auf den bürgerlichen Widerstand.
Ludwig Eiber fasst in seinem Beitrag, dies zum ersten Aspekt, Forschungsergebnisse zusammen, die im Wesentlichen erst in den 90er Jahren entstanden sind. Sie sind für uns besonders spannend gewesen, weil wir uns selbst ja vor dreißig Jahren in unserem Werk Die andere Arbeiterbewegung mit diesem Widerstand auseinandergesetzt haben und sehr viele offene Fragen hatten. Diese Fragen sind durch die neueren Forschungen zu einem erheblichen Teil sehr konstruktiv beantwortet worden.
Schon in den 70er Jahren war uns zwar klar, dass der Arbeiterwiderstand nach der Zerstörung der politischen Arbeiterorganisationen der Linken 1937/ 38 nicht verschwunden ist, sondern sich diffus ausgebreitet und diffus überlebt hat. Nicht klar dagegen war, dass er sich auch sehr stark, was eigentlich selbstverständlich ist, in die Armee, d.h. die Wehrmacht verlagert hat. Der Widerstand der einfachen Soldaten, von Hunderttausenden Deserteuren, bekommt so eine ganz neue Qualität. Er war zu einem erheblichen Teil informell strukturiert, aber er hatte gegen Ende des Krieges auch organisatorische Momente entwickelt, bspw. im Umfeld des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD). Das war uns bisher nicht so klar.
Hinzu kommt die Diffusion in andere Spektren, in den Jugendwiderstand, den Frauenwiderstand, den Widerstand von verfolgten und untergetauchten Juden, um nur einige Beispiele zu nennen.
Neu war für uns auch die relativ starke Rekonstruktion des kommunistischen Widerstands seit 1942/43. Da haben wir richtig dazugelernt. Es gab parallel zum informellen Überleben der proletarischen Milieus in kleinen informellen, zumeist verwandschaftlichen Gruppen auch neue, sehr interessante Organisationsprozesse, in denen sich sozusagen das letzte Aufgebot des kommunistischen Widerstands reorganisiert hat, das sich zudem ganz explizit von der Moskauer Exilleitung distanziert und, wenn auch mit sympathisierender Nähe zum Programm des NKFD, eigene Gestaltungsansprüche deutlich artikuliert hat. Diese neuen Aspekte sind nicht nur spannend, sie eröffnen auch ein neues Terrain.
Bei der Roten Kapelle, um den zweiten Schwerpunkt zu nennen, hat uns fasziniert, dass die Legende, es habe sich um eine Geheimorganisation des sowjetischen Militärdienstes gehandelt, völlig zerstört wurde. Sie war etwas ganz anderes — eine Widerstandsgruppe aus allen sozialen Schichten, ein breites Spektrum von unten bis in das Bildungsbürgertum hinein mit einer ziemlich realistischen und klaren Programmatik. Die Gruppe war nicht nur faszinierend, sondern auch ungeheuer produktiv und hat vieles, was das NKFD später propagiert hat, vorweggenommen. Sie hat auch nach allen Seiten agiert, v.a. auch nach Seiten der US-amerikanischen Botschaft bis zu deren Schließung 1941. Und genau diese Kontakte zur Roosevelt- Administration wurden später, im Kalten Krieg, fast völlig unterdrückt. Das ist eine wirklich neue Sichtweise.
Über den dritten Schwerpunkt haben Angelika und ich selbst gearbeitet. In einer linken Tradition stehend, war es die zentrale Frage, ob es wirklich so etwas wie einen demokratisch-bürgerlichen Widerstand auch gegen die NS-Diktatur gegeben? Hat es hinter dem NS-Mythos überhaupt eine andere historische Realität gegeben?
Das Ergebnis ist sehr differenziert. Es hat diesen bürgerlichen demokratischen Widerstand gegeben, aber er war sehr klein — ein minimales Spektrum, das eine große Wirkung entfaltet hat. Das war vor allem der Kreisauer Kreis. Dieser Kreis muss auch aus linker Perspektive neu diskutiert werden. Helmuth von Moltke war eine Lichtgestalt des deutschen Widerstands. Er hat sich mit Spinoza und mit radikaldemokratischen Entwicklungen auseinandergesetzt, er hat sich mit der US- amerikanischen Emanzipationstradition der »Federalists« beschäftigt. Der Kreisauer Kreis ging aus von einer vollständigen Zerstörung der NS-Diktatur durch eine militärische Niederlage und wollte dann einen Neuanfang starten, der jenseits des Nationalstaats in einer europäischen föderalistischen Perspektive lag. Da sind viele interessante Aspekte, die man nicht heroisieren sollte. Aber insgesamt war dies ein spannendes pluralistisch-demokratisches Spektrum.

