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US-Amerikanische Liberale bekennen für gewöhnlich großen
Enthusiasmus für das einfache Volk. Ihr sentimentaler Populismus wurde jedoch am 2.November hart auf
die Probe gestellt.
Mit einer kleinen, aber entscheidenden Mehrheit wählte dieses Volk auf weitere vier Jahre
Angst, Enttäuschung und Gier ins Weiße Haus. Mit Ausnahme des demokratischen Refugiums an den
Großen Seen ist Kontinentalamerika von Idaho bis Alabama eine gottgeführte Einparteiennation
geworden. Nicht mal Bruce Springsteen und 48 Nobelpreisträger konnten den Bundesstaat Ohio auf die
Seite von John Kerry swingen. Bush hat seinen Vorsprung vor Kerry gegenüber dem Jahr 2000 in
zwölf Bundesstaaten dramatisch ausgebaut, während Kerry in sieben Staaten weniger holte als Gore,
selbst in seinem eigenen Bundesstaat Massachusetts.
Nun behauptet Bush ein »Mandat« der
Bevölkerung, Amerika gemäß den göttlichen Eingebungen und denen seines Beraters Karl
Rove umzumodeln. »Ich habe Kapital aufgebaut in diesen Wahlen«, drohte er unmittelbar nach der
Wahl, »nun gedenke ich es auszugeben.« Tatsächlich drohen die Richterernennungen und die
Entscheidungen über die US-Justiz, die er in den nächsten ein, zwei Jahren vornehmen wird, das
Gesicht der USA für eine ganze Generation zu prägen.
Die US-Justiz wird ihren unerbittlichen Marsch
nach rechts fortsetzen bis zu dem Tag, an dem das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung wieder aufgehoben
wird. Unternehmensgruppen, die dem Vernehmen nach über eine Milliarde Dollar in den Wahlkampf der
Republikaner gesteckt haben, werden in Naturschutzgebieten nach Öl bohren können und den Gewinn
aus der Privatisierung der Sozialversicherung kassieren können.
Mehr sunnitische Städte werden in Grund
und Boden gestampft werden und siegessichere Neocons werden darauf drängen, dass die USA zusammen mit
Israel Luftangriffe gegen den Iran fliegen. In der Wüste Nevada werden Atomtests wieder aufgenommen
werden und in Alaska werden die Gletscher weiter schmelzen.
Diese Revolution der Republikaner verbreitet
an den von den Demokraten dominierten US-amerikanischen Küsten Angst und Abscheu. In San Francisco
fordern Autoaufkleber bereits die Sezession. Manhattan schauderts vor der Hegemonie des Kernlands.
Viel ist auch die Rede von einer
»Rückkehr der 20er«, als eine entfremdete Intelligenz vor der konservativen, von
reaktionären Business-Leuten und schäbigen Evangelisten dominierten Gesellschaft in ein reales
oder imaginäres Exil flüchteten. Eine tiefe Angst vor Mittel-Amerika färbt die
Zukunftserwartungen.
Das populärste Erklärungsmuster
unter Liberalen für das Wahldebakel ist der Glaube, die einfachen Leute wären, wie in Deutschland
1933, von den Appellen an ihre Vorurteile und ihre kulturelle Rückständigkeit hypnotisiert
worden, die Dummheit habe gesiegt.
Diese Analyse eine Karikatur auf
Marx Begriff vom »falschen Bewusstsein« wurde angeblich bestätigt durch
Wahlumfragen am Ausgang der Wahlkabinen, die ergaben, Wechselwählern seien moralische Fragen wichtiger
gewesen als Fabrikschließungen oder die Invasion des Irak.
Tatsächlich hatte Bush-Berater Karl Rove
dafür gesorgt, dass gleichzeitig Gesetzesänderungen, die Ehen unter Schwulen verbieten sollten,
in elf für die Wahl wichtigen Staaten zur Abstimmung standen, auch in Ohio. Kein anderes Thema war so
geeignet, traditionalistische und evangelikale Wählergruppen zu mobilisieren auch sonst
demokratisch gesinnte Latinos oder Schwarze.
