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»Liebe und Hass sind keine Gegensätze. Das Gegenteil von
Liebe ist Gleichgültigkeit«, schreibt A.S.Neill. Die Kinder in Koreeda Hirokazus Dare no shiranai
müssen lernen, dass ihr Schutz vor Ausgegrenztheit Erwachsenenrhetorik ist. Von der Mutter verlassen,
sind sie auf sich allein gestellt. Niemand interessiert sich für ihr Schicksal, sie tragen noch nichts
zum Bruttosozialprodukt bei. Mitten in einer japanischen Großstadt denken und handeln sie von Tag zu
Tag, so unbefangen wie furchtlos, doch ohne Illusionen…
Keiko und ihr zwölfjähriger Sohn
Akira schleppen die Koffer in ihre neue Wohnung. Dort angekommen, entschlüpfen den
Gepäckstücken kleine Menschen: die Geschwister Akiras, sorgsam verborgen vor den neugierigen
Blicken der Nachbarn. Denen wird lediglich Akira, der Älteste, vorgestellt. Den Vermietern empfiehlt
Keiko ihre »Einkindfamilie« als pflegeleichtes Gegenüber. Akiras Geschwistern wird
eingeschärft, ja nicht zu laut zu werden oder gar die Wohnung zu verlassen. Keiko liebt ihre Kinder,
doch sie liebt es ebenso, ungebunden zu sein. Wenn sie das Haus verlässt, kehrt sie nach der Arbeit
oft lange nicht wieder. Akira, der »Große«, weiß, dass er dann gefordert ist, den
Tagesablauf im Verborgenen zu koordinieren.
Die vier Kinder haben vier Väter, die sie
kaum kennengelernt haben. Nun liebt ihre Mutter wieder einen anderen, mit dem sie, wie Akira eines Tages
begreift, ein neues Leben beginnen und nicht mehr wieder kommen wird. Manchmal, immer seltener jedoch,
kommen noch Briefe oder Pakete mit Geschenken und Geld, bald schon ist die Mutter aber Erinnerung, wenn
auch konkret, und nicht schemenhaft wie die diversen Väter. Von jenen, die ihre Erzeugerschaft
bisweilen leugnen, versucht Akira Bares aufzutreiben, doch dieses Anpumpen hilft nicht dauerhaft.
Um weiter unter eigenen Regeln zu leben, muss
man sie brechen, das begreift Akira. Erst wagen sich die Kleinen auf den Balkon, dann geht er mit ihnen
hinaus in die Welt, die sie nicht kennen. Geld für Unnötiges, doch Unentbehrliches im Supermarkt
ausgeben, im Park spielen, losschreien dürfen: unbekanntes Glück für die Verlassenen…
Bald schon sind die letzten finanziellen »Rücklagen« verbraucht, unbezahlte Rechnungen
türmen sich in der Wohnung, Wasser und Strom werden abgedreht.
Die Kinder beginnen, Wasser zu
»organisieren« und ihre Wäsche im Park zu waschen. Akira beobachtet ein einsames
Mädchen in Schuluniform, erfährt schließlich, dass diese längst aufgehört hat, die
Schule zu besuchen. Sie heißt Saki, ist ein wenig älter als Akira und freundet sich nach
anfänglicher Distanz mit ihm an. Saki macht sich erbötig, zu helfen. Akira sieht sie mit einem
Mann in ein Haus verschwinden, begreift, wie sie das Notwendige organisieren will, weist ihr Geld
zurück und rennt vor ihr davon. Doch Stolz und Verachtung sind im kindlichen Universum keine
Konstanten, vielmehr Zitate der erwachsenen Welt, deren Kälte weder Akira noch Saki, geschweige Akiras
Geschwister begreifen…
Dare mo shiranai erzählt, angeregt durch
eine »reale Begebenheit«, eine fiktive Geschichte, angesiedelt in der (japanischen)
Realität. Zwei Zimmer, 40 m2. Das Wichtigste: Die Nachbarn nicht zu stören. Undenkbar, den
Kindern Kontakt mit Gleichaltrigen, oder, im Falle der schon Schulpflichtigen, den Schulbesuch zu
ermöglichen. Selbst für den »offiziellen« Sohn Akira kommt das nicht in Frage, muss er
doch seine Pflichten als »Haushaltsvorstand« erfüllen. Keiko vernachlässigt die ihren
nicht mit Absicht, sie ist bloß nie erwachsen geworden, mehr großes Kind und ältere
Schwester der eigenen Kinder. Ihrem verständlichen Wunsch, den rigiden Regeln der
(männerdominierten) japanischen Gesellschaft zu entfliehen, entspricht die Notwendigkeit, für die
Kinder Regeln aufzustellen.
Gewohnt, selbst verlassen zu werden,
verlässt Keiko ihre Brut. Von oben nach unten: Keiko begreift nicht, dass sie die hierarchischen
Normen ihres Landes reproduziert, mit ihren Kindern als schwächeren Gliedern in der Kette. Diese aber,
auf sich selbst gestellt, entwickeln »anarchische« Formen des täglichen (Über-)Lebens.
Keiner weiß von den Kindern, weil niemand
Notiz nimmt. Durch den Regelfall der Isolation, des Neben- statt Miteinander, bleibt der Ausnahmefall der
verlassenen Kinder unentdeckt. Diese aber werden in Dare mo shiranai von der Kamera liebevoll beobachtet:
Hände, Füße, Gesichter. Die Zuschauer erleben das Geschehen zusehends und notwendigerweise
aus der kindlichen Perspektive, soviel gelingt Koreeda Hirokazu und seinem an Intensität kaum zu
überbietenden Laienensemble.
Wie etwas wächst, wenn draußen die
Jahreszeiten vergehen. Wie dem Winter der Frühling folgen muss, naturgemäß. Wie das den
Kindern verheißene Himmelreich eine fromme Mär bleibt, so verlogen wie der Alltag der erwachsenen
Welt.
Kurt Hofmann
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