Ihr geht soweit, den Kreisauer Kreis nicht nur als »bemerkenswert fortschrittlich« einzuschätzen, sondern deutet sogar an, dass ihr ihn für fortschrittlicher haltet als Teile des kommunistischen Widerstands. Wie ist dies zu verstehen? <
Das wäre etwas übertrieben und ist stark zu relativieren. Aber es gibt einen Aspekt, den wir sehr faszinierend finden. Der kommunistische Widerstand in ganz Europa hatte eine Programmatik, die auf die nationale Befreiung orientiert war. Er hatte eine sehr starke jakobinisch-nationalstaatlich-demokratische Perspektive im Rahmen der Volksfrontstrategie. Wir meinen allerdings, dass dies in der damaligen Konstellation nicht genügend war, schon allein deswegen nicht, weil die wirklichen aktiven Kerne des kommunistischen Widerstands multinational waren. In Frankreich z.B. bestand der bewaffnete Arm der Resistance vor 1943, also vor ihrer Popularität, aus staatenlosen Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Für diese Kämpferinnen und Kämpfer war eine nationale Perspektive ziemlich sekundär.
Diese europäische und internationalistische Dimension des kommunistischen Widerstands war in Deutschland nur sehr schwach. Und in diesem Kontext haben die europäischen Föderationspläne der Kreisauer 1943/44 eine bedeutende Rolle gespielt: sie waren an diesem Punkt weiter. Und von daher müssen wir fragen, warum es diese transnationalen, antinationalistischen Tendenzen in der arbeiterkommunistischen Bewegung nicht gab, bzw. nur sehr marginalisiert. Daraus ergibt sich also auch ein neuer Blick auf den Arbeiterwiderstand.

Welche Rolle spielte in diesem Oppositionsgeflecht die Aktionsgruppe des 20.Juli?
Bei der Analyse des bürgerlichen Widerstands ist dies die wichtigste Gruppe. Seit 1937/38 gab es eine regimeloyale Opposition im zivilen und militärischen Bereich, die sich als Teil des faschistischen Systems verstanden hat und mit einem bürgerlich- demokratischen Aufbruch nichts zu tun hatte. Unter dem Einfluss der Kreisauer hat sich 1943/44 aus einer Minderheit der zivilen und militärischen Opposition, v.a. also der jüngeren Generalität eine Gruppierung gebildet, die wirklich zu neuen Ufern aufgebrochen ist.
Das war aber eine ganz kleine, marginalisierte Gruppe: das war die Aktionsgruppe des 20.Juli, die Sozialisten, der Kreisauer Kreis auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die jüngeren Militärs, Stauffenberg und Olbricht bspw., die eine ganz enge Verbindung hatten zu Julius Leber. Und dieser Julius Leber wurde in den letzten Monaten die treibende Kraft eines jeglichen volksfrontartigen Umbruchs. Die jungen Militärs haben dies akzeptiert trotz ihrer eigenen Verstrickungen in die Verbrechen des Regimes. Das war der Aufbruch einer kleinen Gruppe, die, gerade weil sie die Mehrheit der bürgerlichen Mitte nicht mitreißen konnte, tragisch verloren hat.

