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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 16

China

Mao, Jiang und der Übergang zum Kapitalismus

Der nachfolgende Beitrag ist der erste Teil einer 2002 veröffentlichten umfangreichen Auseinandersetzung mit der ideologischen Verbrämung von Chinas Weg zum Kapitalismus durch die Führung der KP Chinas.

1Auf einer Feier aus Anlass des 80.Jahrestags der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) stellte der Generalsekretär der Partei, Jiang Zemin, seine Theorie der »Drei Repräsentanten« vor. Mit ihrer Hilfe, schlug er vor, sollten die Statuten geändert und die Aufnahme von Kapitalisten in die KPCh erlaubt werden. Damals gehörten bereits etwa 120000 sog. »private Unternehmer« der KPCh an, die große Mehrheit von ihnen waren aber bereits Parteimitglieder, als sie Kapitalisten wurden. Jiang rief nun die KP dazu auf, in ihre Reihen Geschäftsleute aufzunehmen, die ihre Profite vollkommen außerhalb der Reihen der Partei zusammengerafft haben. Für die ausländische Presse war dies ein Festtag.

2Obwohl Jiangs Rede in der Volksrepublik China anfänglich auf Zustimmung stieß, wurde bald klar, dass es innerhalb der Parteiführung eine starke Opposition dagegen gab. Auf einer Konferenz des inneren Führungskerns in Bedaihe im August 2001 kam es zu einer offenen Konfrontation zwischen Jiangs Anhängern und einer beträchtlichen Zahl älterer linksorientierter Parteikader, die in einem »Brief der Vierzehn« an das ZK erklärten, Jiangs Forderung nach Zulassung von Kapitalisten stelle »in keiner Weise eine ›schöpferische Erneuerung‹ des Marxismus dar, sondern vielmehr eine offene Verneinung seiner grundlegenden Prinzipien«.
Auf dem 15.Plenum der KPCh im Oktober 2001 wurde Jiangs Vorschlag zur Änderung der Statuten nicht einmal vorgebracht, um zu vermeiden, dass der Generalsekretär sein Gesicht in der Öffentlichkeit verlor. Doch Jiangs Initiative ist damit keineswegs vom Tisch; die Doktrin der »Drei Repräsentanten« wird als Jiangs originärer Beitrag zur KP-Theorie der Nach-Mao-Ära in die Geschichte eingehen, zusammen mit Deng Xiaopings »Vier Hauptprinzipien«.
Wichtiger ist, dass die Praxis mit der Theorie schrittgehalten, ja sie sogar wie es für China heute typisch ist, übertroffen hat. Kurz nach Jiangs Rede berichtete die South China Morning Post, dass die KPCh von neuen Beitrittsgesuchen »überschwemmt« werde, sogar von Seiten Hongkonger Geschäftsleute. Der Dachverband der chinesischen Gewerkschaften lobte überschwänglich die privaten Unternehmer, die sie einst als Feinde der Arbeiterklasse betrachtet hatte. Unter den Empfängern von Ehrungen aus Anlass des 1.Mai 2002 waren vier Geschäftsleute, zwei davon Parteimitglieder, die wegen ihres »Beitrags zur wirtschaftlichen Entwicklung Chinas« ausgewählt wurden.
Trotz fortgesetzter Opposition aus den Reihen der KP und trotz verbreiteter Unzufriedenheit unter der breiten Bevölkerung deutet alles daraufhin, dass Jiang Erfolg haben wird, ja, dass er, zusammen mit den Teilen der herrschenden Eliten Chinas, für die er spricht, bereits gesiegt hat.

