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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 24

Zur Erinnerung an Viktor Agartz (1897—1964), Teil 2

Vorwärts und nicht vergessen

In der letzten SoZ behandelten wir Leben und Werk des sozialistischen Gewerkschafter Viktor Agartz bis zu dessen Entlassung aus dem gewerkschaftlichen Wirtschaftswissenschaftlichen Institut (WWI) im Jahre 1955. Was die einen als das unrühmliche Ende einer beispiellosen Karriere betrachten, lässt sich im Kontext der langen Wellen politischer Klassenkampfzyklen und bezogen auf die folgenden zehn Jahre aber auch anders sehen.

Agartz hatte nach seinem Rausschmiss aus dem Gewerkschaftsapparat nicht lange gezögert und begründete eine neue, erstmals im März 1956 in Köln erscheinende Monatszeitschrift — die WISO, die Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mit einer bewundernswerten politisch- ökonomischen Bodenhaftung finden sich in den folgenden Jahrgängen der WISO, allen voran in den Texten von Agartz selbst, empirisch gesättigte und theoretisch versierte Analysen zur politischen Ökonomie des deutschen Nachkriegskapitalismus, zur Gewerkschaftspolitik ebenso wie zur Innen- und Außenpolitik und zu Fragen der marxistischen Theorie, die noch heute mit großem Gewinn zu lesen sind. Mit an Bord waren die beiden ebenfalls aus dem WWI geworfenen Mitarbeiter Walter Horn und Theo Pirker, die Linkssozialisten Wolfgang Abendroth und Leo Kofler sowie der junge, erst später bekannt gewordene Werner Hofmann. Das Renomee des Herausgebers und die Qualität der in der WISO anonym veröffentlichten Beiträge machten das Blatt zum intellektuellen Zentrum der linkssozialistischen Gewerkschaftsopposition in einer Zeit des nachhaltigen Umbruchs.

