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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 24

Zur Diskussion nach dem Folterskandal von Abu Ghraib

Der immer neue alte Schrecken

Die Bilder-Trophäen, die in diesem Frühjahr aus dem Bagdader Gefängnis Abu Ghraib um die Welt gingen, zeigen Szenen, wie sie uns aus den Büchern des Marquis de Sade (oder aus Pasolinis Film Salò oder die 120 Tage von Sodom) bekannt sind. Sie machen uns schaudern, vor allem, weil wir ahnen, dass es sich dabei nur um die Spitze eines Eisbergs handelt; und sie machen uns Angst, weil sie an ein weltweites Inferno gemahnen, dessen Existenz wir nicht wahrhaben wollen.
In der Barbarei, vor der die großen Sozialisten gewarnt haben, sind wir längst angekommen.
Seit dem ersten Weltkrieg ist die Tortur, die Optimisten wie Victor Hugo im ausgehenden 19.Jahrhundert in Europa schon für »ausgerottet« hielten, von der Peripherie in die Zentren der kapitalistischen Entwicklung zurückgekehrt. Und wie die jährlichen Berichte von Amnesty International zeigen, wird sie in mehr und mehr Staaten praktiziert und toleriert. Besonders Oppositionelle werden von den Schergen der Regime, die sie bekämpfen, nach Möglichkeit durch Folter entwürdigt und gebrochen, ehe sie umgebracht werden. Stalin ließ seine Gegner aus der alten leninschen Partei so lange prügeln und quälen, bis sie in den großen Schauprozessen öffentlich die absurdesten »Geständnisse« ablegten.
In den zwölf langen Jahren der Hitlerdiktatur wurde nicht nur in den »wilden« Lagern der SA und in den Konzentrationslagern, sondern ebenso in den Gestapo-Quartieren und auf den Polizeiwachen gefoltert. Kein Vertreter der Zeitgeschichte hat es bisher gewagt, eine Monografie über die »Folter im ›Dritten Reich‹« zu schreiben und zu veröffentlichen. Und so nimmt es nicht wunder, dass sich ausgerechnet in Deutschland kürzlich zwei Drittel der Befragten für die Folterung von Terroristen und Kidnappern aussprachen. Seit Hitler rechnen die Menschen im Stillen mit allem und wollen es zugleich nicht wahrhaben. Das bringt sie dazu, das Grauen, das anderen angetan wird, zu tolerieren, und das stempelt sie zu Bürgern unseres barbarischen Zeitalters.
Zu den Menschen, die in der Barbarei schon heimisch geworden sind, gehören auch die »good American boys and girls«, die es in den Irak verschlug und die sich nun für ihre schrecklichen »Spiele« mit den ihnen ausgelieferten Gefangenen in Abu Ghraib verantworten sollen. Unter ihnen ist der Oberfeldwebel Ivan Frederick, der weder in der Schule, noch während seiner Ausbildung jemals etwas von der »Genfer Konvention« gehört hat (und sich nun, wo es für ihn und seine Opfer zu spät ist, auf eigene Faust im Internet darüber zu informieren sucht). Längst ist klar, dass diese grässlichen Kids nicht auf eigene Faust handelten. Ihre Kommandeure hatten ja den Auftrag, die im kubanischen Stützpunkt Guantánamo — einem »rechtsfrei« gehaltenen Raum im Hinterhof der Vereinigten Staaten — mit »Taliban«-Gefangenen angestellten Experimente in Bagdad zum Wohle der freien Welt zu reproduzieren.
Darüber, wie weit die Kette der Verantwortung denn wohl hinaufreichte, wird offiziell noch lange gerätselt werden. Inoffiziell ist das Rätsel längst gelöst: Die Kommandokette reichte von der Hölle von Abu Ghraib bis in den Himmel von Washington. Jeder Zeitungsleser weiß, dass Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Terrorisierung gefesselter Häftlinge mit bissigen Hunden für ein probates Mittel hält und nichts dabei findet, wenn Leute, die als »Terroristen« verdächtigt werden, sich viele Stunden lang die Beine in den Leib stehen müssen.

