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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 3

Deutschlands Sozialreformen

Warum nicht Kinder essen?

Mitte Oktober trafen sich in London mehr als 20000 Menschen zum dritten Europäischen Sozialforum — Leute aus den Sozialbewegungen, den Friedensorganisationen und Gewerkschaften, aus ganz Europa und der Welt. Und sie diskutierten: Wie lässt sich die herrschende Richtung ändern? Kann es in einer konzern-globalisierten Welt soziale Gerechtigkeit geben? Vor allem zwei Beispiele lassen diese Frage in den Mittelpunkt rücken. Zum einen Deutschland und die Sozialreformen unter Gerhard Schröder, zum andern das neue, transformierte Venezuela unter Hugo Chávez.

Grundsätzlich geht es um die Frage: Ist die Gesellschaft für die Wirtschaft da oder umgekehrt die Wirtschaft für die Gesellschaft? Bei Schröders Agenda 2010 geht es, neben Kürzungen im Gesundheits- und Sozialbereich, im Kern um eine Arbeitsmarktreform. Das private Kapital lässt Deutschland im Stich.
Innerhalb der letzten 10 Jahre sank die Investitionsrate von 24% des Bruttoinlandprodukts auf nur noch 20%. 4,5 Millionen Menschen wurden arbeitslos. Die Schröder-Lösung: drastische Kürzungen bei vielem, was die Deutschen seit Bismarck als ihr universales Recht ansahen. Arbeitslosenhilfe wird auf minimale 345 Euro im Monat gekürzt. Jeder soll jeden Job — innerhalb Deutschlands — annehmen müssen, sonst gibt es nichts mehr. »Welfare to Work« und Ich-AGs werden eine neue Kaste von Niedriglöhnern in prekärer Jobsituation schaffen. Kurz gesagt: Der Markt wird auf die Menschen losgelassen.
Was einem bei diesen Reformen am meisten ins Auge sticht: Das deutsche Volk will sie nicht. Vor diesem Hintergrund ist auch das katastrophale Abschneiden der regierenden Sozialdemokraten bei den letzten Wahlen zu sehen, das Revival der linken PDS und (am problematischsten) die Gewinne der ganz offen faschistoiden Rechten.

Ist die Agenda 2010 ökonomisch notwendig?

Der anschwellende Widerstand richtet sich im Kern gegen folgendes undemokratische Argument: Die Reformen seien ökonomisch notwendig — was sozial gewollt sei, sei folglich unerheblich. Wachstum und eine höhere Investitionsrate seien nur zu erreichen, indem man Arbeitskosten drückt und die Rechte der Arbeitenden beschneidet. Natürlich wäre es den Deutschen lieber, man würde keine weitere Million Kinder unter die Armutsgrenze drücken, und vielleicht schreckt es die merkwürdige Spezies der philanthropischen Liberalen, Arbeitslose zu Wanderarbeitern zu machen. Leider lasse die globalisierte Welt dem wettbewerbsorientierten Deutschland aber keine andere Wahl. Was der Markt verlange, müsse getan werden.
Die zentrale Behauptung der »Reformer« hat allerdings einen interessanten Haken. Die Weltmarktstellung Deutschlands im Bereich Handel (der wichtigste Index) verdeutlicht die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. So konnte Deutschland im zweiten Quartal einen Überschuss von 24 Milliarden Euro erwirtschaften — so etwas gab es noch nie. Die eigentliche Frage ist daher: Was wird aus dem ganzen Überschuss? Werden die Deutschen wieder nachhaltig in eine soziale Zukunft investieren — wie in den vergangenen 20 Jahren, in denen das Land seinen jetzigen Wohlstand erlangte?
Eine Wirtschaftspolitik, die den erzielten Überschuss in soziale Gerechtigkeit investiert, wäre die einzig sinnvolle Antwort. Es ist ja nicht so, dass man diese Politik neu erfinden müsste. Deutschland hat durchaus die politische und wirtschaftliche Kraft zum Fahrplanwechsel für einen anderen Weg. Die Berliner Regierung könnte das Wachstum und den Arbeitsmarkt ankurbeln, indem sie die Bundesbank an die Kandarre nimmt. Die Welt würde jubeln, falls Berlin seinen Einfluss zur Senkung der Euro-Zinsen geltend machte. Und Berlin könnte — erstmals durch Linke — eine Welle staatlicher Investitionen einleiten, um Deutschland vom Rande des Chaos zurückzuholen: ein Chaos, das uns fatal an die Weimarer Zeit erinnert.
Stattdessen hat sich Berlin entschieden, den Wählerwillen zu ignorieren. Berlin entschied sich gegen soziale Rechte und dafür, der extremen Rechten die Tür zu öffnen. Warum? Weil es das neoliberale Establishment so will.
Im Grunde ist jede Wirtschaftsentscheidung auch eine soziale. Wir haben die Wahl: Entweder wir wollen eine Gesellschaft, in der Grundrechte wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Kindergeld und anständige Renten wichtig sind — oder wir entscheiden uns für Gier: für eine Pandemie der Ungleichheit, des ökologischen Vandalismus, des zivilen Chaos und der sozialen Verzweiflung.
Schon Jonathan Swift sagte sarkastisch: Wenn nur noch wirtschaftliche Effizienz zählt, warum lösen wir nicht einfach das ganze Problem, indem wir Kinder essen?
Die Schröder-Reformen haben das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft auf perverse Art auf den Kopf gestellt. Gerechtigkeit und Demokratie werden auf dem Altar des Mythos »Markt« geopfert. Wie einst die Götter steht der Markt jenseits der Gesellschaft — so wird behauptet —, dabei ist er deren Produkt. Politische Entscheidungen kaschiert man als »Marktzwang«.
Natürlich kann nicht jedes Wirtschaftssystem allen sozialen Optionen gerecht werden. Unerfüllbare Hoffnungen zu wecken ist etwas Utopisches. Deutschlands Möglichkeiten hingegen sind nicht utopisch. In Deutschland gingen Zeiten hohen Wachstums stets mit gesteigerten Sozialausgaben einher.
Von 1950 bis 1970 stieg das deutsche Wachstum um 240% — ein unerreichtes Beispiel für Wachstum im Sozialstaat. Ein anderes Deutschland ist folglich möglich — das heißt, falls drei Voraussetzungen erfüllt sind: Gebt dieser Gesellschaft, was sie wirklich will, zweitens muss die Wirtschaftspolitik diesem Ziel dienen, und drittens muss ein politisches Bündnis diese Politik umsetzen.

