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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 21

Daniel Bensaïd: Was ist Trotzkismus?, Köln: Neuer ISP, 2004, 132 Seiten, 12 Euro,
Manuel Kellner: Trotzkismus, Stuttgart: Schmetterling, 2004, 178 Seiten, 10 Euro

Sozialistische Brühwürfel

Trotzkismus ist in Deutschland noch immer vor allem eins: Projektionsfläche für andere Linke, die ihre verschwörungstheoretischen Gemüter an mehr oder weniger aufrechten Streitern für einen emanzipativen Sozialismus meinen abkühlen zu müssen. Den einen zu links und orthodox, ist er den anderen nicht links und orthodox genug. Den einen zu ätzend- sektiererisch, ist er den anderen zu opportunistisch. Reden die einen von den Spaltern der Bewegung, werfen ihnen andere vor, sich prinzipienlos jeder Bewegung um den Hals zu werfen. Kennen die einen Trotzkisten nur vom Hören-Sagen und haben gehört, dass ehemalige Trotzkisten nun in hohen Partei- und Regierungsämtern von neoliberalen Parteien sitzen, kennen sie andere als fleißige Zeitungsverkäufer und Flugblattverteiler auf Demonstrationen und in Veranstaltungen, die gerade gegen diese Politik gerichtet sind. Und als ob solche Verwirrung noch nicht reichen würde, sind bei uns nicht nur Trotzkisten »Trotzkisten«, sondern gleich auch noch jene, die mit ihnen zusammenarbeiten oder manche ihrer Theoreme teilen.
All dies entbehrt nicht der Komik und irgendwie ist vieles davon sicherlich auch nicht ganz von der Hand zu weisen. So wenig wie die Erkenntnis jenes alten Linkssozialisten sozialdemokratischer Provenienz, selbst des Öfteren des »Trotzkismus« beschuldigt, der allzu gerne kolportiert, dass Trotzkisten wie Brühwürfel seien: auf der kleinen individuellen Zunge reichlich ätzend, in der großen Suppe die Krönung des Geschmacks.
Wer über den Zustand der deutschen Linken und ihrer Trotzkisten weder lachen noch weinen, sondern denselben verstehen möchte, für den kommen die beiden Einführungsschriften von Bensaïd und Kellner gerade recht. Beide Autoren sind »Trotzkisten«, der eine Franzose, der andere Deutscher, und schreiben bemerkenswert selbstkritisch und (vor allem Kellner) erfrischend selbstironisch über das, was ihrer Meinung nach Trotzkismus eigentlich ist und warum es sinnvoll ist, sich mit ihm gerade heute praktisch wie theoretisch auseinanderzusetzen.
Beide erklären sowohl historisch wie politisch, wie sich die trotzkistische Bewegung entwickelt hat, auf welchen politisch-programmatischen Grundlagen sie damals wie heute beruht und welchen vielfältigen Spaltungsprozessen und Selbstverständigungsdebatten sie unterworfen war und noch ist. Wer einen Wegweiser durch die Schismen dieser trotzkistischen Geschichte sucht, der wird hier fündig und er lernt dabei etwas ausgesprochen wichtiges: »So lächerlich ihre Zwietracht und ihre Spaltungen sein mögen, so sind sie doch immer ein Echo der großen Ereignisse, die die Richtung einer Epoche bestimmen« (Bensaïd).
Das begann zu Beginn des 20.Jahrhunderts, als der junge Trotzki die marxistische Theorie des Sozialismus um die Erkenntnis bereicherte, dass es unter den besonderen historischen, sozialen und politischen Bedingungen eines imperialistisch vernetzten Weltkapitalismus möglich und denkbar, ja sogar wahrscheinlich sei, dass die von Marx und Engels anvisierte Diktatur des Proletariats zuallererst in jenen rückständigen Ländern der weltwirtschaftlichen Peripherie an die Macht gelangen könne, die nach der orthodoxen Theorie eigentlich gar nicht reif dazu waren. Trotzki nannte dies die permanente Revolution: »Unter gewissen Bedingungen können zurückgebliebene Länder früher als die fortgeschrittenen zur Diktatur des Proletariats kommen, aber später zum Sozialismus.«
