SoZSozialistische Zeitung |
Nach dem Anschluss der DDR nach Art.23 an die BRD mit seinen verheerenden
Folgen und nach dem zusammengebrochenen Metallarbeiterstreik in Ostdeutschland ist die Durchsetzung der
Agenda 2010, insbesondere die Hartz-Gesetze, eine weitere strategische Niederlage für die
Erwerbsabhängigen und die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Es wird damit nicht nur ein
Niedriglohnsektor installiert.
♦Mit der Einführung des ALG II
zum 1.1.2005 wird neben der Arbeitslosenhilfe auch die Sozialhilfe in ihrer bisherigen Form abgeschafft,
die in Deutschland anders als in anderen europäischen Ländern eine echte Armutsgrenze war, weil
auch zu gering verdienende Erwerbstätige sie in Form ergänzender Leistungen erhalten konnten. Nun
gibt es keine ergänzenden Leistungen mehr. Der Damm nach unten, der »wie ein Mindestlohn
wirkte«, ist eingebrochen und das gesamte Tarifgefüge rutscht nach unten.
Den Unternehmern ist es gelungen, den für
das Tarif- und Sozialgefüge in Deutschland konstitutiven Zusammenhang zwischen Sozialhilfe,
Mindestlohn und Tariflohn aufzubrechen. War es vordem so, dass der gebotene »Lohnabstand« zur
Sozialhilfe die Annahme einer Arbeit unter Sozialhilfeniveau unnötig machte, ist es jetzt so, dass es
keinen »zu niedrigen« Lohn mehr gibt. Löhne können jetzt auch bei
Vollzeitbeschäftigung unter die Armutsgrenze sinken.
Die Armutsgrenze ist nur noch eine
statistische Größe laut EU 60% vom Nettoäquivalenzeinkommen, das sind für
Deutschland 729 Euro im Monat. Der Lohn, den ein Wachmann aus Thüringen bei einer 40-Stunden-Woche
nach Hause trägt, liegt mit 776 Euro kaum darüber. Netto liegt er deutlich unter der
Armutsgrenze; ergänzende Leistungen aber gibt es ab dem 1.1.2005 nicht mehr. Mit der Abschaffung der
Sozialhilfe wurde die gesetzliche Verankerung der Armutsgrenze aufgehoben.
♦Lange Zeit hat wurde die
Unternehmerstrategie so beschrieben, sie ziele auf die Einführung eines Niedriglohnsektors und auf die
Spaltung der Gesellschaft in ein gut verdienendes Drittel und schlecht verdienende zwei Drittel ab.
Facharbeiter im verarbeitenden Gewerbe wurden zum oberen Drittel gezählt. Das war eine
Fehleinschätzung. Kaum war die Agenda 2010 am 1.Juli 2004 durchgewunken, holten die Unternehmer zum
nächsten Angriff aus, und zwar in den Bereichen, die zu den gut verdienenden zählen: Siemens und
die Automobilindustrie.
Jetzt geht es den oberen Lohn- und
Gehaltsschichten unter den abhängig Beschäftigten an den Kragen. Denn wenn die ALG-II-Beziehenden
Opfer bringen, wie können es dann übertariflich bezahlte VW-Arbeiter wagen, nicht ihren Teil
beizutragen? Die gewaltsame Öffnung der Lohnschere durch die Hartz-Gesetze wirkt unmittelbar als
Dumpingfaktor nicht die Osterweiterung, worauf der Blick manchmal gern verengt wird, sondern
deutsche Gesetze bewirken das.
Die Kapitalstrategie zielt nicht auf die
Zweidrittelgesellschaft, wie jene behaupten, die den Gewerkschaften vorwerfen, sie machten im Interesse der
Besserverdienenden gemeinsame Sache mit den Unternehmern. Sie beabsichtigt den Generalangriff auf das
gesamte Lohn- und Gehaltsniveau und auf die Rechte der abhängig Beschäftigten insgesamt.
Diejenigen, die Klassenkampf für etwas
Veraltetes halten dazu gehören nebst grün angehauchten besser Qualifizierten auch einige
Gewerkschaftsvorstände und -institute , werden nun darüber belehrt, wie er heute aussieht.
Kaum sind die Kernbelegschaften in wichtigen Großkonzernen in die Knie gezwungen, wird bereits die
nächste Sau durchs Dorf getrieben: die Unternehmensmitbestimmung steht auf dem Plan, angeblich ist sie
nicht EU-kompatibel.
Mit dem Abschluss verschiedener
Konzernvereinbarungen »zur Standortsicherung« wurde ein Riesenschritt in Richtung Aushöhlung
des Flächentarifs getan. Die Kapitalstrategie, Löhne künftig nur noch an die betriebliche
und regionale Produktivität zu binden oder schlicht an den kostengünstigsten Standort, ist
erheblich gefestigt worden. Unter Gewerkschaftern verstärkt sich das Gefühl der Ohnmacht.
Nach wie vor wird der Ideologie der »zu
hohen Lohnkosten« (bisher waren es die Lohnnebenkosten) kein Gegenkonzept entgegen gesetzt.