Sind Alternativen politisch möglich?

Viele Länder — vor allem Lateinamerikas — sind Beispiele für die Richtigkeit dieses Ansatzes. Ein Schwerpunkt der Diskussionen auf dem Londoner ESF waren daher die vielfältigen Erfahrungen Lateinamerikas. Zwar sind die Sozialdemokraten und Liberalen des Westens noch immer mit der Auswertung der Experimente Venezuela unter Hugo Chávez, Brasilien unter Lula und Argentinien unter Nestor Kirchner beschäftigt. Einiges steht aber schon jetzt fest.
Eine »Wirtschaftslogik«, die im Gewand der neoliberalen Globalisierung daherkommt, ist sozialer und politischer Selbstmord. So hat sich der Quotient zwischen den durchschnittlichen Einkommen in entwickelten Ländern und denen im Rest der Welt innerhalb von nur 25 Jahren mehr als verdoppelt: von 10,7 auf 23,3 — eine in der Geschichte einmalige Kluft. In Argentinien stieg der Quotient zwischen den Durchschnittseinkommen der oberen 10% und denen der unteren 10% der Bevölkerung in nur zehn Jahren von 25 auf 64. Kaum anders die Situation in den übrigen Ländern des amerikanischen Kontinents. Die Globalisierung der Märkte zerreißt die Gesellschaft.
Wenn man wie Hugo Chávez Sozialreformen initiiert, die weiten Teilen der Bevölkerung ihre Grundrechte wiedergeben — wie Mindestlohn, Bildung, Alphabetisierung und Gesundheit — kann man auf überwältigende soziale und politische Unterstützung zählen, selbst bei gemäßigten Reformen.
Nicht nur die Wahlergebnisse (in Venezuela) belegen dies. Selbst die venezolanische Opposition nahm die Reformvorschläge in ihr Wahlkampfprogramm auf. Es kam zu einer sozialen Welle der Unterstützung für die Reformen — die das fadenscheinige Argument fehlender wirtschaftlicher Nachhaltigkeit einfach hinwegfegte. Die hohe Wählerquote (in Venezuela) wurde übrigens nie ernsthaft angezweifelt.
Welchen Maßstab man auch zugrunde legt, das Beispiel Venezuela beweist: Wird sozialen Zielsetzungen Priorität eingeräumt, beteiligt sich die Bevölkerung (wieder) massiv am politischen Prozess.
Zentrale Bedeutung kommt in diesem Fall einer Binsenweisheit zu: Venezuela verfüge über Öl und damit über die nötigen ökonomischen Ressourcen für einen Wandel. Natürlich besitzt Venezuela Ölressourcen — genau wie der Nahe Osten. Aber anders als andere Ölstaaten hat sich Venezuela entschieden, diese Ressourcen sozial einzusetzen. Es war eine politische Entscheidung, keine ökonomische.
Wenn jedoch ein verarmtes Land wie Venezuela in der Lage ist, ein alternatives Wirtschaftsmodell umzusetzen, dann ist es das reiche Deutschland erst recht — bzw. Europa oder Japan, ja selbst die USA. Eine andere Welt ist möglich — wirklich. Die Sozialforumsbewegung, die ihren Ausgang im brasilianischen Porto Alegre nahm, wird es schaffen — da sie den traditionellen intellektuellen »Gedankenfluss« umkehrt: Jetzt werden nicht mehr die Wirtschaftstheorien des Nordens in die südliche Halbkugel exportiert; stattdessen werden die Sozialforen die Soziologie des Südens in den Norden importieren.

Alan Freeman

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