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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 22

Sechshundertsechs Euro

Noch nicht lange her, da mutmaßten wir an dieser Stelle, dass die persönliche Entwicklung Otto Schilys zum rechtsextremen Kotzbrocken seinen Ursprung vor langer Zeit in der Wahl zum Krawattenmann des Jahres hatte, weil die Krawatten wohl etwas zu eng gebunden wurden. Nun hat die Techniker-Krankenkasse auf eine wissenschaftliche Studie der New Yorker Augenklinik hingewiesen, die diese These untermauert. Krawattentragen verenge die großen Halsvenen. Schon nach drei Minuten würde dadurch der Augeninnendruck um bis zu 20% erhöht. Längeres Tragen könnte schwere Sehstörungen und den Grünen Star auslösen. Die Krankenkassenlosung lautet: »Den Schlips nicht zu eng binden!«
Dass dadurch auch eine intellektuelle Selbstverstümmelung ausgelöst wird, haben 61 Krawattenmänner — mit Unterstützung einer einzigen Frau — Anfang dieses Monats mit einer ganzseitigen Anzeige in der Süddeutschen Zeitung bewiesen. Unter dem Titel »Auch wir sind das Volk« bekennt sich der Kreis unter der Federführung der alten SPD-Schreiberlinge Manfred Bissinger und Michael Jürgs zur gnadenlosen Unterstützung der Hartz-IV-Politik des Kanzlers Schröder. Der Spaß hat 37600 Euro gekostet, 606,45 Euro für jeden Beteiligten, knapp das Doppelte des monatlichen ALG-II-Satzes. Zu den Unterzeichnern gehören nur Leute, von denen mittlerweile sowieso jeder erwartet, dass sie dazugehören: Roland Berger, Dieter Hundt, Thomas Middelhoff, Michael Rogowski, Gerd Schulte Hillen, Wendelin Wiedeking und ihre Kultur- und Ideologie schaffenden Stiefellecker Günter Grass, Marius Müller-Westernhagen, Jürgen Flimm, Peter Glotz, Markus Lüpertz und so weiter im Reigen der selbsternannten Elite. Der Text könnte ein echter Grass sein: »Die unter dem Angst machenden und abschreckenden Schlagwort Hartz IV beschlossenen Änderungen in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind überlebensnotwendig für den Standort Deutschland. Der ist gepflastert mit den Grabsteinen verblichener Chancen … In der Vergangenheit haben alle Regierungen dem Wähler versprochen, was nicht zu halten war. Umso schmerzlicher ist nun die Stunde der Wahrheit … Wir hoffen, dass Gerhard Schröder den Parolen der Populisten … Stand hält. « Und zum Schluss: »Wir arbeiten in diesem Land, wir bezahlen Steuern in diesem Land, wir bekennen uns zu diesem Land. Wir haben das Jammern über Deutschland satt. Wer mutig ändert, was geändert werden muss, hat uns auf seiner Seite. « Es kann einem schon mulmig werden: ein paar kleine Montagsdemonstrationen und Proteste, noch himmelweit weg von Generalstreik und Massenkämpfen in den Stadtteilen, und schon schlagen die deutschen Herren wieder die Hacken zusammen: Heil dir Kanzler, wir folgen dir.
Wenige Tage nach der Anzeige rechtfertigt sich einer der Unterzeichner in der Taz: »Zu den Unterzeichnern zählte auch ein gewisser Uwe Wesel … Uwe Wesel: Ja, das bin ich wirklich. ... Sie galten doch mal als radikaler Linker? ... Das Etikett ›links‹ ist mir angeheftet worden. Zugegeben: Später habe ich diese Identität auch angenommen ... Was ist links an Hartz IV? Diese Frage ist doch irrelevant. Gegen die Globalisierung und ihre Folgen sind wir machtlos ... Dass ich die Dinge so sehe, mag vielleicht an meinem Alter liegen.«
So wird aus einem Wesel schnell ein Verwesel. Wie war das mit den Grabsteinen verblichener Chancen? Für die Geschichte der Linken trifft diese Charakterisierung wohl zu. Die Anzeige der SZ ist Teil einer lang geplanten und schon geraume Zeit laufenden ideologischen Dauerberieselungsaktion der herrschenden Kaste in diesem Land. Insofern ist sie nicht gerade überraschend und prickelnd. Immer wieder entlarvend ist jedoch die Erkenntnis, wie bereitwillig sich deutsche Intellektuelle zum Hündchen ihrer Herren machen, ohne wenigstens — wie anderswo üblich — ein dickes Honorar einzufordern. Die Herren rufen nur einmal TINA, schwupps machen die Knechte brav ihren Diena.

Thies Gleiss
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