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Der Trompeter Bill Dixon ergriff im Oktober 1964 die Initiative zu einem denkwürdigen Festival in den
beengten Räumen des Cellar Café in New Yorks 91.Straße, unweit des Broadway. Vier Tage lang spielten an die 20,
größtenteils der Avantgarde- und Free-Jazz-Szene zugehörigen Gruppen vor einem begeisterten jugendlichen Publikum und
stellten unter Beweis, dass ihre Musik keineswegs, wie von konservativen (und zumeist weißen) Kritikern behauptet, unverständlich
und elitär, sondern zutiefst Ausdruck eines urbanen (und vor allem schwarzen) Lebensgefühls war. Neben den musikalischen
Veranstaltungen fanden aber auch Podiumsdiskussionen und Symposien zu Fragen des Kampfs gegen den Rassismus oder zur
»Ökonomie des Jazz« statt.
Die Tage im Cellar Cafe, die »Oktoberrevolution« des Jazz, wie sie
von den Organisatoren genannt wurden, hatten Folgen. So organisierte bereits im März des folgenden Jahres der Schriftsteller und Kritiker
LeRoi Jones (Amiri Baraka) ein Konzert unter dem Motto »New Black Music«, das sich explizit als kulturelle Manifestation des
schwarzen Nationalismus verstand. Auf der Bühne stand neben den jungen Vertretern der Avantgarde, wie den Brüdern Albert und
Donald Ayler, dem sich offen als Marxisten bezeichnenden Archie Shepp und dem Sun Ra Arkestra auch John Coltrane. Coltrane,
spätestens seit seiner Arbeit mit Miles Davis in den 50er Jahren als herausragende Musikerpersönlichkeit akzeptiert, bestätigte
durch seine Anwesenheit und die Radikalität seiner Spielweise das Gefühl der anderen Teilnehmer, einen konsequenten und richtigen
Weg eingeschlagen zu haben.
Eine weitere Folge des Oktober 1964 war die Gründung eines
Musikerkollektivs der New Yorker Avantgarde, der Jazz Composers Guild. Die Gruppe, die schwarze und weiße Musiker umfasste,
bestand freilich nur kurze Zeit, sie wurde schnell ein Opfer jener kapitalistischen Marktgesetze, die sie, zumindest im Bereich der Musikindustrie,
bekämpfen wollte. »Die Musiker haben es in der Gesellschaft nicht nur mit Kunst zu tun. Sie sind selbst die Gesellschaft, auch wenn
sie sich nur an ihrer Peripherie befinden«, kommentierte der Pianist Cecil Taylor das Auseinanderbrechen der Guild.
Die Idee der Selbstorganisation diesmal in rein afroamerikanischen
Zusammenhängen wurde jedoch auch von Musikern in anderen Städten aufgegriffen In Los Angeles entstand die der Black
Panther Party nahestehende Underground Musicians Association (UGMA), in Saint Louis die Black Artists Group (BAG) und in Chicago mit der
Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) die dauerhafteste dieser Formierungen. Ihre Beständigkeit verdankte die
AACM dabei sicher auch der starken Inspiration durch die in Chicago außerordentlich aktive Bürgerrechtsbewegung. So organisierte
die AACM nicht nur Konzerte in eigener Regie und sorgte für die Veröffentlichung der Musik ihrer Mitglieder, sondern richtete auch im
Rahmen eines Bildungs- und Erziehungsprogramms der schwarzen Community der Stadt eine Jugendmusikschule ein.
Spätestens Anfang der 70er Jahre jedoch schien die Welle des freien und
avantgardistischen Jazz auszulaufen. Einige seiner Protagonisten, Albert Ayler oder John Coltrane, waren früh gestorben, andere wie
Archie Shepp wandten sich kommerzielleren Formen der Musik zu, um ihre politische Botschaft zu verbreiten.
Avantgarde- und Free-Jazz, heute, nur eine nostalgische Erinnerung?
Verschwunden mit den Kämpfen der kulturellen und politischen Bewegungen der 60er Jahre und überflüssig geworden mit dem
Entstehen einer schwarzen Mittelschicht? Längst überholt vom elektrifizierten Rockjazz der 70er, vom gepflegten Yuppie-Jazz der
80er und 90er Jahre, erst recht von MTV und Techno?
Es gibt Anlass, an einem solchen abschließenden Urteil zu zweifeln. Nicht
nur weil Musiker wie Cecil Taylor oder der in seinen frühen Jahren der AACM verbundene Anthony Braxton bis heute nicht aufgehört
haben, hochgradig spannende und herausfordernde Musik zu veröffentlichen, sondern auch, weil sich über all die Jahre eine
widerständige und innovative Szene im Untergrund gehalten hat. Die Gruppe Test um den Saxofonisten Daniel Carter und den
Schlagzeuger Tom Bruno hingegen spielt sei Ende der 90er Jahre im wörtlichen Sinne im Untergrund in den verzweigten
Durchgängen der New Yorker U-Bahn. Vielleicht nicht die schlechteste Möglichkeit, an die Öffentlichkeit zu gehen und sich ein
Publikum zu erobern.
Harald Etzbach
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