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Brasilien hat im Januar dieses Jahres als erstes Land der Welt die Einführung eines Grundeinkommens
(Renda Básica de Cidadania) beschlossen.
Mit dem Grundeinkommen soll allen Brasilianern ohne Einkommensunterschiede und auch Ausländern, die seit mehr als fünf
Jahren im Land leben, eine staatliche finanzielle Leistung zukommen, mit der sie ihre Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Erziehung und
Gesundheit befriedigen können. Dabei handelt es sich um eine allgemeine finanzielle Unterstützung, die monatlich bedingungslos und
ohne Unterschied an Reiche und Arme, Jung und Alt, Frauen und Männer gleichermaßen ausbezahlt werden soll.
Das Gesetz für ein Grundeinkommen, das nach und nach eingeführt
werden soll, beginnend mit den Ärmsten der Gesellschaft, ist dem langwierigen Bemühen des Senators Eduardo Suplicy von der
Arbeiterpartei (PT) zu verdanken. Nach Ansicht von Lena Lavinas, Professorin an der Bundesuniversität Rio de Janeiro, stehe jedoch der
Satz »Beginnend mit den Ärmsten der Gesellschaft« nicht im Einklang mit dem Konzept des Grundeinkommens, weil es
gleichermaßen für alle eingeführt werden soll und nicht nach bestimmten Auswahlkriterien.
Nach Ansicht von Philippe van Parijs, dem ehemaligen Sekretär von BIEN
(ehemals Basic Income European Network, mittlerweile Basic Income Earth Network) und Professor an der Université Catholique de
Louvain, könne kein Land der Welt ein Grundeinkommen auf einmal einführen, vielmehr müsse dies Schritt für Schritt
geschehen.
Der Unterschied zwischen Mindesteinkommen und Grundeinkommen besteht
darin, dass ein Mindesteinkommen mit einer Bedarfsprüfung verknüpft ist. Staatliche Leistungen werden nach diesem Konzept nur
dann ausbezahlt, wenn die Menschen ihre Bedürftigkeit nachweisen können.
In der Regel besteht dadurch eine Kopplung zwischen Erwerbsarbeit und
Einkommen; soziale Leistungen werden meist erst dann bezahlt, wenn die Betreffenden keiner Erwerbsarbeit nachgeht. Sobald eine
reguläre Erwerbstätigkeit vorliegt, geht Anspruch auf die staatliche Leistung verloren.
Mit dem Grundeinkommen soll der Lebensunterhalt von der Notwendigkeit der
Erwerbsarbeit abgekoppelt werden. Diese Entkopplung wird von vielen auch vor dem Hintergrund der strukturellen Massenarbeitslosigkeit als
notwendig erachtet.
Darüber hinaus soll auch eine höhere Effizienz in der
Mittelzuweisung erreicht werden, weil kein Aufwand für die Überprüfung der Bedürftigkeit betrieben werden muss.
Als übergeordnete Ziele wird zum einen die Respektierung der
Menschenrechte und -würde, zum anderen die Förderung der Autonomie der Staatsbürger genannt, auch außerhalb der
Erwerbsarbeitssphäre menschenwürdig zu leben.
Während in den meisten europäischen Ländern die Diskussion um die Einführung eines Grundeinkommens auf eine
Ergänzung zum bereits vorhandenen System sozialer Sicherung und zur Bewältigung von dessen Krisen abzielt, verspricht man sich
in Lateinamerika davon vor allem die Bekämpfung des Hungers und der Armut.
Die Programme zur Armutsbekämpfung in Brasilien waren bis in die 90er
Jahre vorwiegend auf die Steigerung des Wirtschaftswachstums ausgerichtet, indirekt sollte damit auch die Armut bekämpft werden.
Brasilien ist diesem Ziel aber nie nahegekommen.
In den 90er Jahren intensivierten sich die Debatten und Kampagnen um die
Armut. Zuerst wurden globale Programme zur Armutsbekämpfung auf kommunaler Ebene eingeführt sie knüpften an
einen Gesetzesentwurf für ein Mindesteinkommen an, den Senator Eduardo Suplicy 1991 vorschlug.