Auch zum 20.Juli gab es im Sommer manche Fernsehproduktion. Habt ihr eure Erkenntnisse dort wiedererkannt?
Bei den großen Dokumentar- und Fernsehfilmen gab es dieselbe Tendenz zur Personalisierung und Heroisierung militärischer Figuren. Und doch war eine Entmischung, eine Differenzierung zu bemerken, bspw. in der Subkultur der Dokumentarfilme. Auch der von Roloff über die Rote Kapelle wurde ja gezeigt. Das Panorama in den Medien war deswegen differenzierter. Die Hauptströmung, d.h. die Haupteinschaltquoten-Beiträge waren klar restaurativ. Es war deshalb auch kein Wunder, dass die Enkel Stauffenbergs bei den Feiern am 20.Juli die anwesenden Überlebenden der Roten Kapelle fragten: Was macht denn ihr hier?
So etwas reproduziert sich zwar noch, kann sich aber nicht mehr ganz durchsetzen. Es gab auch für uns Interessantes. Im Gesamtkontext jedoch war es der Versuch, das alte Mythenbild zu rekonstruieren — vor allem der Militärkult um die Heeresgruppe Mitte, der sehr ärgerlich ist, wenn man sieht, was diese Offiziere gemacht und was sie nicht gemacht haben.
Wir haben uns trotzdem weniger geärgert als vielmehr amüsiert. Der Nationalmythos ist zerstört und dürfte auch perspektivisch nicht restaurierbar sein. Wir sind froh, dass wir uns nach 30 Jahren zusammengerauft haben, um an dieser Dekonstruktion ein klein wenig mitzuhelfen.

Es ist noch immer schwer möglich, den Widerstand gegen den NS quantitativ einzuschätzen. Deutlicher wird zwar nun, dass er umfangreicher war als früher eingeschätzt. Doch es bleibt die Tatsache, dass er ohne nennenswerten Erfolg war. Welches Licht wirft dies auf den Widerstand und den NS als Ganzen?
Da die Versuche der Quantifizierung nicht sehr sicher sind, ist nur ein Teil unserer Quantifizierung ins Buch eingegangen. Doch wird klar, dass der Widerstand eine erhebliche Breite hatte. Selbst während der Kriegszeit haben immerhin 10% der Bevölkerung, und zwar von unten nach oben abnehmend, so etwas wie ein Milieu des Widerstands gebildet. Es sind immerhin fast 1 Million Menschen kurz- oder langfristig in die Fänge der Gestapo geraten, Hundertausende sind desertiert. 6000—8000 Menschen sind nicht nur desertiert, sondern auch zu den Alliierten oder in die Partisanenbewegung der Resistance übergelaufen. Es hat 30000 Todesurteile gegen Deserteure gegeben.
Der Widerstand war breit, aber gleichzeitig sehr zersplittert, sehr fragmentiert. Und er weist einige bisher kaum gedeutete Phänomene auf — wie bspw. seine am europäischen Maßstab gemessene enorme Gewaltlosigkeit. Wer also über den europäischen Widerstand gegen den Faschismus reflektiert, kommt einfach nicht mehr am deutschen Widerstand vorbei.

Hast du, habt ihr durch die Beschäftigung mit dem Widerstand auch etwas für heutige Politik gelernt?
Ja und nein. Nein, denn der Widerstand ist ein nun 60 Jahre altes historisches Phänomen. Ja, denn erstens war für uns neu zu erkennen, wie stark auch »die Linke« bisher Vorurteile gehabt und weniger den gesamten Widerstand betrachtet hat, um zu einem Gesamtbild zu kommen. Hier ist eine Menge zu korrigieren.
Das zweite ist beängstigender. Leider ist das Thema nicht ganz so inaktuell, wie wir es am Anfang unserer Forschungsarbeit gedacht haben. Es gibt, das haben wir gerade auf einer Tagung real mitbekommen, bspw. in Süd- und Südosteuropa ganz eindeutig neofaschistische Tendenzen, die eine inzwischen enorme Wirkung erzielt haben. Ein anderes Beispiel ist der Hindu-Faschismus und seine Bündnispolitik zum alten Faschismus. Wir haben es dabei mit dem bemerkenswerten Phänomen einer Internationalisierung des Faschismus zu tun. Der Faschismus ist heute ein globales Phänomen, ein Phänomen in der Globalisierung.

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