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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 5

Kampf der Kulturen?

Joost Kircz über die Hintergründe des Mordes an Theo van Gogh und seine Instrumentalisierung

Nach dem Mord an dem niederländischen Filmemacher und Journalisten Theo van Gogh und den an ihn sich anschließenden Anschlägen, sehen viele die niederländische Gesellschaft am Rande einer ethnischen Explosion. Angela Klein und Christoph Jünke sprachen für die SoZ mit Joost Kircz, politischer Journalist und Mitglied des Stadtteilrats für Amsterdam anders/De Groenen.

Wie lassen sich der Mord an Theo van Gogh und die sich an ihn anschließenden Unruhen und Diskussionen verstehen?

Die Situation in den Niederlanden ist recht kompliziert. Das Problem mit den ausländischen Arbeitern, die, anders als die alten Generationen spanischer oder italienischer Gastarbeiter, seit den 70ern zu einem großen Teil aus den armen Gegenden und Schichten Marokkos kommen, ist, dass es sich dabei vor allem um vollkommen ungebildete und sehr arme Menschen handelt.
Die Situation wurde schwierig, als der industrielle Niedergang in den Niederlanden begann und die spanischen und italienischen Arbeiter in ihre Länder zurückgingen. Die Marokkaner brachten nun ihre Familien nach Holland, wo es ein spezifisches Sozialsystem gibt, dass ihnen eine ausreichende Existenz garantierte. Was als humanes Recht auf Familienleben und soziale Sicherheit in spezifisch christlich-sozialdemokratisch-niederländischer Tradition gedacht war, wurde von vielen als Freifahrtschein betrachtet. Im Angesicht der weit verbreiteten Angewohnheit, das Geld aus diesen Sozialkassen zu den in Marokko gebliebenen Familienteilen zu transferieren, und in Kombination mit der steigenden Arbeitslosigkeit, wurde der Druck auf das vom Staat kaum noch zu kontrollierende Sozialsystem enorm — ein Punkt, der schon früh von der extremen Rechten thematisiert wurde.
Das war und ist eine schwierige Situation für eine sozialistische Linke. Auf der einen Seite haben wir das Recht dieser Menschen auf Arbeit, auf Familie und soziale Sicherheit, das wir verteidigen müssen. Auf der anderen Seite findet keine Integration dieser Menschen mehr über die Arbeit statt. Die Krise gerade in der Industrie greift um sich. Natürlich unterstützen diese Menschen ihre Familie, das ist ihr gutes Recht. Doch wird andererseits dieser Geldfluss von der Rechten als Argument gegen ausländische, oftmals arbeitslose Arbeiter gewendet.
Diese Form einer informellen Dritte-Welt-Hilfe befördert nicht gerade ein gutes Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen. Doch wie kann man diese Menschen sinnvoll in die Gesellschaft integrieren? Das reale Problem ist mehr noch, wie man ein Sozialsystem erhalten kann, das auf anderen Grundlagen aufgebaut ist, und das nun explodiert.
Hier liegt einer der Hauptgründe für den großen Unmut vieler Leute gegen die marokkanischen und andere islamische Immigranten, die auf der anderen Seite sehr verarmt und isoliert sind. Die gebildeten marokkanischen Immigranten sprechen zumeist französisch, die meisten anderen aber arabisch. Und sie ziehen sich zurück in Milieus, in denen sie zurecht kommen. Sie wachsen zwar im Prinzip bilingual auf, aber viele sprechen weder gut niederländisch noch arabisch, haben keine Arbeit, nichts zu tun und auch keine Lebensperspektive. Viele treffen dann auf moslemische Prediger, suchen nach heroischen Figuren, sehen bspw. die grünen Flaggen der Palästinenser auf großen Demonstrationen. Alle diese Formen jugendlicher Begeisterung geben vielen von ihnen eine Perspektive, nach der sie sich sehnen.
Die christliche und sozialdemokratische Politik hat lange versucht, dieses Problem zu deckeln, notfalls mit Geld klein zu halten. Doch die propagierte Ideologie des Multikulturalismus ist eben keine atheistisch-säkularisierte, die die Religion in Frage stellt. Noch vor 40 Jahren kam die katholische Identität in den Niederlanden — sicherlich auch in der Bundesrepublik — ähnlich fundamental und verschleiert daher. Auch auf der Linken war der Kampf gegen die Religion lange kein besonderes Thema mehr. Wie soll man da gegen den moslemischen Fundamentalismus argumentieren?

