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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 12

Die Matrix der Kontrolle

Palästina vor den Präsidentschaftswahlen

Freie Wahlen in Palästina? Die Frage stellt sich nicht erst seit Arafats Tod. Schon vor annähernd fünf Jahren wagten Kräfte der palästinensischen Zivilgesellschaft, die damals gegen die Besatzung und gegen das willfährige Regime der Autonomiebehörde, einen mutigen Vorstoß.

Die »Erklärung der 20« — es handelte sich um bekannte Persönlichkeiten aus dem politischen und akademischen Leben Palästinas — kritisierte die »bad governance« der Autonomiebehörde, die nicht nur zunehmende Verarmung und eine unqualifizierte Verwaltung der inneren Angelegenheiten mit sich brachte, sondern auch eine unwirksame und halbherzige Verhandlungsführung gegenüber der Besatzungsmacht.
Die zwanzig Autoren des Manifests sprachen aus, was in der palästinensischen Gesellschaft seit Mitte oder Ende der 90er Jahre »geflüsterter Konsens« war — und noch ist. Doch die Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft, die weder radikalen islamistischen Positionen zugetan ist, noch sich Illusionen über ihre zutiefst korrupte Führung macht, und schlicht ein normales Leben, zum Beispiel auch mit freien Wahlen, führen können möchte, interessiert weder unsere mediale Öffentlichkeit noch unseren Herrn Fischer.
Der fordert mit sorgenvoll zerknitterter Miene eins ums andere Mal die Demokratisierung der palästinensischen Gesellschaft ein und mahnte Anfang Dezember sogar Israel, das Seine dazu beizutragen und auch die palästinensischen Bürger Ostjerusalems an Wahlen teilnehmen zu lassen. Eine solche »Parteinahme für die Palästinenser« kostet nichts, da Israel sowieso schon dieses Recht zugestanden hat. Denn die Wahlbeteiligung der Ostjerusalemer Palästinenser ändert nichts daran, dass alle miteinander — USA, EU und Israel — diese Wahlen fest in der Hand haben.
Freie Wahlen und überhaupt Demokratie in Palästina wären leicht zu haben, sind aber ganz offensichtlich nicht gewollt, wie es schon damals die zwanzig Demokraten feststellen mussten, deren Aufbegehren gewaltsam niedergeschlagen wurde, ohne dass sich internationaler Protest regte.
Eine gut organisierte Zivilgesellschaft, kompetente, engagierte und erfahrene Persönlichkeiten, ein breites Spektrum von traditionsreichen politischen Gruppierungen und Parteien — das alles ist in Palästina vorhanden. Doch diese für einen demokratischen Prozess wohl gerüstete Gesellschaft, die seit Jahren quasi »in den Startlöchern« sitzt, wird mit der eisernen Faust der Besatzung am Start in die Demokratie gehindert.
Das Besatzungsregime, die »Matrix der Kontrolle« über das Land und die palästinensische Gesellschaft, wie es der israelische Aktivist Jeff Halper formuliert, wird auch für die Wahlen in keiner Weise in Frage gestellt oder gar gelockert. Das fordert auch kein US-amerikanischer oder EU-Außenminister; denn sie verstehen sich selber als Garanten dieser Matrix der Kontrolle.
Konsequent schweigen sie über die elementarsten Voraussetzungen freier Wahlen, die Israel nicht gewährt: Es geht um die Freizügigkeit der Wähler und Kandidaten und um die Freilassung von nicht rechtmäßig verurteilten palästinensischen Bürgern, politisch Aktiven und Führern (insgesamt mehreren tausend Gefangenen, darunter einer der Kandidaten, Marwan Barghouti, oder so wichtige Persönlichkeiten wie der Vorsitzenden der PFLP, Ahmed Saadat, der ohne Anklage seit Jahren im Gefängnis sitzt).
Es geht um die freie Einreise- und Teilnahmemöglichkeit für die zahlreichen Palästinenser, die vorübergehend im Ausland leben (vermutlich Zehn- bis Hunderttausende). Und schließlich sind Wahlen nicht frei, solange die Menschenjagd durch das Besatzungsregime, der besonders politisch Aktive (jeder Couleur) ausgesetzt sind, fortgesetzt wird.
Warum schweigt sich das Nahost-Quartett zur eklatanten Unfreiheit dieser Wahlen aus, während es doch sonst nicht müde wird, demokratische Verhältnisse zu fordern?
Wenn sich alle wahlberechtigten Palästinenser frei bewegen und ohne Einschüchterungen wählen könnten, wer aus ihrer Mitte in Zukunft ihre Belange vertreten soll, würde allerdings etwas Ungeheuerliches geschehen.
Mustafa Barghouti — nicht zu verwechseln mit dem von Israel inhaftierten Fatah-Führer Marwan Barghouti, der ebenfalls und mit guten Erfolgsaussichten zu den Präsidentschaftswahlen kandidiert — von Al Mubadara könnte dank seines Konzepts eines demokratisch legitimierten, gewaltfreien Widerstands gegen die Besatzung und seines konsequenten Eintretens für die Rechte der Palästinenser und für ihre alltäglichen Belange die Wahlen gewinnen. Er könnte sich dabei auf eine breite Zustimmung seitens der Linken, Unabhängiger und von Teilen der Fatah und der Hamas stützen.
Er wäre ein palästinensischer Präsident, der die Gesellschaft und ihre seit Jahrzehnten unerfüllten Hoffnungen und politischen Ambitionen womöglich tatsächlich repräsentieren und selbstbewusst vertreten würde. Die Selbstmordattentate würden aufhören, weil sich die Bevölkerung von der eigenen Führung respektiert wüsste und in gewaltfreier Form ihre Forderungen artikulieren und sich an der Durchsetzung beteiligen könnte. Dieser Präsident hätte in den sozialen Bewegungen weltweit und in der israelischen antikolonialistischen Bewegung Partner im Kampf für die Anerkennung gleicher Rechte aller Menschen im Nahen Osten…
Doch solch paradiesische Zustände, das wird jeder einsehen, sind nicht von dieser Welt.

Sophia Deeg

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