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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2005, Seite 9

PISA

Bildungspolitik wider besseres Wissen

Weltweit sortiert kein anderes Land die Kinder so früh wie Deutschland. Die enge Bindung von sozialer Herkunft und Bildungschancen sowie der äußerst niedrige Kompetenzgrad bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund verdeutlicht die traditionelle Schwäche des deutschen Schulsystems.

Außerdem weist Deutschland nach Belgien und der Türkei die höchste Streuung zwischen guten und schlechten Leistungen auf, der Anteil der Risikogruppe liegt über dem vergleichbarer Länder. Die Kinder bildungsferner Schichten werden doppelt benachteiligt. Ihnen fehlt die Förderung von zu Hause und das dreigliedrige Schulsystem führt sie schulisch in eine Sackgasse. So werden die Hauptschulen zu Vorschulen für Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit.
Der Leistungsabstand zwischen Kindern aus Akademikerfamilien und denen der unteren sozialen Schichten einschließlich der Migrantenfamilien spiegelt die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft wider, bei der das untere Drittel die negativen Folgen der sozialen Einschnitte des Staates voll zu tragen hat, während das obere Drittel wenig oder gar nicht betroffen ist. Es spricht nichts dafür, dass sich dieser Trend umkehrt — im Gegenteil.

Leistungsdruck, Konkurrenz und Selektion

Durch die Kritik an der Qualität des deutschen Schulsystems und die öffentliche Diskussion aufgeschreckt, reagieren vor allem Gymnasien, aber auch Realschulen, mit verstärktem Druck, um sich zu profilieren und zu »beweisen«, dass die Leistungsschwächeren die »falsche« Schule gewählt haben und schnellstens nach unten »sortiert« werden müssen. Ausschließlich die Leistungsfähigkeit der Kinder rückt wieder in den Mittelpunkt der Entscheidungen, die Auswahlprozesse verschärfen sich und Zurücksetzungen in niedrigere Klassen oder weniger anspruchsvolle Schulformen werden mit der viel beschworenen Qualitätssicherung begründet.
Diese Haltung entspricht genau dem neoliberalen Geist, nach dem sich »Leistung wieder lohnen muss«. Doch damit einher geht der Widerspruch, dass viele Kinder gar keine gymnasiale Empfehlung erhalten, obwohl sie intellektuell in der Lage wären, ein Gymnasium zu besuchen — womit wir wieder bei der sozialen Herkunft wären. Am stärksten trifft es Migrantenkinder, die im Vergleich zu ihren deutschen Mitschülern etwa doppelt so häufig auf eine Lernbehindertenschule überwiesen werden. Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten, nicht einmal halb so hoch wie die deutscher Schüler. Das größte Risiko, auf eine Sonderschule zu kommen, tragen diese Kinder in Baden- Württemberg, Saarland und Niedersachsen.
»Das dreigliedrige Schulsystem ist gescheitert«, stellt Andreas Schleicher nüchtern fest. Er und Manfred Prenzel, die deutschen Leiter der OECD-Bildungsuntersuchung, haben immer wieder auf die gravierenden Mängel im Bildungswesen hingewiesen — und sich damit bei vielen unbeliebt gemacht. Doch trotz Verunglimpfungen seiner Person hat sich Andreas Schleicher nicht davon abbringen lassen, die Selektionsmechanismen im deutschen Schulsystem anzuprangern und für eine gemeinsame Schule bis Klasse 10 zu werben.
Für die einen Mahner und für die anderen Miesmacher sind aber auch die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD), die mit Recht die Abschaffung der Hauptschule fordert, die Elternräte, Schülervertretungen, Teile der Presse und nicht zuletzt die GEW, die bezweifeln, dass durch die Optimierung des bestehenden Systems die zentralen Probleme zu lösen seien — im Gegenteil, sie würde die Kraft der Selektion noch verschärfen.
Weder ein besserer Unterricht, einheitliche Bildungsstandards oder Vergleichsarbeiten werden etwas an dem Zusammenhang von Kompetenzniveau und sozialer Herkunft ändern. Lediglich ein radikaler Systemwechsel kann die großen Unterschiede ausgleichen und Verbesserungen bringen. Auch dann bliebe der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialem Status erhalten, als Ausdruck der Klassengesellschaft, in der wir uns befinden.
Trotzdem kann das Bildungssystem Einfluss auf die Verteilung der Bildungschancen nehmen und die enge Koppelung an den sozialen Status deutlich abmildern. Schleicher: »Vor allem Länder, die bei PISA an der Spitze sind, individualisieren das Lernen stärker und gehen mit der Verschiedenheit der Schüler konstruktiver um. Sie antworten auf die Verschiedenheit junger Menschen nicht mit starren Selektionsmechanismen, sondern halten ein offenes und integrierendes Lernangebot bereit, welches das unterschiedliche Potenzial der Schüler ausschöpft.«