3Es gibt eine Reihe von Indikatoren für die These, dass die VR China praktisch ein kapitalistisches Land geworden ist und selbst die Restbestände der sozialistischen »eisernen Reisschale« im raschen Verschwinden begriffen sind. Die Einkommensunterschiede haben sich so schnell vergrößert wie sonst kaum auf der Welt: Während der Ginikoeffizient für den Grad der Armut 1981 noch 0,33 betrug, überschritt er 1994 die kritische Marke von 0,4 und beträgt mittlerweile mehr als 0,45. Er liegt damit in China höher als in Indien oder Bangladesh.
Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 900 Dollar, aber die meisten Menschen erreichen nur etwa 200 Dollar. Auf der anderen Seite gibt es bereits 1,2 Millionen Haushalte mit Einkommen von 100000 Dollar und mehr, die reichsten 20% der Bevölkerung beziehen die Hälfte des gesamten Einkommens. Es gibt Tausende von Mercedes fahrenden, in Villen lebenden Multimillionären in China, und die Zeitschrift Forbes stellt jetzt jährlich eine Liste der Superreichen zusammen.
Die meisten der rund 5 Millionen Jobs, die im Jahr 2001 geschaffen wurden, gehören zum Exportsektor; sie halten keinesfalls Schritt mit der wachsenden Erwerbslosigkeit. Etwa die Hälfte der in den Staatsbetrieben beschäftigten Werktätigen ist entlassen worden, dieser Anteil wird wohl noch steigen angesichts der jüngsten Entscheidung, die 500 wichtigsten noch verbliebenen Staatsunternehmen an ausländische Investoren zu verkaufen.
Die offizielle Erwerbslosenquote beträgt fast 5% — das sind etwa 7 Millionen Menschen —, darin nicht eingerechnet sind die 12 Millionen aus Staatsbetriebenen Entlassenen. Viele westliche Beobachter schätzen die Erwerbslosenquote in den Städten auf 25%, manche glauben sogar, dass diese Zahl verdoppelt werden muss. Allein 2001 verloren 20 Millionen städtische Lohnabhängige ihre Jobs. Ein kürzlich erschienenes Weißpapier der Regierung sagt voraus, dass weitere 20 Millionen in den nächsten vier Jahren ihre Stelle verlieren werden, weil dann die Erwerbslosigkeit einen neuen Höhepunkt erreicht.
Darüber hinaus gibt es 150 Millionen »überzählige« Arbeitskräfte auf dem Land. Zwischen 80 und 100 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter — entwurzelte Bauern ohne festen Wohnsitz, »illegale Fremde« im eigenen Land — ziehen durch das Land auf der Suche nach Arbeit. Wenn sie Glück haben, arbeiten sie 11—14 Stunden am Tag für einen Subunternehmer, der sie oftmals monatelang nicht bezahlt. Sie haben keine Mindestlöhne, sie arbeiten ohne jeden Schutz. Es war weitgehend die Arbeit einer solchen Reservearmee von Erwerbslosen, die die glitzernden Monumente des Fortschritts in der City von Shanghai geschaffen hat.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist besonders schlimm und in den letzten zwei Jahren von 50 auf 70% gestiegen; 70% der Erwerbslosen sind jünger als 35 Jahre. Während die Frauen von 1949 bis 1976 bedeutende Errungenschaften verbuchen konnten, ist die Erwerbslosenrate bei Frauen jetzt etwa doppelt so hoch wie bei Männern; China hat die höchste Selbstmordrate von Frauen in der Welt.
Es gibt einen massenhaften Abbau des öffentlichen Gesundheitssystems, das nun eines der schlechtesten auf der Welt ist. In den ländlichen Gebieten wurden die Barfußärzte abgeschafft, in den Städten die Gesundheitseinrichtungen weitgehend abgebaut. Die Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz sind nahezu verschwunden. Ein trauriges Zeugnis davon legte vor einigen Jahren die Explosion in einer ländlichen, als Schule getarnten Fabrik für Feuerwerkskörper ab, bei der zahlreiche jugendliche Angestellte starben. Zehntausende Arbeiter kommen schätzungsweise jedes Jahr in chinesischen Bergwerken um.