Ein weiteres Problem, wenn wir das richtig verstanden haben, sind in den Niederlanden die öffentlichen Bekenntnisschulen?

Ja, das stimmt. Wir haben eine lange und umfangreiche Tradition von christlichen, katholischen wie calvinistischen Schulen, die vollständig gleichberechtigt sind mit den öffentlichen Schulen. Das geht auf das historische Bündnis von Sozialdemokraten und konfessionelle Parteien für das allgemeine Wahlrecht zurück. Diese Schulen werden vom Staat finanziert. Und in vollkommener Übereinstimmung mit diesen Gesetzen gibt es eben auch viele moslemische Schulen. Wie will man die eingrenzen, wenn man nicht gleichzeitig auch den christlichen Schulen das Geld entzieht? Das aber wäre ein tiefgreifender, fundamentaler Bruch mit der niederländischen Tradition.
Ein anderer Widerspruch ist der, dass es auf der einen Seite die steigende Faszination junger Muslime bspw. für den Befreiungskampf der Palästinenser gibt, und auf der anderen Seite die besondere Tradition des Rechts auf freie Rede. Dies ist eine sehr spezifisch niederländische, im Grunde pragmatische Tradition: Du kannst wirklich alles sagen, was du denkst, und das ist gut so — aber es interessiert niemanden wirklich.
Und da sind wir bei dem Filmemacher und Journalisten Theo van Gogh, der sich dieser Methode bedient hat und genau hieraus seine Bekanntheit zog.

War er ein Rechter?

Nein, nicht wirklich. Er war ein Provokateur. Er war ein ernsthafter Journalist — ich habe ihn nicht gerne gemocht —, aber auch ein Showmaker der oberen bourgeoisen Mittelklasse, für die Witze über Juden, Islamisten und andere Minderheiten vollkommen akzeptabel sind. Das war schon ziemlich grauenhaft gelegentlich, wurde jedoch verkauft als Redefreiheit. Und diese Redefreiheit ist sehr tief verwurzelt in der niederländischen Kultur. Das einzige, was in einer solchen Handelsgesellschaft wie der niederländischen traditionell zählt, ist der Profit, das was hinten rauskommt. Wenn das stimmt, ist alles andere OK, eben auch die Redefreiheit. Bist du jüdisch, moslemisch oder christlich — vollkommen egal, Hauptsache alles andere läuft. Und diese Kultur hat eben auch Van Gogh sehr gut bedient.
Das Problem war nur, dass sich auf der anderen Seite eine neue Kultur entwickelt hat, eben die vorhin erwähnte einer islamistischen Gegenidentität, die sich als Opfer auch dieser Provokationskultur sieht. Da kam dann dieser gut gebildete Junge, halb Araber, halb Holländer, eigentlich schon mehr Holländer als Araber. Es passierte Schreckliches in seinem Leben, seine Mutter starb, und er wandte sich zum Fundamentalismus. Das hat man ja immer wieder und die Angebote im vermeintlich heroischen Kampf gegen die Werte der eigenen Gesellschaft sind ja heute da — in Palästina, in Tschetschenien, im Irak usw.

Aber die Gegenreaktion vieler Niederländer hat uns überrascht.

Ja, die ist bemerkenswert und ein ernstes Problem. Die Mehrheit ist auf eine rechtsformalistische Position übergeschwenkt. Man muss das Recht einhalten und verteidigen: »Wir« müssen die freie Gesellschaft gegen ihre »Feinde« verteidigen. Das geht nach ganz rechts außen. Viele sagen: Wir müssen jetzt die Freiheiten beschränken, Sicherheitsgesetze akzeptieren, die Religion angreifen usw. Interessanterweise sind die Christdemokraten hier vorsichtiger, sie wissen, dass dies schnell auch gegen die christliche Religion gewendet werden kann.
Besonders tun sich hier jedoch Linksliberale und Ex-Linke hervor, die plötzlich massenweise davon reden, dass sie Unrecht hatten, dass die Konservativen Recht hatten, dass man sich mit Härte gegen die Anderen verteidigen müsse, usw.
Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der der Anschlag ganz offensichtlich ausgenutzt werden soll, um eine härtere Gangart, ein autoritäreres Regime durchzusetzen. Und dies fordern nicht mehr nur »dumme« Rechte, sondern zunehmend auch intelligente Liberale und Linke. Und sie werden zunehmend lauter.
Interessant ist, dass die moslemischen Gemeinden sich schnell und ausgesprochen überzeugend von dieser Tat distanziert haben. Aber die rechten Führer wittern ihre Chance, die Situation anzuheizen und für ihre Zwecke auszunutzen. Und prompt greifen rechte Leute moslemische Schulen an.