Seit dem Beginn der Neuzeit haben sich empfindsame Seelen und räsonnierende Intellektuelle gegen die Folter ausgesprochen. Aufgeklärte Monarchen haben sich im 18. und im 19.Jahrhundert mitunter solche Argumente zu eigen gemacht und sogar die Abschaffung der »peinlichen Befragung« in ihren Ländern verfügt. Vom Vormarsch der Folter im 20.Jahrhundert überwältigte Zeitgenossen hingegen tendieren dazu, die historischen Berichte über Folter in der Antike und im neuzeitlichen Europa, in prämodernen außereuropäischen Kulturen und in zeitgenössischen lateinamerikanischen Diktaturen (Guatemala, Brasilien, Chile, Argentinien, Peru…) dahingehend auszulegen, dass es sich bei der Lust am Quälen um etwas handelt, das in der menschlichen Natur liegt.
Über die Menschennatur aber hat die moderne Anthropologie (von Herder über Nietzsche zu Freud und Plessner) herausgefunden, dass sie »nicht festgestellt« ist, dass also unsere Antriebs- oder Wunschenergien sowohl von spezifischen Objekten (Zielen) als auch von spezifischen Handlungen »abgekoppelt« sind, mit dem Ergebnis, Antriebe selbst »luxurieren«, während die »Objekte« der Triebbefriedigung erst (kulturell) definiert und die Handlungsweisen (in Sozialisationsprozessen) erlernt werden müssen. Darum ist »der« Mensch weder gut noch böse, weder ein Engel noch ein Teufel, sondern formbedürftig und formbar. Erst im Verlauf seiner Geschichte wird er zu dem, was er für uns dann »ist«.
Wie die Lebensgeschichte eines Menschen kennt auch die Kulturgeschichte Fortschritte und Rückschritte, Wiederholungen, Stagnationszeiten und auch das definitive Scheitern. Dieser schwierige Bildungsprozess wird durch das jeweilige Resultat, das er hervorbringt, verdeckt. Der menschliche Leib ist keineswegs nur ein Vehikel der Selbsterhaltung oder ein Instrument der Arbeit, sondern vor allem ein Lusthaus und ein Schmerzenskeller. Er ist reiz- und quälbar, und die Menschen aller Kulturen waren in der Erfindung von Qualen ebenso findig wie in der von neuen Lüsten. Wir sind zu allem instande, unsere Natur setzt uns da keine Schranken. Schranken setzt nur die jeweilige Kultur, die die luxurierenden Antriebe strukturiert und »bewirtschaftet«. Eine jede Ökonomie ist auch eine Ökonomie des Leibes, eine Ökonomie der Liebe und des Todes, der Erotik und der Destruktion. Unsere unspezifisch gewordenen Bedürfnisse bedürfen der Strukturierung; keine Befriedigung ist ohne vorangehende Deutung, Bewertung und Formierung möglich. Und auch den strukturierten Bedürfnissen sind wir nicht ausgeliefert; wir können (und müssen) zu ihnen Stellung nehmen, von ihnen Abstand nehmen, sie kultivieren oder vergällen, sie um- und ablenken…
Die meisten Herrscher und Möchtegern-Herrscher kultivieren die Grausamkeit gegenüber den ihnen Unterworfenen, und sie qualifizieren sich dadurch zugleich gegenüber Untertanen und Feinden als nicht quälbare »Übermenschen«. Die Angehörigen beliebiger Wir-Gruppen grenzen sich (vor allem im Krisenfall) gern durch Pogrom, Folter und Massaker von denen ab, die sie als Nicht-Zugehörige ausschließen. Kinder, die selbst von Erwachsenen abhängig sind, lieben grausame Spiele mit Tieren, deren Wohl und Wehe ganz von ihnen abhängt. Die Lust, die die Folterer aus der Folter ziehen, resultiert aus dem Machtgewinn, aus der praktischen Bestätigung ihrer Übermacht. Macht besteht, wie Nietzsche erkannt hat, wesentlich darin, straflos ein fühlendes Lebewesen, eine autonome Person so zu traktieren, als handele es sich um ein fühlloses Ding. Der Genuss dieser Macht liegt darin, ein wehrloses Opfer auf der Grenze zwischen Leben und Tod vor sich herzutreiben und es schließlich vom Leben zum Tode zu befördern.
Das Foltern ist eine Möglichkeit, die, wie vieles andere, in unserer »Natur« liegt; doch wie wir uns dazu stellen, hängt von uns ab, ist Sache unserer »zweiten«, der kulturellen Natur. In Gesellschaften wie der unseren, in der ein Fünftel der lebenden Menschen in irdischen Paradiesen lebt und ein anderes Fünftel in irdischen Höllen vegetiert, erscheint die Folter als ein beinahe unentbehrliches Herrschaftsmittel, als eine Institution wie der Krieg, der Staat oder das Geld. Institutionen funktionieren nur, wenn die Menschen, die in ihrem Rahmen leben, Dispositionen ausbilden, die sie instandsetzen, als (widerstrebende) Träger dieser Institutionen zu agieren. Die gesellschaftlichen Institutionen und ihr Gegenstück, die individuellen Motivationen, sind keine Naturtatsachen, sondern sozial- und lebensgeschichtlich entstandene Strukturen, die prinzipiell änderbar sind. Über kulturelle Verpönungen sind im Laufe der Zeit die religiösen Menschenopfer und der Kannibalismus erst eingeschränkt und dann abgeschafft worden, in den fortgeschrittensten Gesellschaften ist die Lust am öffentlichen oder geheimen Zerstückeln von Menschen umgeschlagen in den Ekel daran.
Dass die Folter eine menschenmögliche Praxis ist, liegt auf der Hand (auch wenn es von Menschenfreunden gern geleugnet wird). Dass wir unter günstigen Voraussetzungen imstande sind, auf das Ausleben dieser Möglichkeit und auf die Institutionalisierung dieser Praxis zu verzichten, ist freilich ebenso unverkennbar. Die Folter ist keineswegs zu allen Zeiten und gegenüber allen Menschen praktiziert worden; es gab lange Perioden, in denen die Herrschaftssicherung ohne Folter auskam, und es gab stets auch privilegierte Gruppen, die von Folter verschont blieben. Unsere und die auf uns folgende Generation hat es in der Hand, die Folter nachhaltig zu ächten und Institutionen zu schaffen, die die Durchbrechung des in uns nur schwach verankerten Verbots, anderen Böses zuzufügen, ahnden, ja, dieses Verbot zu einem neuen, starken, progressiven Tabu ausgestalten. Wir müssen den Kampf der Aufklärer gegen die Folter wieder aufnehmen. Dieser Kampf ist am leichtesten von den Oasenländern aus zu führen, in denen die Folter zur Ausnahme geworden ist und in denen eine freie Debatte über die Funktion der Folter und die Möglichkeiten ihrer Abschaffung eröffnet werden kann.

