SoZSozialistische Zeitung |
Was kann man aus der Erfahrung des Beteiligungshaushaltes von Porto Alegre
lernen, und welche Bedingungen sind erforderlich, um einen Beteiligungshaushalt nach den Grundprinzipien
von Porto Alegre einführen zu können? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen weltweit.
Porto Alegre ist die Hauptstadt von Rio Grande do Sul dem südlichsten Bundesstaat
Brasiliens und hat etwa 1,4 Millionen Einwohner. Unter der Militärdiktatur und besonders
während der 80er Jahre haben hier organisierte soziale Bewegungen wie die Bewohnerorganisationen in
den ärmsten Stadtteilen an politischer Bedeutung gewonnen.
1988, im selben Jahr, in dem Brasilien seine
erste Verfassung verabschiedete, kam es zum riesigen Erfolg der Arbeiterpartei PT im Bündnis mit
anderen kleineren linken Parteien in Porto Alegre.
Es waren also ideale Bedingungen vorhanden:
einerseits eine stark mobilisierte soziale Bewegung, anderseits eine neu gewählte Regierung, die sich
für Erweiterung der Demokratie stark machte.
Der sog. Beteiligungshaushalt machte die
Millionenstadt in den letzten 16 Jahren zu einem Gegenmodell zu neoliberalen Politikmustern. Wesentliche
Teile des Haushalts der Stadt werden jährlich einem mehrmonatigen öffentlichen Diskussions- und
Entscheidungsprozess unterzogen, an dem die gesamte Bevölkerung teilnimmt, die über wichtige
Investitionsprojekte entscheiden kann.
Standen 1988 wegen der hohen Stadtverschuldung
lediglich 2% des Haushaltes für Investitionen zur Verfügung, so waren es im Jahr 2003 20%, dessen
Prioritäten direkt von der Bevölkerung bestimmt wurden. Die Beteiligung ist also stetig gewachsen
und hat zu einer Entwicklung des politischen Bewusstseins geführt.
Die Bürger Porto Alegres haben sich aber
nicht darauf beschränkt, das zu verteilen, was die Unternehmer bereit waren, ihnen an Steuern zu
überlassen. Sie haben die Steuern aktiv dahin ausgedehnt, wo Geld vorhanden war, der verfügbare
Etat wurde damit allmählich erhöht ohne Schulden zu machen und ohne dass die Investoren
der Stadt den Rücken gekehrt hätten.
Porto Alegre ist seit zehn Jahren die
Hauptstadt Brasiliens mit der höchsten Lebensqualität und die Stadt, die die zweitmeisten
Investitionen anzieht. Die internationale Ausstrahlung der praktizierten direkten Demokratie hat u.a. dazu
geführt, dass in Porto Alegre 2001, 2002, 2003 und 2005 das Weltsozialforum veranstaltet wird
was inzwischen einen Wirtschaftsfaktor für die Stadt darstellt.
Aber verstößt das Modell nicht gegen die Gesetze? Und welche Funktion hat noch das Parlament,
wenn das Volk doch schon selber die Entscheidung über die öffentlichen Investitionen trifft? Nach
der brasilianischen Verfassung ist die Aufstellung des Haushalts einer Stadt Aufgabe des
Bürgermeisters. Er muss dem Stadtrat einen Entwurf vorlegen, der schließlich darüber
abstimmt.
Die Verfassung sieht aber auch vor, dass die
Gewalt vom Volk ausgeht und deren Ausübung sowohl durch gewählte Vertreter als auch direkt
erfolgen kann. Ein Bürgermeister kann also die Entscheidung treffen, die Verantwortung über die
Aufstellung des Haushalts direkt dem Volk zu übertragen und ihn erst danach dem Stadtrat vorzulegen.
Die Entscheidung über den Haushalt
hängt damit immer noch von der Abstimmung im Stadtrat ab, dessen Mitglieder stehen jetzt aber
ständig unter Druck. Verstoßen sie gegen den Volkswillen, ist ihre Wiederwahl gefährdet. Das
Parlament wird dadurch nicht in seiner Aufgabe behindert; die Bevölkerung bekommt aber ein weiteres
Mittel in die Hand, um das Handeln der Politiker zu kontrollieren.
Das partizipative Modell ermöglicht eine
Umkehrung der Investitionsprioritäten zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung, die meistens in den
ärmsten Stadtvierteln wohnen, es verringert zudem aufgrund seiner öffentlichen Transparenz die
Korruption.