Produktionskostenvergleiche weisen immer wieder akribisch nach, dass die Lohnkosten nur noch einen
Bruchteil der Gesamtkosten ausmachten. Manches Gewerkschaftsinstitut schließt daraus, dass der
Standort Deutschland deshalb nicht ernsthaft gefährdet sei, weil es in Deutschland ja auch
Standortvorteile (z.B. hohe Qualifikation) gebe. Das lässt jedoch die elementare Weisheit außer
Acht, dass das Kapital nur durch höhere Ausbeutung der Arbeitskraft »sparen« kann.
Und wenn das variable Kapital im einzelnen
Produkt auch einen noch so geringen Anteil ausmacht, so sind doch die Lohnkosten die einzigen, die man
drücken kann, und auch das tote Kapital ist nur geronnene Arbeit. Die Öffnung der
osteuropäischen und asiatischen Märkte für westliches Kapital macht Produktionsverlagerung
deshalb zu einer Dauererpressung, gegen die nur noch internationale, vor allem europaweite
gewerkschaftliche Organisierung hilft.
♦Der Aufhebung der Armutsgrenze ist
jahrelang die Denunziation vorausgegangen, es gebe »kein Recht auf Faulheit«. Wie verlogen das
war, zeigt sich jetzt, wo die Medien sich über den Run auf die 1-Euro-Jobs wundern, der entweder mit
Geldmangel oder mit dem Drang nach einer nützlichen Beschäftigung begründet wird. Dieser
Drang wird hier aufs Perverseste ausgebeutet: Personale Dienstleistungen, die ja keinen Profit abwerfen,
werden aus dem Bereich regulärer, tariflicher Beschäftigung in den Bereich ökonomischer
Zwangsarbeit gedrückt.
Hier geht es nicht mehr um die übliche
Steigerung der wirtschaftlichen Ausbeutung, denn es besteht kein freies Vertragsverhältnis und es wird
nur eine »Aufwandsentschädigung« gezahlt. Die aber hat es in sich, denn gekoppelt an den
Erhalt des ALG II ist ein gesetzlicher Zwang zur Annahme solcher Jobs gegeben. Der DGB-Vorsitzende von
Thüringen hat deshalb von der Wiedereinführung des Reichsarbeitsdienstes gesprochen.
Noch ist der 1-Euro-Job mit vielen
Einschränkungen versehen zeitlich beschränkt, einmalig, an Qualifizierung gebunden. Wo das
Tor aber einmal aufgestoßen ist, drohen die 1-Euro-Jobs als besondere Variante des
»Kombilohns« reguläre Beschäftigungsverhältnisse in Größenordnungen zu
ersetzen. In einer Gesellschaft, die reguläre Beschäftigung kaum noch zu bieten, dafür
einschlägige historische Erfahrungen mit Zwangsarbeit hat, ist der Arbeitsdienst die naheliegende
Form, die überzählige Arbeitskraft, die aus dem Arbeitsmarkt längst ausgestoßen ist,
erneut unmittelbar unter die Knute des Kapitals zu drücken.
In die Arbeitswelt wird damit ein neues Moment eingeführt, das bisher nur Randschichten der
Gesellschaft vorbehalten blieb (Asylbewerbern oder Teilen von Sozialhilfebeziehenden). Das derzeit relativ
politisch liberale Klima in Deutschland täuscht darüber hinweg, dass wir wieder auf dem Weg in
einen Staat sind, in dem Zwang und Drill auf der Tagesordnung stehen.
Die Zurichtung von Bundeswehrsoldaten zu
Killern ist ein weiterer bedrohlicher Vorbote dafür. Es handelt sich hier nicht um Ausreißer oder
einzelne Vorfälle. Die Bundeswehr bereitet sich auf ihren neuen Auftrag vor, der durch die EU-
Verfassung sanktioniert wurde: Kriege in aller Welt zu führen, um sich die Rohstoffe und Märkte
fremder Länder zu sichern. Das erfordert nicht nur eine wieder wachsende Rüstungsproduktion, es
erfordert auch, dass die Ausbildung der Soldaten so umgestellt wird, dass sie in die Lage versetzt werden,
sich in diesen neuen Kriegen zu behaupten d.h. zu foltern und zu morden.
Es ist ein Teil der Umwandlung der Bundeswehr
in eine Interventionsarmee, wie sie seit Beginn der 90er Jahre vorbereitet wird und schließlich in der
EU-Verfassung und dem Solana-Papier seinen fortgeschrittensten Ausdruck gefunden hat. Die Festlegung der
Regierungen auf den Ausbau der EU zu einer Macht, die den USA nicht nur ökonomisch, sondern auch
militärisch den Rang ablaufen kann, verschafft Deutschland wieder die Möglichkeit, erneut als
führende Militärmacht auf dem Kontinent aufzusteigen.