Linkssozialistischer Aufbruch 1954—56

Vor dem Hintergrund einer »Entpolitisierung« der gewerkschaftlichen Klassenkämpfe und einem parallel dazu verlaufenden, verschärften Anpassungsprozess der sozialdemokratischen Partei, riefen die außen- und militärpolitische Zuspitzung im Kalten Krieg, die zunehmend autoritäre Formierung der westdeutschen Innenpolitik und der immer unverhohlenere Anpassungskurs von SPD und DGB weitreichende Dissidenz- und Oppositionsbewegungen hervor, die sich neue Ausdrucksmöglichkeiten, v.a. in Form mehrerer Zeitschriftenprojekte schufen, um deren Zusammenhänge herum sich eine neue Linke herauszukristallisieren begann.
Vor allem die in Hamburg seit Mai 1955 erscheinende Wochenzeitung Die Andere Zeitung (AZ) setzte neue Maßstäbe und wurde schnell zum Zentrum des neuen Unmuts. Den beiden Herausgebern Gerhard Gleissberg und Rudolf Gottschalk, zwei einflussreiche Sozialdemokraten, die bis dahin leitende Redakteure des sozialdemokratischen Vorwärts und aus Protest gegen die Remilitarisierung aus der SPD ausgetreten waren, gelang es nicht nur, die namhaftesten Linksintellektuellen — Wolfgang Abendroth, Theo Pirker, Fritz Baade, Kurt Hiller, Fritz Kief, Leo Kofler, Rudolf Küstermeier, Walter Möller und bald auch Viktor Agartz — um das Blatt zu versammeln. Sie schafften es auch, die AZ zu einem derart exponierten Blatt der intellektuellen Opposition zu machen (die überlieferten Auflagenangaben schwanken hier zwischen 20000 und 100000), dass v.a. die SPD-Medien eine grimmige Verleumdungskampagne gegen die vermeintlich von Ost-Berlin finanzierte Zeitung anzettelten.
Richtete sich die AZ an ein Massenpublikum, die WISO an die gewerkschaftliche Linke, so arbeitete in der Ende 1954 gegründeten Monatszeitung Sozialistische Politik (SOPO) die sozialdemokratische Linke um Wolfgang Abendroth, Erich Gerlach und Peter von Oertzen mit den deutschen Trotzkisten um Georg Jungclas zusammen.
Kurz darauf, im März 1956, gründete sich in Paris die sich um den britischenn Historiker G.D.H.Cole gruppierende, britisch-französische Internationale Gesellschaft für sozialistische Studien (IGSS). Man verstand sich in der Tradition der britischen Fabier explizit nicht als Parteiorganisation, sondern als Intellektuellenzusammenschluss für Gedankenaustausch und internationalen Kontakt. Erklärtes Ziel war die Neubelebung des sozialistischen Denkens jenseits der beiden Machtblöcke.
Zum deutschen Sektionsvertreter der IGSS gewählt wurde ein halbes Jahr später, am 21.Oktober 1956 in Hamburg: Viktor Agartz. Vorstandsmitglieder waren Gerhard Gleissberg, Fritz Kief und andere linke Aktivisten und AZ-Autoren.
So schließt sich der politisch- journalistische Organisationskreis von AZ, WISO, IGSS und der »Gruppe Agartz«. Was sich hier seit 1955 entwickelte, war ein historisch neues Mischungsverhältnis des westdeutschen Linkssozialismus, zu dem neben der SOPO auch noch Zeitschriften wie Funken oder Arbeiterpolitik gehörten, und deren Exponenten man die erste Generation jener »Neuen Linken« nennen kann und muss. Viktor Agartz, der bekannte Gewerkschaftstheoretiker und -aktivist und das moralische Gewissen der alten Schuhmacher-SPD; Wolfgang Abendroth, der versierte Jurist, politische Journalist und erfahrene sozialdemokratische Parteiaktivist; Leo Kofler, der marxistische Theoretiker und Wanderprediger; Theo Pirker, der unorthodoxe Gewerkschaftsaktivist mit ebenso historischem Sinn wie organisatorisch-politischem Gespür; Fritz Lamm, der mit strategischem Sinn und persönlichem Gespür eine Zeitschriftenorganisation zu leiten verstand; Gerhard Gleissberg, der sozialdemokratische Zeitungsprofi und Chefkommentator — sie alle sind zwar nur die gleichsam erste Reihe der westdeutschen sozialistischen Linken marxistischer Prägung, doch bereits sie zeigen, dass es dieser »Neuen Linken« nicht an fähigen Aktivisten mangelte.
Es fehlte ihnen auch nicht an der nötigen politischen Konjunktur. Chruschtschows im Februar 1956 auf dem 20.Parteitag der KPdSU gehaltene Geheimrede öffnete, einem Dosenöffner gleich, Millionen von Kommunisten weltweit für die Erschütterungen über die Verbrechen des Stalinismus und die Suche nach einem emanzipativen Reformsozialismus — in der DDR symbolisiert bspw. durch die ostdeutschen »56er« Wolfgang Harich, Walter Janka, Ernst Bloch, Gerhard Zwerenz u.a.
Dieser in vielem bemerkenswerte und erinnernswerte linkssozialistische Aufbruch der Jahre 1954—56/57 sollte jedoch, anders als vergleichbare und zeitgleiche Prozesse in Großbritannien und Frankreich, in Deutschland scheitern. Im Osten kam es nach den Volksaufständen in Polen und Ungarn zur Restalinisierung der weltkommunistischen Bewegung. Im Westen kombinierte sich die »Wirtschaftswunderzeit« und ihr fordistischer Siegeszug mit der anhaltenden bürgerlich-konservativen Repression. Was der Harich-Janka-Prozess und die Kampagne gegen Ernst Bloch im Osten, waren im Westen das KPD-Verbot einerseits und der Landesverratsprozess gegen Viktor Agartz andererseits.