Dieser kühne Gedanke hatte Folgen. Trotzki wurde nicht nur der gleichermaßen militärische wie politische Organisator der sowjetrussischen Oktoberrevolution, er wurde auch zum erbitterten und meistgehassten Feind der nachrevolutionären Sowjetbürokratie, als er ihr mit reichlich Autorität gerade den von ihr reklamierten sozialistischen Charakter absprach. War »Trotzkismus« in der 20er Jahren der Versuch, mindestens zur innerparteilichen Demokratie zurückzukehren und das Land mittels Planwirtschaft und Industrialisierung solange gegen den Druck der bürgerlich-kapitalistischen Außenwelt abzuschirmen, bis dort der abgebrochene Prozess einer proletarisch-sozialistischen Weltrevolution eine erfolgreiche Fortsetzung finden sollte, so wurde er in den 30er Jahren, im Angesicht des »Versagens« der »kommunistischen Weltbewegung«, den Aufstieg der weltweiten Konterrevolution zu stoppen und jene Weltrevolution fortzusetzen, zum Versuch, eine neue sozialistische Weltbewegung jenseits von sozialdemokratischem Reformismus und stalinistischer Erziehungsdiktatur aufzubauen.
Die politisch-theoretische Gratwanderung, gleichzeitig den klassischen Marxismus und seine politische Theorie zu verteidigen und eine historisch neue politisch-soziale Weltbewegung aufzubauen, charakterisierte seitdem die trotzkistische Bewegung. Sowohl Bensaïd als auch Kellner beschreiben recht eindrucksvoll diese zu vielerlei Schismen führende Gratwanderung der 50er, 60er und 70er Jahre. Und sie beschreiben, dass es in erster Linie die Frage der Einschätzung des Charakters und der Dynamik der Übergangsgesellschaft war, zu der zwar viele Trotzkisten Pionierhaftes und Bleibendes beigetragen haben, die sie als politische Bewegung jedoch kaum zureichend gemeistert haben.
In den 80er Jahren schließlich wurde auch den meisten der inzwischen vielfältigen Trotzkismen klar, dass es nicht mehr nur darum gehen kann, »einer internationalen Arbeiterbewegung, die in einer revolutionären Kultur im Kielwasser der russischen Revolution gebildet worden war, eine Ersatzführung zur Verfügung zu stellen« (Bensaïd). Seitdem orientiert die IV.Internationale auf eine sowohl gewerkschaftliche wie politische Erneuerung der weltweiten Arbeiterbewegung wie auf eine Vereinigung der heterogenen revolutionär-sozialistischen Kräfte.
Doch die Erbschaft des klassischen Marxismus ist, so Bensaïd, noch keine aktuelle Gebrauchsanleitung. Das wurde schmerzlich deutlich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Anstatt, wie von vielen Trotzkisten (und nicht nur diesen) erhofft, zu einer revolutionären Renaissance zu führen, kam nun »eine frische Ladung Jauche auf einen Misthaufen« (Kellner).
Deutlich wird schließlich auch die Hoffnung beider Autoren, dass man mit den heutigen globalisierungskritischen Bewegungen da anknüpfen könne, wo man sich bereits in den 80er Jahren gesehen hat, »inmitten der neuen internationalen Bewegungen und im Herzen der Politisierungsprozesse der neuen Generationen« (Kellner). Auch wenn dabei die programmatische Grundlagenarbeit allzu oft zu kurz gekommen ist, dieser Primat des Politischen ist wohlbegründet: »Egal wie belesen, erfahren, geschult und politisch geschickt eine ›Elite‹ von ›Aufklärern‹ und ›Volkstribunen‹ sein mag, ihr ganzes Tun kann nicht zum Ziel führen, wenn sie nicht in einem gemeinsamen Lernprozess die Erfahrungen dieser Massen teilt, die sich in Bewegung setzen und ›von unten her‹ eine neue Gesellschaft aufbauen« (Kellner).
Auch wenn hier die Gefahr einer Unterschätzung der »Arbeit am Begriff« lauert, diese Haltung dürfte sich als das bleibende Verdienst des Trotzkismus erweisen — Entschuldigung: des vor allem von ihm fortgesetzten klassischen Sozialismus.

Christoph Jünke

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