Zu allen Zeiten haben Befürworter der Folter »gute Gründe« vorgebracht, warum es unabdingbar sei, Menschen zu quälen. Auch daraus ersieht man, dass es nicht einfach »in der Natur der Menschen« liegt, andere lustvoll zu ruinieren, sondern dass sie auch dafür Rechtfertigungen brauchen. Ein Blick auf die Geschichte der Folter lehrt, dass die historischen Rechtfertigungen der Folter wechseln, die Praxis selbst sich aber kaum ändert. Inquisitoren hatten das »Seelenheil« von Ketzern und Hexen im Auge, wenn sie sie dazu zwangen, sich die Hirngespinste der Theologen zu eigen zu machen und für das Protokoll abscheuliche Verbrechen und sexuelle Abenteuer mit dem Satan zu erfinden. Stalins Henker zwangen alte Revolutionäre, das Wahnsystem des »Vaters der Völker« zu bestätigen, indem sie sich als Spione im Dienste Hitlers oder des Mikado outeten. Die »Geständigen« landeten dann allemal auf dem Scheiterhaufen oder im Erschießungskeller der Lubjanka.
Die Verfolger jagen das »Böse«, das sie selbst in sich tragen, in Gestalt des Bösen, das sie anderen zuschreiben, und sie versuchen, es zu vernichten, indem sie selbst zu Quälteufeln und Massenmördern werden. Diese Jagd findet kein Ende. Darum ist die Folter ein Selbstzweck. Bei den anderen »Zwecken«, die jeweils vorgeschoben werden, um ihren Einsatz zu »legitimieren«, handelt es sich entweder um imaginäre oder sie werden durch das »Mittel« der Folter zunichte gemacht. So, wie in früheren Zeiten die »Juden« als Brunnenvergifter und »Rassenschänder«, die »Hexen« als Vieh- und Menschenverderber, die »Trotzkisten« als Volksfeinde gejagt wurden, so heftet sich heute der Verfolgungswahn der Verfolger an »Terroristen« mit der Bombe im Schuh und dem Pilotenschein in der Tasche und an »Araber«, die eine Prise Plutonium im Gepäck haben. Unablässig sind die Folterer auf der Suche nach sich selbst als dem eigentlichen »Verbrecher«, und diese Jagd geht ins Maßlose und Unendliche — wie die Kriege gegen die »Ungläubigen« und die gegen die »Terroristen«.