Die doppelte Repression

Im August 1956, ein halbes Jahr nach dem 20.Parteitag der KPdSU und während die Entstalinisierung in Polen und Ungarn in Volkserhebungen gegen die stalinistischen Regime umkippte, erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass die KPD verfassungsfeindliche Ziele verfolge und deswegen verboten wird.
Im März 1957 schließlich, während der Bundestagswahlkampf (CDU: »Keine Experimente«) in seine heiße Phase ging, und genau ein Jahr nach dem erfolgreichen Start der WISO, wurde ihr Hirn und Organisator Agartz verhaftet und wegen vermeintlicher Ostkontakte des Landes- und Hochverrats angeklagt. Er hatte sich bei seiner WISO-Arbeit auf eine Vereinbarung mit dem ostdeutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) eingelassen, der ein gewisses Auflagenquantum als Sammelabonnements für den Vertrieb in der DDR abnahm, ohne damit Einfluss auf den Inhalt der Zeitschrift zu bekommen. Obwohl Agartz in einem Aufsehen erregenden Prozess mangels Beweisen im Dezember 1957 schließlich freigesprochen werden sollte, wurden er und jene linkssozialistischen Kreise, für die er exemplarisch stand, ein dreiviertel Jahr lang öffentlichkeitswirksam aufs heftigste an den politischen Pranger gestellt. Eine Solidarisierung aus dem nichtkommunistischen Bereich, von bürgerlichen Medien, SPD und Gewerkschaften fand nicht nur nicht statt, SPD und Gewerkschaften distanzierten sich sogar öffentlich von ihrem vermeintlich gefallenen Sohn und unterstützten die Anti-Agartz-Kampagne nach Kräften.

Zerfall der »Gruppe Agartz«

Die fehlende Solidarisierung mit dem Angeklagten führte auch zum Verfall der »Gruppe Agartz« selbst. Ihre Protagonisten gingen fortan verschiedene politische und persönliche Wege. Agartz gab nach seinem Freispruch erneut die WISO heraus, mit neuem Mitarbeiterstamm und nun offener finanzieller Unterstützung aus Ostberlin. Leo Kofler und Theo Pirker trennten sich schon vor Prozessbeginn von ihrem Genossen Agartz. Und Wolfgang Abendroth trug zwar wesentlich zum Freispruch von Agartz bei, als er als Zeuge der Verteidigung öffentlich für dessen persönliche wie politische Ehre Partei ergriff. »So wenig Viktor Agartz von stalinistischen Illusionen gefangen wurde«, schrieb er jedoch im Anschluss an den Prozess in der SOPO, »so wenig er stalinistischen oder halbstalinistischen Gedankengängen in der WISO Konzessionen gemacht hat, so hätte er wissen müssen, dass SED und FDGB ihm eines Tages die Rechnung präsentieren würden, und dass jedes Bekanntwerden dieser Zusammenhänge die marxistischen Gruppen in der deutschen Arbeiterbewegung aufs schwerste kompromittieren würde«.
So wie das KPD-Verbot das kommunistische Milieu kriminalisierte und dezimierte, so kriminalisierte und dezimierte der Landesverratsprozess gegen Agartz den westdeutschen Linkssozialismus. Danach gab es in der öffentlichen Wahrnehmung keinen eigenständigen Linkssozialismus mehr, einzig noch einen »kommunistischen Sumpf«.
Der politisch-organisatorische Zyklus eines um die SPD zentrierten und sich aus den Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegstraditionen der radikalen Arbeiterbewegung speisenden Linkssozialismus der 50er Jahre hatte einen vorläufigen Abschluss gefunden. Die von Agartz dominierte deutsche Sektion der IGSS zerfiel. Die wesentlich von Fritz Lamm herausgegebene, mehr syndikalistisch-antiautoritäre Zeitschrift Funken stellte 1959, nach einem letzten Aufbäumen, ihr Erscheinen ein, ebenso die aus der KPO-Tradition kommende Zeitschrift Arbeiterpolitik. Auch die SOPO veränderte sich zum Jahrzehntwechsel personell und konzeptionell und wurde deutlicher als zuvor ein »trotzkistisches« Blatt. Die seit 1955 erfolgreich als ein breitenwirksames Medium des nonkonformistischen Sozialismus fungierende, aber mit dem Odem der Ostfinanzierung gezeichnete Wochenzeitung AZ schließlich verlor in den Jahren 1958/59 manch namhaften Mitarbeiter und viele Leser.
Der Weg war frei für die geschichtsträchtige Transformation der SPD in eine bürgerliche Reformpartei (Bad Godesberger Parteitag 1959) und die anschließende Umsetzung dieser neuen Linie auch in der Gewerkschaftsbewegung.

