SoZSozialistische Zeitung |
Mitte Oktober trafen sich in London mehr als 20000 Menschen zum dritten
Europäischen Sozialforum Leute aus den Sozialbewegungen, den Friedensorganisationen und
Gewerkschaften, aus ganz Europa und der Welt. Und sie diskutierten: Wie lässt sich die herrschende
Richtung ändern? Kann es in einer konzern-globalisierten Welt soziale Gerechtigkeit geben? Vor allem
zwei Beispiele lassen diese Frage in den Mittelpunkt rücken. Zum einen Deutschland und die
Sozialreformen unter Gerhard Schröder, zum andern das neue, transformierte Venezuela unter Hugo
Chávez.
Grundsätzlich geht es um die Frage: Ist die Gesellschaft für die Wirtschaft da oder
umgekehrt die Wirtschaft für die Gesellschaft? Bei Schröders Agenda 2010 geht es, neben
Kürzungen im Gesundheits- und Sozialbereich, im Kern um eine Arbeitsmarktreform. Das private Kapital
lässt Deutschland im Stich.
Innerhalb der letzten 10 Jahre sank die
Investitionsrate von 24% des Bruttoinlandprodukts auf nur noch 20%. 4,5 Millionen Menschen wurden
arbeitslos. Die Schröder-Lösung: drastische Kürzungen bei vielem, was die Deutschen seit
Bismarck als ihr universales Recht ansahen. Arbeitslosenhilfe wird auf minimale 345 Euro im Monat
gekürzt. Jeder soll jeden Job innerhalb Deutschlands annehmen müssen, sonst gibt es
nichts mehr. »Welfare to Work« und Ich-AGs werden eine neue Kaste von Niedriglöhnern in
prekärer Jobsituation schaffen. Kurz gesagt: Der Markt wird auf die Menschen losgelassen.
Was einem bei diesen Reformen am meisten ins
Auge sticht: Das deutsche Volk will sie nicht. Vor diesem Hintergrund ist auch das katastrophale
Abschneiden der regierenden Sozialdemokraten bei den letzten Wahlen zu sehen, das Revival der linken PDS
und (am problematischsten) die Gewinne der ganz offen faschistoiden Rechten.
Der anschwellende Widerstand richtet sich im Kern gegen folgendes undemokratische Argument: Die Reformen
seien ökonomisch notwendig was sozial gewollt sei, sei folglich unerheblich. Wachstum und eine
höhere Investitionsrate seien nur zu erreichen, indem man Arbeitskosten drückt und die Rechte der
Arbeitenden beschneidet. Natürlich wäre es den Deutschen lieber, man würde keine weitere
Million Kinder unter die Armutsgrenze drücken, und vielleicht schreckt es die merkwürdige Spezies
der philanthropischen Liberalen, Arbeitslose zu Wanderarbeitern zu machen. Leider lasse die globalisierte
Welt dem wettbewerbsorientierten Deutschland aber keine andere Wahl. Was der Markt verlange, müsse
getan werden.
Die zentrale Behauptung der
»Reformer« hat allerdings einen interessanten Haken. Die Weltmarktstellung Deutschlands im
Bereich Handel (der wichtigste Index) verdeutlicht die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. So konnte
Deutschland im zweiten Quartal einen Überschuss von 24 Milliarden Euro erwirtschaften so etwas
gab es noch nie. Die eigentliche Frage ist daher: Was wird aus dem ganzen Überschuss? Werden die
Deutschen wieder nachhaltig in eine soziale Zukunft investieren wie in den vergangenen 20 Jahren, in
denen das Land seinen jetzigen Wohlstand erlangte?
Eine Wirtschaftspolitik, die den erzielten
Überschuss in soziale Gerechtigkeit investiert, wäre die einzig sinnvolle Antwort. Es ist ja
nicht so, dass man diese Politik neu erfinden müsste. Deutschland hat durchaus die politische und
wirtschaftliche Kraft zum Fahrplanwechsel für einen anderen Weg. Die Berliner Regierung könnte
das Wachstum und den Arbeitsmarkt ankurbeln, indem sie die Bundesbank an die Kandarre nimmt. Die Welt
würde jubeln, falls Berlin seinen Einfluss zur Senkung der Euro-Zinsen geltend machte. Und Berlin
könnte erstmals durch Linke eine Welle staatlicher Investitionen einleiten, um
Deutschland vom Rande des Chaos zurückzuholen: ein Chaos, das uns fatal an die Weimarer Zeit erinnert.
Stattdessen hat sich Berlin entschieden, den
Wählerwillen zu ignorieren. Berlin entschied sich gegen soziale Rechte und dafür, der extremen
Rechten die Tür zu öffnen. Warum? Weil es das neoliberale Establishment so will.
Im Grunde ist jede Wirtschaftsentscheidung
auch eine soziale. Wir haben die Wahl: Entweder wir wollen eine Gesellschaft, in der Grundrechte wie
Bildung, Gesundheit, Wohnen, Kindergeld und anständige Renten wichtig sind oder wir entscheiden
uns für Gier: für eine Pandemie der Ungleichheit, des ökologischen Vandalismus, des zivilen
Chaos und der sozialen Verzweiflung.