Reaktion der Politik

Obwohl in keiner anderen Industrienation die Zahl der Schüler, die das unterste Testniveau erreichen, so hoch ist wie in Deutschland, wird nicht an einen Systemwechsel gedacht. Bayern und Baden- Württemberg wollen strikt an der Dreigliedrigkeit festhalten und die meisten SPD-Kultusminister fürchten die Diskussion um die Schulstruktur wie der Teufel das Weihwasser, einzige Ausnahme ist hier Schleswig-Holstein.
Obwohl gerade frühe Auslese und eine mangelnde Durchlässigkeit für die ganze Misere verantwortlich sind, will Niedersachsen die Orientierungsstufe (gemeinsamer Unterricht in Klasse 5 und 6) abschaffen. Hessen will nicht nur die Bildungsgänge weitestgehend abschotten. Die Kultusministerin Karin Wolff (CDU) will sogar sog. Laptop- Klassen einrichten, wobei die Eltern die 1500 Euro teuren Geräte aus eigener Tasche bezahlen sollen. Wer kein solches Gerät bezahlen kann, landet in einer »regulären« Klasse. Die GEW sieht darin mit Recht einen Verstoß gegen die hessische Verfassung.
Obwohl deutsche Schüler ein Jahr und mehr hinter den Schülern anderer Vergleichsländer hinterherhinken, wird die Schulzeit verkürzt. Den Schulen steht nicht mehr Personal, sondern weniger zur Verfügung und die Mittel werden nicht erhöht. 35000 ausgebildete Lehrkräfte haben 2004 keine Stelle bekommen, denn die Bundesländer haben 8000 Lehrkräfte weniger eingestellt als von der Kultusminsterkonferenz (KMK) prognostiziert. Die meisten Länder haben den Einstellungsbedarf durch Arbeitszeiterhöhungen der Lehrkräfte erheblich gesenkt. Es gibt für die Sekundarstufe kein Förderkonzept und keine Verbesserungen in den Hauptschulen, im Gegenteil, die Personaldecke wird immer dünner.
Der Bund hat zwar 4 Millionen Euro für die Ganztagsbetreuung an Grundschulen bereit gestellt, doch die Kommunen haben entdeckt, das sich damit prächtig sparen lässt. Landauf, landab werden gut funktionierende Horte zugunsten einer Billiglösung trotz heftiger Proteste der Eltern und betroffener Erzieherinnen geschlossen, auch da, wo das entsprechende Betreuungsangebot in den Grundschulen noch gar nicht vorhanden ist.
In der KMK haben die Länder in seltener Einmütigkeit das Projekt Bildungsstandard zum Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht und alle Bundesländer führen Vergleichs- und Parallelarbeiten durch. Doch diese mit viel Aufwand durchgeführten Kontrollen zur Qualitätssicherung, was auch immer damit gemeint ist, bringen gar nichts, wenn sich nicht Förderangebote dort anschließen, wo die Leistungen nicht ausreichend sind. Die Standards können nur so wirksam und so gut sein wie das System selbst.
Es sieht fast so aus, als würden sie als ein zusätzliches Selektionsinstrument benutzt. Solche Maßnahmen können allenfalls das bestehende dreigliedrige Schulsystem optimieren, die ungleiche Verteilung der Bildungschancen wird damit aber nicht aufgehoben. Doch wider besseres Wissen bleibt die KMK bei ihrer Meinung, dass die Mängel im deutschen Schulsystem nichts mit der frühen und später kaum noch zu korrigierenden Auslese nach sozialer Herkunft zu tun haben.
Selbst Jürgen Baumert, Direktor des Max- Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, der dem Schulausschuss der KMK viel unberechtigtes Lob spendete, stellte kritisch fest, dass durch die frühe Auslese die »herkunftsbedingten Leistungsunterschiede« nicht mehr aufholbar sind. Was hindert denn die Länder daran, diese unselige Auslese zu beenden? Auf einen weiteren bildungspolitischen Skandal machte Baumert aufmerksam: »Obwohl die junge Generation heute so intelligent ist wie keine zuvor, haben wir trotzdem sinkende Schülerleistungen.«

Verpasste Chancen

In nahezu allen Industrienationen droht ein eklatanter Mangel an qualifizierten Lehrern. In Deutschland scheidet in den nächsten zehn Jahren mehr als die Hälfte der Lehrer altersbedingt aus dem Schuldienst aus, denn jede vierte Grundschullehrerin und fast jeder dritte Sekundarstufenlehrer ist über 50. Dieser Generationenwechsel, so meint die OECD, könnte eine einmalige Gelegenheit für grundlegende Veränderungen sein. Aber dazu gehört vor allem hierzulande ein bildungspolitisches Aufwachen.
Der Provinzialismus in der Schulpolitik muss ein Ende haben. Darüber hinaus müssen Arbeitsbedingungen, Bezahlung und Status der Lehrer verbessert, Aus- und Fortbildung professionalisiert und ein lebenslanges Lernen selbstverständlich werden. Doch zum Billigtarif ist die Schule der Zukunft nicht zu haben.
Bildungspolitik muss ein Anliegen aller an einer grundlegenden Strukturveränderung Interessierten sein, denn das deutsche Bildungssystem kann nicht bleiben wie es ist. Privatisierungstendenzen und Bildungsvergabe nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gilt es zu bekämpfen. Dazu ist eine radikale Erhöhung öffentlicher Bildungsausgaben ebenso notwendig wie die Beseitigung von Strukturen der Ungleichheit in unserem Bildungswesen.

Larissa Peiffer-Rüssmann

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