Die letzten Jahre

Mit analytischer Schärfe und ingrimmiger, gelegentlich in den Linksradikalismus kippender Wut, vertiefte Agartz seine Analysen zur politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus und prangerte die Integration der Arbeiterorganisationen in den spätbürgerlichen Staat (SPD) und die spätbürgerliche Gesellschaft (DGB) an. Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Arbeiterbewegung, schrieb er Anfang 1959, ist »vorerst zerfallen«.
Während jedoch Wolfgang Abendroth, Leo Kofler und Theo Pirker aus einem vergleichbaren Befund andere politische Schlüsse zogen und ihren antistalinistischen Kurs verschärften, lehnte sich Agartz an die von ihm als revolutionär eingeschätzten Prozesse »von der Elbe bis Peking« an. Mit welcher strategischen Überlegung, machte er Ende 1959 deutlich: »Die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung ist heute ohne Führung im sozialistischen Sinne. Die Mitgliedschaft gleicht einem statischen Körper, der der Führung, dem Apparat, als ökonomische und gesellschaftliche Basis dient. Jede Diskussion, die der klassenpolitischen Aufklärung dient, wird unnachsichtlich geahndet, um die organisatorische Basis, die eigene Erwerbsposition, nicht zu gefährden. Trotzdem befinden sich Teile der Arbeiterschaft in Unruhe und Bewegung. Zwischen Führung und Masse besteht ein Bruch des Vertrauens, der sich zum Beispiel in der Frage der Atombewaffnung oder der innerdeutschen Verständigung bemerkbar macht. In diesem Stadium der Stagnation, aber einer glimmenden Glut unter der Asche, fällt den sozialistischen Staaten eine Aufgabe zu, auf die internationale Arbeiterbewegung durch die Art und den Inhalt ihres sozialistischen Aufbaus auszustrahlen.«
Diese letzte Hoffnung des Viktor Agartz sollte sich jedoch als Illusion erweisen. Für die Mehrheit der Arbeiterklasse waren die realsozialistischen Verhältnisse im Osten keine wirkliche Alternative zu ihrem »kleinen Glück«.
Nachdem er Ende 1958 aus der SPD und Anfang 1960 aus der Gewerkschaft ausgeschlossen worden war, gründete Agartz, abermals zusammen mit Gerhard Gleissberg und Genossen, die Vereinigung unabhängiger Sozialisten (VUS) als Zusammenschluss von aus der SPD Ausgeschlossenen und Ausgetretenen. Als sich diese jedoch schon kurz nach ihrer Gründung im Frühjahr 1961 auf die gerade entstandene, kommunistisch beeinflusste Deutsche Friedens-Union (DFU) zu orientieren begann, trat er aus. Er vermisste die sozialistische Programmatik und die Ausrichtung auf die klassenkämpferische Arbeiterbewegung. Die Enttäuschung saß fortan tief: Hätten sich die sozialdemokratischen Parteien von der Arbeiterbewegung vollkommen entfremdet, seien die Entartungserscheinungen auch bei den Kommunisten offensichtlich — sie »können revolutionäre Entwicklungen nicht mehr ertragen, wie ihre Unsicherheit gegenüber den Vorgängen in Algerien und Kuba zeigt. Beide Prozesse, die Entideologisierung der Sozialdemokraten und die Erstarrung bei den Kommunisten, haben ein Vakuum geschaffen.«
Nachdem er Ende 1961 die Veröffentlichung der WISO einstellen musste — alles spricht dafür, dass sie finanziell nicht mehr haltbar war, als Ostberlin die großzügige Unterstützung einstellte —, zog sich Agartz vollkommen zurück und arbeitete die ihm noch verbleibende Zeit an zwei umfangreichen Buchmanuskripten zur Geschichte und Soziologie der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung. Sie blieben unvollendet und vergammeln zur Zeit im Bundesarchiv Koblenz. Viktor Agartz starb, einsam und verbittert, am 9.Dezember 1964 in Köln.

Christoph Jünke

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