Der politische Liberalismus ist ein zunehmend
dünner Firnis, der die darunter liegenden Tendenzen zum autoritären Staat notdürftig
verdeckt. Der »Krieg gegen den Terror« holt uns ein. Er dient nicht nur dem Bundesinnenminister
als Leitschnur für die Durchlöcherung des Datenschutzes und den Abbau von Bürgerrechten. Mit
der Übernahme des Unworts von der »deutschen Leitkultur« durch den CDU-Parteitag begibt sich
die Union jetzt auf das Terrain des Kampfs der Kulturen. Mit ihr wird es möglich, wie in den USA die
Gesellschaft in einen kollektiven Sicherheitswahn zu versetzen, um sie hinter einem nach außen
gerichteten Ziel zusammenzuschweißen, das ablenkt von der realen Zerstörungskraft des
niedergehenden Kapitalismus und von den anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben.
Den Nährboden für all das liefert
Angst die reale Angst um die Existenz, die Angst vor der Unsicherheit der Arbeits- und
Lebensbedingungen, schließlich die Angst, die daraus hervorwächst und auf andere Schauplätze
abgeleitet werden kann als Angst vor Terror, Gewalt, Kriminalität , damit die
herrschenden Eliten, die ansonsten jede Glaubwürdigkeit verloren haben, sich eine neue Legitimation
aufbauen können.
In mehrererlei Hinsicht kehren wir zum Beginn
der 30er Jahre zurück nur die Lösung, die sich der Kapitalismus einfallen lässt, wird
diesmal anders lauten.
Die Niederlage im Kampf gegen die Hartz-Gesetze offenbart eine Vielzahl von Schwächen der
Gegenwehr. Anders als die Unternehmer haben die Gewerkschaften den zentralen ordnungspolitischen
Stellenwert der Sozialhilfe als Armutsgrenze nicht erkannt. Sie haben sich darauf beschränkt, die
Zumutbarkeitskriterien und die Höhe der alten Arbeitslosenhilfe zu verteidigen und auch dabei
verloren.
Sie begnügen sich damit, Teilangriffe
abzuwehren, statt auf eine komplette Unternehmerstrategie mit einer ebenso abgerundeten Gegenstrategie zu
antworten. Die Gewerkschaften haben bis heute auch keine Antwort auf die erpresserische Standortpolitik
gefunden. Seit den 90er Jahren verengen sie ihren Spielraum mehr und mehr auf die betriebliche Ebene, und
das macht sie immer hilfloser.
Fügt man hinzu, dass die Vorstände
von DGB und Einzelgewerkschaften nach wie vor in Treue, wenn auch mit Bauchschmerzen, zur SPD und ihrer
Regierung stehen und nicht bereit sind, sich selbst als unabhängige Kraft ins Spiel zu bringen, die
auch die politischen Geschicke dieses Landes prägen könnte, hat man in etwa die Zutaten
beisammen, aus denen das Gericht der Niederlagen gemacht ist. Das ist eine brandgefährliche Situation
angesichts dessen, dass ihnen nach wie vor eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen
Kräfteverhältnis zukommt.
Das Schlimmste ist, dass sich die
Gewerkschaftsführungen jetzt in diese Niederlagen hineinreden. Sie beklagen, dass Hartz IV
»gegessen« ist und machen ihren Mitgliedern keine Hoffnungen mehr auf nennenswerte
Verbesserungen. Das schafft Demoralisierung und befördert Mitgliederaustritte.
Aber sie lassen auch nicht zu, dass
Alternativen diskutiert werden. Ihre Konzepte sind ausweglos wie die der Politik. Dabei wäre auch
diesmal mehr drin gewesen im Kampf gegen Hartz IV genauso wie in den Kämpfen gegen den Lohnraub
bei den großen Konzernen. Aber mehr drin ist nur, wenn die Gewerkschaften ihre Strategie von Grund auf
ändern. Wenn sie den Fehdehandschuh aufnehmen, dass die Sozialpartnerschaft passé ist und am
Verhandlungstisch nicht einmal mehr Verschlechterungen abgewehrt werden können. Wenn sie eine neue
Streitkultur lernen, also den Mut zum Kampf finden. Dann würden sie wieder als eine ernst zu nehmende
Kraft wahrgenommen, neue Glaubwürdigkeit erlangen.
Der Kampf um den Kurs der Gewerkschaften ist
deshalb von zentraler Bedeutung. Keine neue politische Kraft kann sie ersetzen. Die Gewerkschaften
müssen selber zu einer politischen Kraft werden, die mindestens europaweit streik- und tariffähig
ist. Die sozialen Bewegungen können sie dabei unterstützen, sofern sie ihre Zersplitterung
überwinden zwar nur von außen, aber ihre Mobilisierungskraft ist nicht mehr klein zu reden
da haben die Montagsdemonstrationen die Demo vom 3.April weit in den Schatten gestellt, auch in
ihrer politischen Wirkung. Das Sozialforum in Deutschland kann eine wichtige Rolle dabei spielen, die
notwendige Einheit herzustellen und den Argumentationsraum für gewerkschaftliche Alternativen zu
öffnen.
Noch ist nicht aller Tage Abend und die
Kapitalbesitzer haben uns noch lange nicht im Sack.
Angela Klein
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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