SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 20

Dare mo shiranai (Nobody knows), Japan 2004, Regie: Koreeda Hirokazu

Denn ihrer ist das Himmelreich

»Liebe und Hass sind keine Gegensätze. Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit«, schreibt A.S.Neill. Die Kinder in Koreeda Hirokazus Dare no shiranai müssen lernen, dass ihr Schutz vor Ausgegrenztheit Erwachsenenrhetorik ist. Von der Mutter verlassen, sind sie auf sich allein gestellt. Niemand interessiert sich für ihr Schicksal, sie tragen noch nichts zum Bruttosozialprodukt bei. Mitten in einer japanischen Großstadt denken und handeln sie von Tag zu Tag, so unbefangen wie furchtlos, doch ohne Illusionen…
Keiko und ihr zwölfjähriger Sohn Akira schleppen die Koffer in ihre neue Wohnung. Dort angekommen, entschlüpfen den Gepäckstücken kleine Menschen: die Geschwister Akiras, sorgsam verborgen vor den neugierigen Blicken der Nachbarn. Denen wird lediglich Akira, der Älteste, vorgestellt. Den Vermietern empfiehlt Keiko ihre »Einkindfamilie« als pflegeleichtes Gegenüber. Akiras Geschwistern wird eingeschärft, ja nicht zu laut zu werden oder gar die Wohnung zu verlassen. Keiko liebt ihre Kinder, doch sie liebt es ebenso, ungebunden zu sein. Wenn sie das Haus verlässt, kehrt sie nach der Arbeit oft lange nicht wieder. Akira, der »Große«, weiß, dass er dann gefordert ist, den Tagesablauf im Verborgenen zu koordinieren.
Die vier Kinder haben vier Väter, die sie kaum kennengelernt haben. Nun liebt ihre Mutter wieder einen anderen, mit dem sie, wie Akira eines Tages begreift, ein neues Leben beginnen und nicht mehr wieder kommen wird. Manchmal, immer seltener jedoch, kommen noch Briefe oder Pakete mit Geschenken und Geld, bald schon ist die Mutter aber Erinnerung, wenn auch konkret, und nicht schemenhaft wie die diversen Väter. Von jenen, die ihre Erzeugerschaft bisweilen leugnen, versucht Akira Bares aufzutreiben, doch dieses Anpumpen hilft nicht dauerhaft.
Um weiter unter eigenen Regeln zu leben, muss man sie brechen, das begreift Akira. Erst wagen sich die Kleinen auf den Balkon, dann geht er mit ihnen hinaus in die Welt, die sie nicht kennen. Geld für Unnötiges, doch Unentbehrliches im Supermarkt ausgeben, im Park spielen, losschreien dürfen: unbekanntes Glück für die Verlassenen… Bald schon sind die letzten finanziellen »Rücklagen« verbraucht, unbezahlte Rechnungen türmen sich in der Wohnung, Wasser und Strom werden abgedreht.
Die Kinder beginnen, Wasser zu »organisieren« und ihre Wäsche im Park zu waschen. Akira beobachtet ein einsames Mädchen in Schuluniform, erfährt schließlich, dass diese längst aufgehört hat, die Schule zu besuchen. Sie heißt Saki, ist ein wenig älter als Akira und freundet sich nach anfänglicher Distanz mit ihm an. Saki macht sich erbötig, zu helfen. Akira sieht sie mit einem Mann in ein Haus verschwinden, begreift, wie sie das Notwendige organisieren will, weist ihr Geld zurück und rennt vor ihr davon. Doch Stolz und Verachtung sind im kindlichen Universum keine Konstanten, vielmehr Zitate der erwachsenen Welt, deren Kälte weder Akira noch Saki, geschweige Akiras Geschwister begreifen…
Dare mo shiranai erzählt, angeregt durch eine »reale Begebenheit«, eine fiktive Geschichte, angesiedelt in der (japanischen) Realität. Zwei Zimmer, 40 m2. Das Wichtigste: Die Nachbarn nicht zu stören. Undenkbar, den Kindern Kontakt mit Gleichaltrigen, oder, im Falle der schon Schulpflichtigen, den Schulbesuch zu ermöglichen. Selbst für den »offiziellen« Sohn Akira kommt das nicht in Frage, muss er doch seine Pflichten als »Haushaltsvorstand« erfüllen. Keiko vernachlässigt die ihren nicht mit Absicht, sie ist bloß nie erwachsen geworden, mehr großes Kind und ältere Schwester der eigenen Kinder. Ihrem verständlichen Wunsch, den rigiden Regeln der (männerdominierten) japanischen Gesellschaft zu entfliehen, entspricht die Notwendigkeit, für die Kinder Regeln aufzustellen.
Gewohnt, selbst verlassen zu werden, verlässt Keiko ihre Brut. Von oben nach unten: Keiko begreift nicht, dass sie die hierarchischen Normen ihres Landes reproduziert, mit ihren Kindern als schwächeren Gliedern in der Kette. Diese aber, auf sich selbst gestellt, entwickeln »anarchische« Formen des täglichen (Über-)Lebens.
Keiner weiß von den Kindern, weil niemand Notiz nimmt. Durch den Regelfall der Isolation, des Neben- statt Miteinander, bleibt der Ausnahmefall der verlassenen Kinder unentdeckt. Diese aber werden in Dare mo shiranai von der Kamera liebevoll beobachtet: Hände, Füße, Gesichter. Die Zuschauer erleben das Geschehen zusehends und notwendigerweise aus der kindlichen Perspektive, soviel gelingt Koreeda Hirokazu und seinem an Intensität kaum zu überbietenden Laienensemble.
Wie etwas wächst, wenn draußen die Jahreszeiten vergehen. Wie dem Winter der Frühling folgen muss, naturgemäß. Wie das den Kindern verheißene Himmelreich eine fromme Mär bleibt, so verlogen wie der Alltag der erwachsenen Welt.

Kurt Hofmann

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