Das Gesetz hat intensive Debatten in den Medien, vor allem in angesehenen
Zeitungen und Zeitschriften, ausgelöst. Die Folge war, dass auf lokaler Ebene neue Wege bei der Armutsbekämpfung gegangen
wurden.
Von 1995 an haben zahlreiche Kommunen, zunächst Campinas, Ribeirăo
Preto und der Bundesdistrikt Brasília, Mindesteinkommensprogramme zur Armutsbekämpfung eingeführt. Sie formulierten eine
Reihe von Bedingungen für die Aufnahme der Leistungsempfänger in das Programm.
Die erste Bedingung war die Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder zur Schule zu
schicken. Kommunen, die diese Bedingung stellten, argumentierten, Armut in den Familien habe großen Einfluss auf die frühzeitige
Erwerbstätigkeit der Kinder, weil die Kosten für den Schulbesuch sehr hoch seien und die Familien die Kinderarbeit benötigten,
um ihr prekäres Einkommen zu steigern.
Daneben verlangten die meisten Programme eine Mindestwohndauer in der
Stadt im allgemeinen zwei bis fünf Jahre. Dadurch sollte verhindert werden, dass Menschen aus anderen Städten zu ziehen,
um in den Genuss des Programms zu gelangen. Außerdem legten die meisten Programme eine Einkommensobergrenze fest in der
Regel belief sie sich auf ein Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem halben Mindestlohn im Monat.
Obwohl diese Programme sehr restriktiv gehandhabt wurden, verzeichneten sie
positive Resultate, sodass sie ab dem Jahr 2000 während der Regierungsperiode des Fernando Henrique Cardoso auch auf Bundesebene
eingeführt wurden.
Auf diese Weise entstand die Schulbeihilfe für arme Familien, die ihre
Kinder in die Schule schicken, die Ernährungsbeihilfe (Programm zur Ernährung der Mütter) und die Gasbeihilfe eine
kleine, zweimonatlich ausbezahlte Summe, um Gas für die Küche zu kaufen. Schätzungsweise lag in dieser Zeit die
durchschnittliche Unterstützung bei 25 Real pro Familie.
Mit der Wahl von Präsident Lula im Oktober 2002 wurde das Programm Fome Zero (Null Hunger) ins Leben gerufen. Dieses Programm
sieht vor allem die Einführung einer Lebensmittelkarte vor, mit der 44 Millionen als arm eingestufte Brasilianer (etwa 11,2 Millionen Familien)
bis Ende des Jahres 2006 sich angemessen ernähren sollen.
Ende Oktober 2003 hat die Regierung die unterschiedlichen Formen der
Unterstützung in einer Familienunterstützungskarte* zusammengeführt. Die Familienunterstützungskarte gewährt
eine Unterstützung von 5095 Real (etwa 20 Euro; der Mindestlohn liegt bei 260 Real).
Die Familien, die in den Genuss des Programms kommen, bekommen
zunächst eine Bankkarte der staatlichen Sparkasse zugesandt, die Unterstützung wird ihnen dann monatlich auf das Konto
überwiesen.
Diese Unterstützungen, die bis zur Einführung des
Grundeinkommens beibehalten werden sollen, sind nicht nur an den Nachweis der Armut gebunden, sie verlangen auch
»Gegenleistungen« so z.B. den Nachweis, dass die Kinder regelmäßig zur Schule geschickt werden und an
Impfungen teilnehmen, und dass die Erwachsenen an Alphabetisierungskursen und Informationsveranstaltungen über Ernährung oder
Berufsausbildung teilnehmen.
Die Kosten für die Überprüfung dieser Gegenleistungen des
betragen jährlich nach Schätzungen von Lena Lavinas 25 Milliarden Real, während das Programm selbst im Jahr nur 5
Milliarden Real kostet. Bis jetzt haben mehr als 5 Millionen arme Familien in ganz Brasilien diese »Familienunterstützungskarte«
erhalten.
Die Familienunterstützungskarte hat einige positive Auswirkungen gehabt,
vor allem die Verbesserung der Ernährung. Schwierigkeiten gibt es jedoch bei der Auswahl der Leistungsbeziehenden und ihrer Zahl in den
Städten. Da in Brasilien über die Hälfte der Erwerbstätigen im informellen Wirtschaftssektor beschäftigt ist, sind eine
Überprüfung des Einkommens und eine allgemeine Bedürftigkeitsprüfung nur sehr schwer durchführbar.