4Inmitten dieser immensen Anhäufung von Kapital und der Verarmung der Arbeiter und Bauern, die man als eine Art moderner primitiver Kapitalakkumulation betrachten kann, ist Korruption an der Tagesordnung, und die Entfremdung der Partei von den Massen wird zu einem Gegenstand großer Sorge selbst für die Führung der KP, die dabei Teil des Problems, nicht seiner Lösung ist. Obgleich es schwer ist, genaues Zahlenmaterial zu bekommen, gibt es Schätzungen, dass bisher durch die Privatisierung von Staatsunternehmen die Öffentlichkeit um ein Vermögen in Höhe von 60—360 Milliarden Dollar beraubt worden ist. In diesem Prozess des »Herausschneidens von Anteilen« waren oft Parteimitglieder oder ihnen Nahestehende die direkten Nutznießer.
Während die VR China dem Namen nach ein proletarischer Staat bleibt, enthüllt eine Untersuchung der renommierten Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, dass die chinesische Bevölkerung nunmehr in zehn Schichten aufgeteilt werden kann, wobei die Arbeiter und Bauern die unteren drei Schichten bevölkern. Die KPCh hingegen ist gut repräsentiert in den Spitzen der Verwaltung: hier variiert die Parteimitgliedschaft je nach Region zwischen 75 und 100%. Fast 90% der Parteifunktionäre haben einen höheren Bildungsabschluss — 1981 waren es noch 16,4%.
Die Mehrzahl der 65 Millionen Parteimitglieder ist bei den reichsten 10% der Bevölkerung gelandet, mit Jahreseinkommen von durchschnittlich 300000 Yuan (= 28000 Euro). Ein städtischer Arbeiter verdient im Jahr durchschnittlich 560 Euro. Auf den höchsten Ebenen der Partei bildet der Nachwuchs der Parteiführer die Speerspitze der Privatisierung. Jiang Mianheng, der Sohn von Jiang Zemin, im Volksmund »Chinas Digital-Prinzchen« genannt, war der Kopf der Deregulierung der Telekommunikation; Li Xiaopeng, der älteste Sohn von Li Peng, dem Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses, ist Präsident des größten unabhängigen Stromerzeugers des Landes, Huaneng Power International. Die Kinder von Premierminister Zhu Rongji und von Vizepräsident Hu Jintao arbeiten jeweils für Morgan Stanley und J.P.Morgan.
Dennoch meint ein Beobachter, die Elite der KPCh bereite sich »auf den Tag vor, wo alle Teufel losgelassen werden, wo sie versucht, einen ausländischen Pass zu bekommen und ihre Kinder und ihr Vermögen ins Ausland schickt«. Eine der Enkelinnen von Deng Xiaoping, eine naturalisierte US-Bürgerin, nahm sich ein Jahr Urlaub von Wellesley und schrieb sich als ausländische Studentin an der Universität Peking ein, um »mehr über ihr chinesisches Erbe zu erfahren«.

5Der einzige Lichtblick in diesem tristen Panorama ist die wachsende Aufmüpfigkeit der chinesischen Arbeiterklasse. Im Jahr 2000 gab es einem internen Bericht der KPCh zufolge über 3000 Arbeiteraufstände, durchschnittlich 80 pro Tag. In den letzten Monaten haben Arbeiter viele Staatsbetriebe besetzt — Spielwarenfabriken, Textilfabriken bis hin zu den berühmten Ölfeldern von Daqing, um sich ihrer Privatisierung zu widersetzen und ihre Arbeitsplätze wie auch die damit verbundenen Sicherheiten der »eisernen Reisschale« zu verteidigen.
Die Regierung hat geantwortet, sie wolle das Netz der sozialen Sicherheit ausbauen und die Korruption ausrotten, aber die Privatisierung wird fortgesetzt, sogar beschleunigt. Selbst offizielle Quellen schätzen, dass die Erwerbslosigkeit in den nächsten Jahren dramatisch ansteigen wird.
Die Führungskrise ist enorm. Es gibt Anzeichen, dass die Streikaktionen inzwischen von einer neuen Generation von Arbeiteraktivisten koordiniert werden und dass die Streikführer Beziehungen zu linksorientierten Intellektuellen aufbauen. Die Repression ist scharf und wird wahrscheinlich mit dem Anstieg von Klassenkämpfen noch anwachsen.
Diejenigen Unterstützer des chinesischen Sozialismus, die glauben, dass die Würfel noch nicht gefallen sind, dass immer noch linke Kräfte aus der KPCh gewonnen werden können und dass die Arbeiter und Bauern noch einmal den Weg des egalitären Kommunismus gehen werden, lügen sich selbst in die Tasche, wenn sie meinen, so etwas könnte ohne eine neue Revolution abgehen.

