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Der Film ist seit Oktober in den Kinos, doch es lohnt sich immer noch, auf
ihn aufmerksam zu machen. Er baut richtig auf. Er ist vieles in einem: Zunächst ist es ein
Dokumentarfilm über eine Ballettaufführung nach Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps. Die
Aufführung fand einmal (!), Anfang 2003, in der arena Berlin in Treptow statt.
In der Hauptsache geht es aber gar nicht um
die Aufführung, sondern um die Einstudierung des Balletts. Hier treten nämlich keine Profis auf,
sondern blutige Laien. 239 Schülerinnen und Schüler, 70% davon aus Berliner Hauptschulen, aber
auch Grund- und Realschulen und Gymnasien, aus 25 Nationen und allen Stadtteilen, wurden von dem englischen
Choreografen Royson Maldoom zusammengeführt.
Nur wenige von ihnen hatten Vorkenntnisse von
Ballett oder Musik. Die meisten mussten alles lernen innerhalb von sechs Wochen. Der Film
dokumentiert, wie dieses Lernen vor sich ging, vom Spiel zum Ernst, ganz ohne Sanktionsmöglichkeiten,
denn die Teilnahme war ja freiwillig und jede Schülerin hätte jederzeit aufhören
können. Aber durch den Tanz gibt es die Möglichkeit, gemeinsam etwas zu realisieren, und das ist
für die meisten die Mühen der Selbstfindung und Selbstüberwindung wert.
Die größten Hürden sind nicht
die technische Seite des Tanzes: die richtigen Schritte und kunstvollen Drehungen. Davon wird kaum etwas
gezeigt. Die größten Schwierigkeiten fangen viel früher an: bei der Fähigkeit sich zu
konzentrieren, still sein, sich nicht ablenken lassen, nicht gackern, kichern oder tuscheln, sich nur auf
das konzentrieren, was man will und jetzt als nächstes tun muss.
Die Unfähigkeit von Schülern sich zu
konzentrieren wird häufig beklagt, viele Produkte der modernen Industrie tragen dazu bei: Handys,
Spielzeuge aller Art, Walkmen, aber auch die Gewohnheit, in einer lauten und reizüberfluteten Umgebung
zu leben und die zu wenigen Gelegenheiten, sich zurückzuziehen und Stille zu erleben. Die nächste
Hürde ist das Stehen auf der Bühne, das selbstbewusste, den Raum füllende Stehen.
Die allerwenigsten Schüler bringen dieses
Selbstbewusstsein mit und schämen sich altersbedingt, milieubedingt ihrer Bewegungen,
die sie deshalb unkoordiniert ausführen. Wie aber sollen diese Schüler Selbstbewusstsein lernen?
Wie schafft es ein Tanzlehrer innerhalb von sechs Wochen ihnen Verhaltensweisen beizubringen, die sie
teilweise turmhoch über ihre angestammten Verhältnisse heben?
Der Dokumentarfilm zeigt auch das. Den
Tanzlehrer im Gespräch mit dem Interviewer, vor dem er seine gesamte künstlerische und
pädagogische Philosophie ausbreitet, auch seinen Lebenslauf. Maldoom ist kein gewöhnlicher
Tanzlehrer, ein ziemlicher verschrobener Einzelgänger sogar, aber ein pädagogisches Genie. Er
weiß besser als die Lehrerinnen, was aus den Kindern herauszuholen ist, er schafft es, sie zu fordern
und darüber Begeisterung bei ihnen zu wecken. Sogar in die von ihnen als altmodisch empfundene Musik
können sie sich am Ende einhören.
Am Ende sieht man nur einen winzig kleinen
Ausschnitt von der Aufführung in der arena Berlin, aber er reicht, dass man sich schwört, man
will unbedingt die ganze Aufführung sehen, denn das hier ist etwas, das stellen keine Profis auf die
Bühne. Die DVD ist noch in Arbeit, sie kommt im nächsten Sommer heraus.
Eine solche Produktion, allein die Idee dazu,
ist ein richtiges Schmuckstück. Kein Durchschnittsproduzent wagt sich an sowas heran. Deshalb ist es
auch eine besondere Freude, dass es ausgerechnet die Berliner Philharmoniker unter ihrem derzeitigen
Dirigenten Simon Rattle sind, die sie auf die Beine stellen. Ausgerechnet das Orchester mit dem
elitären Ruf tritt aus seinem Elfenbeinturm heraus und erdenkt sich ein Programm, wie die Kultur in
der »bankrotten Stadt« Berlin vor dem Rotstift gerettet werden kann. Es heißt Education
Programm und Le Sacre du Printemps war nur ein Teil davon.
Seit Oktober 2002 gibt es einmal jährlich
solche Tanzaufführungen, aber das Programm umfasst auch Schulorchestertreffen, Fortbildungsangebote
für Multiplikatoren und Partnerschaften mit Berliner Außenbezirken und Schulen, darunter auch
eine Schule für Körperbehinderte in Potsdam. Simon Rattle zeigt, was Musik kann und wie wichtig
sie für die Entwicklung der Jugend einer Stadt sein ist. Eine unüberhörbare Kritik an der
Kulturpolitik des Senats.
Angela Klein
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