Bedarf an finanzieller Unterstützung haben weit mehr Familien als die im
Programm »Fome Zero« vorgesehenen, sodass die Auswahl nie ganz korrekt durchgeführt werden kann. Deshalb kritisieren
Menschenrechtsorganisationen wie bspw. FIAN (FoodFirst Information and Action Network), dieses Programm erfülle nicht die Kriterien
internationaler Vereinbarungen wie das Menschenrecht auf Nahrung.
FIAN empfiehlt für die künftige Gestaltung des Programms den
schnellen Übergang von der Familienunterstützungskarte zum Grundeinkommen, weil dadurch das Risiko drastisch gemindert werde,
dass bedürfige Menschen von ihm ausgeschlossen würden. Zudem knne nur auf diese Weise das Recht auf Nahrung
tatsächlich eingeklagt werden, weil sich die Bedüftigen einfacher gegen Rechtsverletzungen zur Wehr setzen könnten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das aktuelle Gesetz über
das Grundeinkommen eine Erweiterung der bereits eingeführten Mindesteinkommensprogramme darstellt.
Das Grundeinkommensgesetz, das am 8.Januar 2004 von Präsident Lula unterzeichnet wurde, soll ab 2005 schrittweise
eingeführt werden beginnend bei den besonders Betroffenen. Ein Kritikpunkt ist die Bindung des Gesetzes an die
Haushaltsmöglichkeiten des Staates. Wird die Haushaltslage schwierig, kann eine Regierung das Programm verschieben oder
verzögern. Außerdem kann ein zu niedrig angesetzter Betrag für das Grundeinkommen die Wirkung des Gesetzes
einschränken.
Nach Auffassung von Senator Suplicy könnte das Grundeinkommen
schrittweise bis 2010 eingeführt werden. In seiner Konzeption stellt das bisherige Familienunterstützungsprogramm den ersten Schritt
für ein Grundeinkommen dar, obwohl er den individuellen Anspruch und nicht den der Familie in den Vordergrund stellt und die Auszahlung
der Leistungen an keinerlei Bedingungen mehr knüpft.
Als Eingangsbetrag schlägt er eine Summe von monatlich 40 Real pro
Person vor. Dieser Betrag mag auf dem ersten Blick gering erscheinen, aber in einer Familie mit vier Kindern würde das Einkommen damit
auf 240 Real steigen. Wenn eine Person dann noch einen Mindestlohn dazu verdienen würde, käme die Familie auf 500 Real. Je
geringer also das Einkommen einer Person ist, desto höher ist die Bedeutung dieses Grundeinkommens.
Lena Lavinas schlägt monatlich 80 Real für alle Kinder bis zum Alter
von 16 Jahren vor, denn diese seien am häufigsten von der Armut betroffen. Insgesamt würden das ungefähr 56,7 Millionen
Kinder betreffen, die jährlichen Kosten beliefen sich auf 54,6 Milliarden Real. Nach ihrer Ansicht würde es zur Finanzierung dieser
Ausgabe genügen, wenn die Regierung die Zinsrate von 16% auf 12% senkt dadurch würden sich der Schuldendienst des
Bundes nach innen und außen erheblich reduzieren.
Ein Grundeinkommen würde in Brasilien, wie Erich Fromm in den 60er
Jahren feststellte, zum ersten Mal Menschen von der Drohung des Hungertods befreien und sie auf diese Weise wirtschaftlich wahrhaft frei und
unabhängig machen. Niemand müsste sich mehr nur deshalb auf bestimmte Arbeitsbedingungen einlassen (im Extremfall die
Sklavenarbeit, die es in Brasilien immer noch gibt), weil er sonst befürchten müsste zu verhungern.
Begabte oder ehrgeizige Frauen und Männer, so Erich Fromm,
könnten ihre Ausbildung wechseln, um sich auf einen anderen Beruf vorzubereiten; eine Frau könnte ihren Ehemann verlassen. Die
Menschen hätten keine Angst mehr, wenn sie den Hunger nicht mehr zu fürchten brauchten.
Clóvis Zimmermann
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