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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 18

Livio Maitan (1923—2004)

Ein Weg durchs Jahrhundert

Wie kein zweiter verkörpert Livio Maitan die Geschichte der IV.Internationale in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts sowie ihre Erfolge und Misserfolge bei dem Versuch, eine linke Alternative zur Sozialdemokratie und zum Stalinismus aufzubauen. Seine Stellung in der Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung reicht weit über seine bloße Zugehörigkeit zur Internationale hinaus.

Livio Maitan gehört zu der Generation, die im Widerstand gegen den Faschismus und die nationalsozialistische Besatzung politisch sozialisiert wurde. Die Entscheidung, in Opposition zum Regime zu gehen, beinhaltete auch Familienkrach und Auseinandersetzungen mit dem Vater. In seiner Autobiografie* erzählt Maitan, den endgültigen Bruch mit der faschistischen Ideologie habe jedoch die Lektüre der gesammelten Werke des Duce bewirkt, die bestimmte Personenkreise obligatorisch im Bücherschrank haben mussten.
Die ersten Versuche, sich ein anderes Weltbild zu erarbeiten, fanden im Lesezirkel Samstag nachmittags unter der Leitung eines zehn Jahre älteren Ausbildungsoffiziers statt. Der Weg zum Marxismus führte, wie für viele Generationen vor Maitan, über die geistige Bekanntschaft mit Benedetto Croce. Er ging übrigens Hand in Hand mit dem Bruch mit der Religion. Als Erstsemester konnte er an der Universität Padua 1940 noch antifaschistische Professoren hören, darunter Norberto Bobbio, der damals Rechtsphilosophie lehrte.
Zusammen mit anderen Studierenden organisierte er antifaschistische Aktionen und stellte Kontakte zu den beiden Parteien her, die sich als erste im Untergrund hatten reorganisieren können: die Aktionspartei (Partito d‘Azione) und die Sozialistische Partei (PSI). Einen Monat nach dem Sturz Mussolinis am 25.Juli 1943 fusionierte die PSI mit lokalen Gruppen, die die Bezeichnung »proletarische Einheit« in ihren Namen führten, zur PSIUP.
Diese Gruppe stellte eine Besonderheit dar: Sie verband die Generation der Vorkriegssozialdemokraten mit Jungen, meist Studierenden, die sich zum Sozialismus »durchgelesen« hatten, ideologisch nicht gefestigt waren und einen Haufen als »häretisch« empfundener Fragen stellten. Maitan entschloss sich, der PSIUP beizutreten, weil sie »pluralistischer und demokratischer war als die PCI und eine radikalere Linie vertrat«.

Die PSIUP

Der Sturz Mussolinis hatte unmittelbar zur Folge, dass die Soldaten in Scharen die Armee verließen. Sieben Wochen später musste die Regierung Badoglio die Jugendlichen zwangsrekrutieren, um die Armee neu aufzustellen. Um sich dem zu entziehen, setzte sich Maitan erst nach Triest ab, später in die Schweiz, wo er erst ins Arbeitslager, dann ins Straflager kam.
Nach dem Krieg entfaltete die PSIUP eine eifrige Agitation auf den Straßen und in den Betrieben, bei der es um alles und jedes ging: den Wiederaufbau der Gewerkschaften, die Entwicklung der Sowjetunion, die italienische Verfassung: Monarchie oder Republik? Maitan war überall vorne dabei. Es gab in der Partei eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob sie der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) beitreten sollte.
Maitan, der führend am Aufbau der Jugendorganisation (FGS) beteiligt war, gehörte zu denen, die sich heftig widersetzten, weil sie den Weg, den die UdSSR eingeschlagen hatte, für falsch hielten und überdies die Beteiligung von PCI und PSI an der Regierung der nationalen Einheit unter der Führung der Christdemokraten ablehnten. Die so dachten wie er, sammelten sich in der linken Strömung Iniziativa Socialista, die starken Rückhalt in der Jugendorganisation hatte und eine gleichnamige Wochenzeitung herausgab.
Die PSIUP spaltete sich an dieser Frage im November 1946. Während die Mehrheitstendenz zur PSI zurückkehrte, bildete die Minderheit unter der Führung von Giuseppe Saragat die PSLI. Diese entwickelte allerdings alsbald ebenfalls mehrheitlich rechtssozialdemokratische Positionen — und die jungen Leute, die die Kritik an der SU mit radikaler Kapitalismuskritik verbinden wollten, sahen sich erneut betrogen.
In der Bilanz dieser ersten Erfahrung mit dem — gescheiterten — Aufbau einer radikal antikapitalistischen und antistalinistischen Partei schreibt Livio: Wir hatten aus jugendlicher Unerfahrenheit nicht mitbekommen, dass die Mehrheit der Bevölkerung bereits den Wiederaufbau unter kapitalistischen Vorzeichen und unter der Führung der USA akzeptiert hatte — dem entsprach der relative Wiederaufschwung der Sozialdemokratie. Von der radikalen Linken blieb ein kleines Grüppchen übrig, das sich 1947 der IV.Internationale anschloss.