Man hat festgestellt, dass eine einfache
Bürgerin, die ein paar Jahre am Beteiligungshaushalt teilgenommen hat, das durchschnittliche
politische Wissensniveau eines Stadtratsmitglieds erreicht. Das führt zu einem selbsttätigen
politischen Bewusstsein, und es entsteht ein neues Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. In
diesem Sinne ist der Beteiligungshaushalt nicht einfach eine Methode zu regieren, sondern er ein Mittel zur
Radikalisierung der Demokratie.
Als konkrete Ergebnisse des Modells seien
genannt:
verfügten noch 1990 nur 80% der
Bevölkerung über einen Trinkwasseranschluss, waren es 2002 98%;
stand das Abwassersystem 1989 46% der
Bevölkerung zur Verfügung, waren dies 1996 85%;
die Anzahl von Einschreibungen in
Schulen hat sich zwischen 1989 und 1999 verdreifacht;
die Anzahl der Elendsviertel ist
kontinuierlich gesunken
der Haushalt ist gestiegen; die Stadt
hat keine Schulden mehr und eine gerechtere Steuerreform wurde durchgeführt.
Zudem können Investitionen mit
öffentlichen Geldern besser, effektiver und demokratischer durchgeführt werden, wenn sie sich auf
eine lokale Basisorganisation stützen.
Aber wie funktioniert der gesamte Prozess? Dauert es nicht zu lange mit den ganzen Treffen und
Diskussionen? Nach dem aktuellen jährlichen Zyklus dauert er von März bis Dezember eines Jahres
und läuft erstaunlicherweise viel schneller als das normale bürokratische Verfahren innerhalb und
zwischen Stadtverwaltung und Stadtrat. Er fängt mit Vorbereitungstreffen im März/April an, wo die
Bevölkerung in kleinen Gruppen über mögliche Prioritäten nachdenkt. Danach geht es in
die Bezirksversammlungen, die im April/Mai stattfinden.
Hier wird ein Rechenschaftsbericht der Stadt
vorgestellt und über die Delegierten und Prioritäten jedes Bezirks abgestimmt. Seit 1994 wurden
auch thematische Foren eingerichtet: Verkehr und Transportwesen, Gesundheit und Soziales, Erziehung und
Freizeit, Stadtentwicklung und Stadtorganisation, Wirtschaftsentwicklung und Steuerpolitik, und seit
2000 Kultur.
Im Juli ist die große Stadtversammlung,
wo die Prioritäten der Stadtbezirke vorgestellt werden. Im September wird der Haushaltsentwurf
überarbeitet und bis Ende des Monats der Stadtverwaltung übergeben, die ihn dem Stadtrat
vorstellt.
Der Stadtrat hat bis zum 30. November Zeit zur
Abstimmung. Ein Rat der Delegierten sorgt dafür, dass die Investitionen tatsächlich und effektiv
durchgeführt werden.
Inzwischen gibt es in Brasilien 200
Städte, die auf kommunaler Ebene einen Beteiligungshaushalt durchführen.
Aber auch in anderen Städten
Lateinamerikas Montevideo, San Salvador und Rosario bezieht man sich auf die Grundprinzipen
Porto Alegres. In Europa gelten Barcelona, Córdoba und Rubi in Spanien; Saint-Denis, Morsang-sur-Orge
und Bobigny in Frankreich; Pieve Emanuele in Italien; Palmela in Portugal; Manchester in England und Mons
in Belgien als die bisher erfolgreichsten Beispiele.
Das Argument, direkte Demokratie sei nur in
kleinen Kommunen möglich, wurde in Brasilien überwunden, als zwischen 1999 und 2002 ein
Beteiligungshaushalt im gesamten Bundesstaat Rio Grande do Sul durchgeführt wurde.
Die damals von der PT geführte
Landesregierung war bereit, die südbrasilianische Bevölkerung direkt an die Entscheidung
über den verfügbaren Haushalt von etwa 13 Milliarden Reais (ungefähr 3,7 Milliarden Euro) zu
beteiligen. Dafür wurde der Bundesstaat in 22 Regionen eingeteilt, in denen insgesamt 333040 Menschen
in 775 Versammlungen beteiligt waren.
Dies ermöglichte die Teilnahme der
Bevölkerung an Entscheidungen über Themen wie die Agrarreform, die Gesundheits- und
Erziehungspolitik, die Steuerreform usw. also Bereiche, in denen die Kommunen nur geringen Einfluss
haben.
Antônio Inácio Andrioli
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04