6In Jiangs eingangs zitierter Rede kristallisiert sich nicht allein die Entwicklung Chinas zur kapitalistischen Restauration, die 1978 mit dem Aufstieg Deng Xiaopings begonnen hat, sondern auch eine pseudomarxistische Erklärung für einen Prozess, der sich von Tag zu Tag offener als die Jagd der neuen herrschenden Klasse Chinas nach Macht und Reichtum enthüllt. In Jiangs Rechtfertigung klingen das Echo der Rede vom sozialistischen Aufbau und die Zitate der Gründerväter des Kommunismus so hohl, dass man unwillkürlich an Marx‘ berühmte Charakterisierung von Louis Napoleon denkt, der die Französische Revolution in der Phrase wiedererweckte, um sie in seiner Rhetorik als Farce zu wiederholen.
Aufschlussreicher als den Entstellungen des Erbes von Marx, Engels, Lenin und Mao nachzugehen ist jedoch die Untersuchung, an welchen Stellen dieses Erbe für solch opportunistische Aneignung anfällig ist. Vor allem das Hohelied, das die KPCh vom Mao Zedong der Jahre 1936—49 singt, insbesondere von Maos Konzept der »Neuen Demokratie« (1940), verweist auf eine besondere Übereinstimmung zwischen Jiangs offenem Projekt, den Kapitalismus aufzubauen, und bestimmten nationalistischen, etappentheoretischen und vom Determinismus der Produktivkräfte geleiteten Konzepten, die das Projekt der sozialen Revolution in China von Anfang an begleitet haben.
Diese Konzepte sind in vielerlei Hinsicht einzigartig für China, können aber dennoch nicht getrennt von der Gesamtstrategie der III.Internationale in der Zeit der Volksfront gesehen werden. Später wurden diese Konzepte durch eine ökonomistische Lektüre von Marx und Engels und eine pragmatische Lektüre von Lenin theoretisch gerechtfertigt, während verschiedene dialektische Kategorien bei Mao im Sinne der Klassenzusammenarbeit interpretiert wurden, vor allem die Kategorie des nichtantagonistischen Widerspruchs.
Dass diese Theoretiker und Praktiker des modernen Kommunismus Revolutionäre waren, während die Führer der KPCh von Deng bis Jiang die revolutionäre Bewegunge verraten haben, macht es nur umso dringender zu verstehen, in welchem Umfang bestimmte Theorien und Praktiken im kommunistischen Erbe zu dieser Niederlage beigetragen haben. Es stellt für uns eine Gefahr dar, wenn jene von uns, die überzeugt bleiben, dass der Kapitalismus die Antithese zum menschlichen Wohlergehen darstellt, und für »eine bessere Welt« streiten, sich weigern die Lehren aus der Farce zu ziehen, die sich in den Sitzungssälen von Shanghai und Peking vollzieht.

Barbara Foley

Aus: Barbara Foley, »From Situational Dialectics to Pseudo-Dialectics: Mao, Jiang, and Capitalist Transition«, Cultural Logic, 2002 (http://eserver.org/clogic/ 2002) (Übersetzung: Hans-Günter Mull/Angela Klein).



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