Unser Interesse ist, zu verhindern, dass sich die Schrecken des 20.Jahrhunderts wiederholen oder gar potenzieren. Darum ist es Zeit für ein minimales Aktionsprogramm der Weltbürger des 21.Jahrhunderts. Zu den wenigen Punkten eines solchen Programms wird die unbedingte Ächtung und Verweigerung von Folter und Massaker gehören, weil Folter und Massaker jedes Ziel zunichte machen, zu dessen vermeintlicher Beförderung sie eingesetzt werden. Die internationalen Deklarationen und Konventionen gegen Folter und Massaker sind einstweilen nur die »feierliche Ergänzung« einer Welt, in der Folter und Massaker an der Tagesordnung sind. Sollen diese kontrafaktischen Deklamationen in unsere Praxis übersetzt werden, dann müssen Millionen von Eltern und Lehrern die Verhinderung von Folter und Massaker zu ihrer Sache machen. Sie müssen aufhören, diese Untaten furchtsam zu beschweigen oder sie (in geheimem Einverständnis mit dem Schrecken, der andere trifft) für »unvermeidlich« zu erklären. Stattdessen sollen sie in Familien und Schulen ihren Abscheu vor den barbarischen Praktiken bekunden und durch ihr Beispiel die heranwachsende Generation lehren, sich in die Opfer, in alle Opfer, einzufühlen.
In Schulen und Universitäten, in Polizeischulen, Militärakademien und Kasernen muss die Verpönung von Folter und Massaker gelehrt werden, muss im Besonderen über die Geschichte der Folter und über die Folgen der Folter für Opfer und Täter informiert werden. Jeder Polizist und jeder Soldat muss speziell auf die Verweigerung von Folter und Massaker (statt nur allgemein auf Vaterland und Verfassung) vereidigt werden. Die Beteiligung an oder die Duldung von Folter und Massaker müssen mit dem höchsten Strafmaß geahndet werden. Wir müssen endlich dazu übergehen, diejenigen, die für Folter und Massaker verantwortlich sind, vom Verteidigungsminister bis zum Handlanger, vom Gefängnisdirektor bis zum ärztlichen Gutachter, öffentlich anzugreifen und zu diskriminieren.
Um ein Minimalprogramm gegen die Barbarei durchzusetzen, brauchen wir ein neues Bündnis der denkenden und leidenden Menschen. Und wenn es Institutionen gibt, die sich ohne Folter und Massaker nicht aufrechterhalten lassen, dann müssen wir auf die Abschaffung dieser Institutionen hinarbeiten.

Helmut Dahmer

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