Es wäre aber ungeheuer simpel zu glauben,
zynische Mechaniker der Politik bräuchten nur den Knopf »Abtreibung« oder
»Schwulenrechte« zu drücken, um die politischen Folgewirkungen von Armut, Arbeitslosigkeit
oder unheilbaren Krankheiten auszulöschen.
Nehmen wir das bergige West-Virginia. Kein
Bundesstaat hat bei diesen Präsidentschaftswahlen einen dramatischeren Rechtsschwenk erlebt.
Früher war West-Virginia einmal eine Hochburg der mächtigen Stahl- und
Bergarbeitergewerkschaften. Es stand loyal zu den Demokraten auch in so trostlosen Wahlen wie 1956, 1968
oder 1988. Nun aber hat Kerry West-Virginia schockierend eindeutig verloren sein Abstand zu Bush
betrug hier 13%!
Zweifellos haben die Republikaner in Hunderten
von Kleinstadtkirchen, wo fromme West-Virginier immer noch den Satan austreiben und vor Wut über die
Legalisierung der Sodomie schäumen, große Einbrüche erzielt. Damit die Theorie des
»falschen Bewusstseins« aber greifen kann, müssen die Einwohner von West-Virginia, oder
Kansas oder Ohio, mindestens die Chance gehabt haben, zwischen verschiedenen »Werten«,
»Interessen«, Kulturen und Klassen zu wählen.
Aber gerade das Fehlen dieser
Wahlmöglichkeit charakterisiert derzeit die amerikanische Politik. In West-Virginia hatten die
nationalen Demokraten für den Niedergang der Kohleindustrie in den Appalachen oder den Verlust
örtlicher Fabrikarbeitsplätze an Mexiko oder China kein Wort übrig.
Die große Leistung der Amtsperiode
Clintons war es gewesen, die Demokraten als Partei der »New Economy«, der Wissensindustrien und
Hightechexporteure an den beiden Küsten aufgestellt zu haben. Statt ein ökonomisches
Rettungspaket für das Kernland zu schnüren, wie die Gewerkschaften gefordert hatten, boxte
Clinton das Arbeitsplätze exportierende NAFTA durch.
Kerrys Kampagne baute auf diesem Erbe auf. Wie
Gore wurde er massiv von der Unterhaltungsindustrie, der Softwareindustrie und den Unternehmen mit
Risikokapital gesponsert. Wie Gore führte er seine Kampagne ohne eine zwingende ökonomische
Aussage oder ernsthafte Vorschläge, wie der Verlust weiterer Industriearbeitsplätze verhindert
werden könnte. Bestenfalls versprach er maßvolle Steuererleichterungen für Unternehmen, die
Arbeitsplätze erhalten wollten.
Bush hingegen hatte 2001 Importstahl
vorübergehend mit Zöllen belegt. Das war zweifellos ein zynisches Manöver aus Roves Ecke, um
den Demokraten Arbeiterstimmen abspenstig zu machen, aber es funktionierte.
Vom Standpunkt eines Einwohners aus West-
Virginia hatten die Texas-Cowboys den Mumm, sich gegen die Konkurrenz aus Europa zu stemmen, während
Kerry ihnen nur Aspirin gegen Krebs im Endstadium zu bieten hatte. Bush wurde wie falsch auch immer
als Wirtschaftsnationalist wahrgenommen, während Kerry als unzuverlässiger Europhiler
taxiert wurde.
In anderen Worten: Die wahre Achillesferse der
Demokraten ist die Ökonomie, nicht die Moral. Das größte Thema in den Kohle- und
Stahlrevieren ist der industrielle Niedergang, nicht die Schwulenehe. Wenn die Gewerkschaftshäuser
schließen und die unabhängige Presse verstummt ist, braucht man sich nicht zu wundern, dass die
Menschen Antworten in Kirchen oder bei Radio-Demagogen suchen, oder dass sie den Niedergang der
Arbeitsplatzsicherheit gleichsetzen mit dem Niedergang der »Familienwerte«.
Bevor sie nach Toronto auswandern oder sich in
ihrem Elfenbeinturm verkriechen, sollten Amerikas Liberale lange und ausgiebig über die historischen
Umstände nachdenken, die aus den Helden der Arbeiterklasse von gestern die Barbaren vor den Toren von
heute gemacht haben.
Mike Davis
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