Ist dies eine organisierte extreme Rechte?

Nein, nein, eine solche ist kaum existent. Es sind aufgeputschte Leute. Typisch ist die Situation in der Pim-Fortuyn-Liste. Dort hat sich ja die Parlamentsgruppe von der eigentlichen Partei abgespalten. Und auch diese Parlamentsgruppe ist auf Distanz zu den rechten Anschlägen gegangen. Der übriggebliebene Parteiführer dagegen hat sich selbst eine Morddrohung geschickt und als islamistische Morddrohung ausgegeben, bis ihm die Justiz das Gegenteil bewies.
Da kann man sehen, welche kranke Blüten diese Atmosphäre treibt. Dieser Kerl ist nun wirklich ein ultrarechter Spinner, der immerhin entlarvt wurde, weil er wirklich selten dämlich agiert hat. Problematischer ist deswegen die breite Akzeptanz dieser Kampagne in Schichten, die durchaus nicht doof sind. Wir beobachten hier, in diesem Kontext, den Aufstieg einer Rechten, die sehr viel gebildeter und schlauer ist als die bisherige.

Und was macht die holländische Sozialdemokratie?

Die zeichnet sich nicht gerade durch Schläue aus. Ein großer Teil unterstützt den Ruf nach dem starken Staat und macht das allgemeine Spiel mit, das da heißt, man sei zu blauäugig gewesen, die anderen hätten Recht behalten, usw.
Auch sie lernen natürlich nicht aus alten Fehlern, thematisieren nicht die Religionsfrage als allgemeine Emanzipationsfrage auch gegen die eigene Tradition. Auch die Führerin der grün-linken Partei rief zur Diskussion zwischen dem Islam und »unserer Kultur« auf und forderte eine Rede der Königin für die Einheit des Landes.
Es gibt auch sehr vereinzelte Leute, bspw. den Amsterdamer Bürgermeister, die sich sehr klug gegen die aufgezeigten Gefahren wenden. Ich bin kein Freund dieses Mannes, aber der macht seinen Job ausgesprochen gut. Er steht nicht ganz allein, aber viele gibt es nicht. Diese Minderheit ist klein und ich bin nicht sehr optimistisch, dass sie mehr Einfluss gewinnen können.
Die Fortuyn-Krise hat etwa zwei Jahre gedauert, aber da ging es um eine einzige Partei. Hier ist eine ganze Gemeinschaft, eine ganze Gesellschaft geschockt. Das ist eine andere Quantität und damit auch eine andere Qualität.

Und gibt es auf der Linken links von »Rot-Grün« Reaktionen oder Konzeptionen, die ein anderes Zeichen setzen?

Nein, nicht wirklich. Die Linke kann den jungen, islamisch beeinflussten Menschen keine Alternativen bieten. Ein Emanzipationskampf von links, der in seinem Zentrum vor allem ein Kampf um Säkularisierung sein müsste, eine Säkularisierung, die gerade auch die westlichen, christlichen Traditionen angreifen müsste, sehe ich nicht. Es gibt auch keine vergleichbaren heroischen Kämpfe gegen die herrschenden Verhältnisse, an denen diese Jugend einen neuen, emanzipativen Sinn erlernen und erproben könnte.
Eigentlich sind ja beide Stränge der Aufklärung, der Liberalismus wie der Sozialismus, Kräfte gegen den Obskurantismus. Unglücklicherweise stehen die real existierenden liberalen Kräfte unter dem Bann der Ideologie des freien Marktes, und die sozialistischen Kräfte befinden sich noch immer in einem Prozess der Neubestimmung ihrer langfristigen Politik zur Überwindung des Kapitalismus.

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