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»Der große Ironiker«, schrieb Henri Lefebvre zu Beginn der 60er Jahre und
charakterisierte damit seine eigene Zeit, »tritt in unruhigen, gestörten Kreisläuften
auf«. Er ist ein Produkt des historischen Übergangs und ein durchaus widersprüchliches
Wesen. Er hat keine Lösungen anzubieten in Zeiten, die Kampf und Entscheidung erfordern, hält
sich distanziert und strebt nicht danach, den Konflikt zu lösen, sondern »danach, dieses
Bewusstsein und den Konflikt selbst zuzuspitzen«: »Zwischen dem Ultrarevisionismus derer, die das
Verlöschen des marxistischen Projekts im modernen Denken behaupten, und dem Ultradogmatismus jener,
die an den Resultaten der stalinschen Periode festhalten und so tun, als handele es sich dabei um eine
bedauerliche Verzerrung, einen belanglosen ›Zwischenfall‹, können wir«, so der
französische Marxist, »einen dritten Weg bestimmen: den der dialektischen Kritik, den der
Ironie.«
Einer von jenen, die damals in Westdeutschland
ihr nachhaltiges Wirken begannen, war der im letzten Jahr in Italien gestorbene Johannes Agnoli. Und auch
er ist seinen Zeitgenossen als ein bedeutender Ironiker in Erinnerung geblieben, dessen Ironie Ausdruck
eines suchenden Denkens und tief sitzenden Protests war, eines »Protest[s] der geprellten oder
unterdrückten Subjektivität gegen alles, was das Individuum entfremdet« (Lefebvre).
In den soeben erschienenen Erinnerungen an
ihren Mann schildert Barbara Görres-Agnoli wesentliche Stationen dieses widerständigen
Individuums und zeigt auf, aus welchen lebensgeschichtlichen Wurzeln sich diese, im besten Sinne renitente
Subjektivität gespeist hat. Erstmals werden hier Agnolis Kindheit und Jugendjahre in den
norditalienischen Ostdolomiten geschildert. Und ausführlich schildert die Autorin Giovannis (so sein
eingetragener Geburtsname) jugendliche Begeisterung für den Faschismus nicht nur Mussolinis, sondern
auch Hitlers.
Aus einer wesentlich philosophisch gespeisten,
linkshegelianischen Begeisterung für das klassische Deutschland und seine vermeintlichen
faschistischen Erneuerer, wurde Agnoli damals Mitglied einer faschistischen Jugendorganisation,
faschistischer Propagandist in einer von ihm geleiteten Schülerzeitung und schließlich
Wehrmachtsoldat.
Das alles wird von Görres-Agnoli zu
Recht ohne falsche Scheu geschildert, denn es zeichnet Johannes Agnoli aus, dass er sich durch das Leben
praktisch wie theoretisch hat kurieren lassen von diesem Albtraum. Agnoli hat verstanden, dass die
faschistische Befreiung der Subjektivität nicht nur keine solche war, sondern mehr noch ein in vielem
erfolgreicher Versuch, diese Subjektivität einer neuen, noch brutaleren Objektivität
unterzuordnen. Und er hat sich zu jenem Ironiker und Philosophen gewandelt, als den ihn seine Witwe
beschreibt.
Auch hier ist die Parallele zu Lefebvres
Theorie verblüffend, denn der Philosoph sollte, so Lefebvre, »mehr reden als schreiben, seine
theoretische Anstrengung mit einer doppelten Praxis verbinden: Lehre und Ironie, Fragen und
Antwortversuche, Irritation und Orientierung. Das Schreiben in der Philosophie ist nichts anderes als
bloßer Notbehelf.«
Auch dies trifft auf Johannes Agnoli in
besonderem Maße zu. Das Schreiben scheint ihm zeitlebens Nebensache gewesen zu sein, sein Oeuvre
besticht nicht gerade durch Extensivität. Er war ein Lehrender sui generis, ein Redner, der durch die
analytische Schärfe und Radikalität seiner Gedanken bestach. Dass dies, nebenbei gesagt, nicht
heißen muss, dass er ein guter Erzieher war, auch dies beschreibt Görres-Agnoli in der
Schilderung des Ehemanns und Familienvaters.
Abgerundet wird dieses
Persönlichkeitsbild durch die Schilderung des postuniversitären Ruhestands. Anstatt vermeintlich
Versäumtes schreibend nachzuholen, zog sich Johannes Agnoli ganz nach Italien zurück und genoss
den Lebensabend mit viel Lektüre. Nur noch selten schrieb er (kleine) Beiträge oder gab
Interviews. Stattdessen besann er sich auf seine Jugend und schrieb erneut Gedichte.
Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Lehrer
und Ironiker und jenem schreibenden Theoretiker Agnoli, der sich kaum auf die Ironie stützt, erweist
sich bei näherem Blick und erneutem Rückgriff auf den besagten Lefebvre als gering. Die
Intellektuellen, so Lefebvre, seien nicht länger die Erzieher der Gesamtgesellschaft, sondern
müssen »wieder lernen, die Stärke der Negation und des Negativen zu begreifen: der radikalen
Kritik. Darauf ist die Ironie zu gründen.«
Agnoli, der kühle und scharfsinnige
Analyst des integrierenden Strukturcharakters bürgerlicher Demokratie niedergelegt in der nun
ebenfalls von Barbara Görres-Agnoli wieder aufgelegten Schrift Die Transformation der Demokratie wurde
nicht zufällig zum Theoretiker der »Kraft der Negation«, der »Antipolitik«. Den
ironischen Unterton jedoch, dass der Ironiker »das Falsche [sagt] (das er als Falsches weiß), um
zum Wahren zu gelangen« (Lefebvre), haben einige seiner selbsternannten Schüler nicht begriffen
und sich konsequent dem im spätbürgerlichen Wurzelgrund tief eingegrabenen Zynismus ergeben. Ein
Zyniker aber war Agnoli nie, auch das macht Görres-Agnoli in ihrem Buch mehr als deutlich.
Christoph Jünke
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