In der PCI

In der Frontstellung des Kalten Krieges saugte die PCI alles linke Potenzial auf, das nicht in den Schoß der Sozialdemokratie zurückkehren wollte — bis auf die Gruppe um Maitan, die ab dem 1.April 1950 eine eigene Zeitschrift, Bandiera Rossa herausgab, die bis 2002 die Zeitung der italienischen Sektion der IV.Internationale geblieben ist. Die PCI etablierte sich als die wichtigste Kraft der Opposition und dominierende Strömung in der Arbeiterklasse.
Aus Angst, als isolierte kleine Gruppe ohne Anbindung an die politisch fortgeschrittensten Kräfte der Arbeiterklasse unterzugehen, und in der Erwartung, dass neue Linksentwicklungen von Differenzierungsprozessen in der PCI ausgehen würden, entschloss sich die Gruppe um Maitan schließlich, auf taktischer Grundlage und unter Beibehaltung eigener Strukturen der PCI beizutreten. Das erklärte Ziel war, eine Kontinuität der Tradition der linken Opposition zu wahren und das Umfeld beizubehalten, das für die eigene politische und theoretische Weiterentwicklung nötig war.
Beide Ziele sind in erstaunlichem Maße erreicht worden. Die interne Entwicklung der PCI war bis Ende der 60er Jahre Dreh- und Angelpunkt strategischer wie taktischer Entwicklungen. Bei jeder Krise, die die Partei erschütterte und Bruchlinien hervortrieb, war die Strömung um Maitan an vorderster Front an der politisch-ideologischen Debatte mit eigenen fundierten Analysen beteiligt — in einer Unzahl von Veranstaltungen, Zeitschriftenprojekten, Seminaren, später auch Bücherpublikationen und Verlagen —, zusätzlich zu den Parteiversammlungen.
Sie hat in jeder dieser Krisen neue Vertreter der jungen Generationen aus dem studentischen wie dem Arbeitermilieu an sich ziehen können. Obwohl sie stets eine kleine Strömung geblieben ist, hat sie doch eine ungeheure Kontinuität der politischen Positionsbildung, ideologischen Einflussnahme und organisierten Politik aufbauen können. Sie hat eine Vielzahl von Kadern hervorgebracht, die in der italienischen Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle gespielt haben.
Livios Biografie quillt über von Erinnerungen an gemeinsame Wegstrecken mit solchen Genossinnen und Genossen, deren Namen den Heutigen oft aus ganz anderen Zusammenhängen bekannt sind. Livio hat in diesen Auseinandersetzungen selber immer eine führende Rolle gespielt. Er hat überdies dieser Strömung durch seine analytischen Fähigkeiten und seine publizistische Tätigkeit eine große Festigkeit gegeben. Die italienische Sektion ist unter den Organisationen der IV.Internationale — auch dank Livio — diejenige mit der größten Kontinuität und der stabilsten Tradition.

Der Bruch von 68

Es können hier nicht alle politischen Wendepunkte der italienischen (und internationalen) Arbeiterbewegung nacherzählt werden, es sei nur auf die wichtigsten verwiesen. Es ist dies zugleich die Geschichte der sozialdemokratischen Degeneration der PCI und ihres Hegemonieverlusts über die radikale Linke — mit allen politischen Schwierigkeiten, die für eine Neuformierung der revolutionären Linken daraus folgten:
Die Krise von 1956 mit den Enthüllungen des XX.Parteitags der KPdSU, aber auch den Chruschtschow-Thesen von der friedlichen Koexistenz und dem parlamentarischen Weg hat eine Abkehr von der Togliatti-Linie sowohl nach rechts wie nach links bewirkt. Die Strömung um Maitan musste sich auch von denen absetzen, die im Namen des Antistalinismus dem Antikommunismus in die Arme liefen. Sie nahm an den Debatten lebhaften Anteil und konnte ihren Einfluss soweit ausbauen, dass sie ein eigenes unabhängiges Verlagshaus aufbauen konnte, das erstmals mit einer systematischen Publikation der Schriften Trotzkis begann.
Der Aufschwung der antikolonialen Befreiungsbewegungen und der Bruch zwischen der UdSSR und China Anfang der 60er Jahre führte zu einer Infragestellung der zentralen Rolle der Arbeiterklasse in den hochentwickelten Industriegesellschaften. Dies kombinierte sich mit einem neuen Aufschwung von antifaschistischen Kämpfen und von Arbeitskämpfen, die von neuen Generationen geführt wurden — unter ihnen vielfach Arbeitsmigranten aus Süditalien, die nicht dieselbe Tradition der Arbeiterorganisation mitbrachten und deshalb auch abwiegelnde Gewerkschaftszentralen zur Zielscheibe ihrer Proteste machten.
Hier hat ein Prozess begonnen, der 1968 mit der Studentenbewegung explodieren sollte und die zentrale Rolle der PCI als Kristallisationspunkt für gesellschaftliche Radikalisierungsprozesse in Frage stellte. Die Personen, die in dieser Zeit als Hauptakteure hervorgetreten sind, waren diejenigen, die wenige Jahre später die Organisationen der sog. Neuen Linken anführen sollten — Adriano Sofri, Massimo Gorla, Rossana Rossanda, Luigi Vinci, Toni Negri u.a. Nicht wenige darunter waren zeitweise Mitglieder der italienischen Sektion.
Von 1969 an führte die Gruppe um Maitan die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der PCI hauptsächlich von außen, aber deshalb nicht weniger intensiv — von der Kritik des historischen Kompromisses über die Kritik des Eurokommunismus bis zum Auflösungskongress der PCI 1991 in Bologna und der Gründung von Rifondazione Comunista.
Allerdings kam jetzt auch die Auseinandersetzung mit einem Linksradikalismus hinzu, der nur eine schwache Verankerung in der Arbeiterklasse hatte. Rifondazione war dann für Livio — insbesondere nach ihrer Linkswende in 2002 — die lang gesuchte Chance für eine kommunistische Neugründung. Er war Mitglied ihrer Nationalen Leitung von 1994 bis 2002.

Angela Klein

*Livio Maitan: La strada percorsa. Dalla Resistenza ai nuovi movimenti: lettura critica e scelte alternative, Bolsena: Massari Editore, 2002, 720 Seiten, 18 Euro (ISBN 88-457-0180-8).



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