Schon Jonathan Swift sagte sarkastisch: Wenn
nur noch wirtschaftliche Effizienz zählt, warum lösen wir nicht einfach das ganze Problem, indem
wir Kinder essen?
Die Schröder-Reformen haben das
Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft auf perverse Art auf den Kopf gestellt. Gerechtigkeit und
Demokratie werden auf dem Altar des Mythos »Markt« geopfert. Wie einst die Götter steht der
Markt jenseits der Gesellschaft so wird behauptet , dabei ist er deren Produkt. Politische
Entscheidungen kaschiert man als »Marktzwang«.
Natürlich kann nicht jedes
Wirtschaftssystem allen sozialen Optionen gerecht werden. Unerfüllbare Hoffnungen zu wecken ist etwas
Utopisches. Deutschlands Möglichkeiten hingegen sind nicht utopisch. In Deutschland gingen Zeiten
hohen Wachstums stets mit gesteigerten Sozialausgaben einher.
Von 1950 bis 1970 stieg das deutsche Wachstum
um 240% ein unerreichtes Beispiel für Wachstum im Sozialstaat. Ein anderes Deutschland ist
folglich möglich das heißt, falls drei Voraussetzungen erfüllt sind: Gebt dieser
Gesellschaft, was sie wirklich will, zweitens muss die Wirtschaftspolitik diesem Ziel dienen, und drittens
muss ein politisches Bündnis diese Politik umsetzen.
Viele Länder vor allem Lateinamerikas sind Beispiele für die Richtigkeit dieses
Ansatzes. Ein Schwerpunkt der Diskussionen auf dem Londoner ESF waren daher die vielfältigen
Erfahrungen Lateinamerikas. Zwar sind die Sozialdemokraten und Liberalen des Westens noch immer mit der
Auswertung der Experimente Venezuela unter Hugo Chávez, Brasilien unter Lula und Argentinien unter
Nestor Kirchner beschäftigt. Einiges steht aber schon jetzt fest.
Eine »Wirtschaftslogik«, die im
Gewand der neoliberalen Globalisierung daherkommt, ist sozialer und politischer Selbstmord. So hat sich der
Quotient zwischen den durchschnittlichen Einkommen in entwickelten Ländern und denen im Rest der Welt
innerhalb von nur 25 Jahren mehr als verdoppelt: von 10,7 auf 23,3 eine in der Geschichte einmalige
Kluft. In Argentinien stieg der Quotient zwischen den Durchschnittseinkommen der oberen 10% und denen der
unteren 10% der Bevölkerung in nur zehn Jahren von 25 auf 64. Kaum anders die Situation in den
übrigen Ländern des amerikanischen Kontinents. Die Globalisierung der Märkte zerreißt
die Gesellschaft.
Wenn man wie Hugo Chávez Sozialreformen
initiiert, die weiten Teilen der Bevölkerung ihre Grundrechte wiedergeben wie Mindestlohn,
Bildung, Alphabetisierung und Gesundheit kann man auf überwältigende soziale und
politische Unterstützung zählen, selbst bei gemäßigten Reformen.
Nicht nur die Wahlergebnisse (in Venezuela)
belegen dies. Selbst die venezolanische Opposition nahm die Reformvorschläge in ihr Wahlkampfprogramm
auf. Es kam zu einer sozialen Welle der Unterstützung für die Reformen die das
fadenscheinige Argument fehlender wirtschaftlicher Nachhaltigkeit einfach hinwegfegte. Die hohe
Wählerquote (in Venezuela) wurde übrigens nie ernsthaft angezweifelt.
Welchen Maßstab man auch zugrunde legt,
das Beispiel Venezuela beweist: Wird sozialen Zielsetzungen Priorität eingeräumt, beteiligt sich
die Bevölkerung (wieder) massiv am politischen Prozess.
Zentrale Bedeutung kommt in diesem Fall einer
Binsenweisheit zu: Venezuela verfüge über Öl und damit über die nötigen
ökonomischen Ressourcen für einen Wandel. Natürlich besitzt Venezuela Ölressourcen
genau wie der Nahe Osten. Aber anders als andere Ölstaaten hat sich Venezuela entschieden,
diese Ressourcen sozial einzusetzen. Es war eine politische Entscheidung, keine ökonomische.
Wenn jedoch ein verarmtes Land wie Venezuela
in der Lage ist, ein alternatives Wirtschaftsmodell umzusetzen, dann ist es das reiche Deutschland erst
recht bzw. Europa oder Japan, ja selbst die USA. Eine andere Welt ist möglich wirklich.
Die Sozialforumsbewegung, die ihren Ausgang im brasilianischen Porto Alegre nahm, wird es schaffen
da sie den traditionellen intellektuellen »Gedankenfluss« umkehrt: Jetzt werden nicht mehr die
Wirtschaftstheorien des Nordens in die südliche Halbkugel exportiert; stattdessen werden die
Sozialforen die Soziologie des Südens in den Norden importieren.
Alan Freeman
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