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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2005, Seite 14

Die Ärmsten tragen die größte Last

Interview mit Mike Davis

Das folgende Interview mit MIKE DAVIS, Autor von Die Geburt der Dritten Welt, führte die US-amerikanische Wochenzeitung Socialist Worker.

Die bürgerlichen Medien konzentrieren sich allein auf die natürlichen Ursachen von Katastrophen wie den Tsunamis im Indischen Ozean. Wie sieht der umfassendere Kontext aus?

Der Indische Ozean ist das Epizentrum der Umweltzerstörung, die in naher Zukunft durch die globale Erwärmung verursacht wird. Dieser Teil der Welt hat regelmäßig Tote infolge von Taifunen und Überflutungen sowie den daraus folgenden Krankheiten zu beklagen — dies wird in Zukunft noch zunehmen.
Insbesondere Bangladesh und die Inselgruppen, die von dem Tsunami betroffen waren — die Malediven und die Andamanen — sind Gesellschaften, die in den kommenden 10—15 Jahren am meisten von der globalen Erwärmung gefährdet sein werden.
Zwar ist ein gigantisches Seebeben im Indischen Ozean ein relativ seltenes Ereignis. Dennoch ist der Indische Ozean, insbesondere der Golf von Bengalen, einer der Hauptschauplätze der globalen Erwärmung und der damit verbundenen zunehmenden Häufigkeit von Naturkatastrophen. Und diese sind eben das Ergebnis einer Klassenpolitik.
Ich bin sicher, viele Politiker werden nun sagen, dass es keinen Sinn macht, ein Katastrophenwarnsystem zu errichten, weil ein solches Ereignis derart selten ist. Es ist schockierend, dass geophysikalische Warnsysteme und zivile Küstenverteidigungssysteme, die die Folgen hätten abfedern können, fast ausschließlich auf wohlhabende Gesellschaften beschränkt sind. Die größte Last von Katastrophe, Tod und ökonomischer Zerstörung tragen somit die armen Gesellschaften, besonders diejenigen, die am Indischen Ozean liegen und deren Subsistenzwirtschaft auf dem Fischfang beruht. Welches minimale Frühwarnsystem bräuchten die Menschen? In manchen Fällen hätte ein Telefonanruf schon genügt, sofern es ein lokales Netzwerk gibt.

Welche politischen und ökonomischen Faktoren kommen bei »Naturkatastrophen« ins Spiel?

Todesfälle durch einen Tsunami kommen einer natürlichen Katastrophe am nächsten. Typischer für Katastrophen wie Erdbeben ist, dass Menschen durch die schlechte Qualität ihrer Wohnungen und Häuser umkommen — sie werden durch ihre Armut getötet.
Ein Erdbeben oder Taifun oder eine Flutkatastrophe können Auswirkungen auf viele Generationen haben. Wir haben das in den letzten zwanzig, dreißig Jahren am Beispiel Nikaragua, Honduras und Guatemala gesehen. Die Menschen dort leiden immer noch unter den Auswirkungen des Erdbebens von Managua oder den Orkanen in Mittelamerika 1998.
Der bedeutendste einzelne gesellschaftliche Prozess auf der Erde ist derzeit die Urbanisierung. 95% des künftigen Bevölkerungswachstums wird sich in einer Zunahme der Bevölkerung in den Städten der Dritten Welt niederschlagen. Und zunehmend wird ein großer Teil davon unter den gefährlichsten Bedingungen hausen — auf häufig überfluteten, tief liegenden Küstenebenen, an unsicheren Abhängen. Vor etwa dreißig Jahren konnte es in einigen Städten der Dritten Welt noch anständiges, gut entwässertes Flachland geben, das für den Bau von Slumvierteln geeignet war. Doch die meisten Slumviertel werden heute in seismisch oder geologisch gefährdeten Gebieten errichtet, wodurch die Zahl der Menschen, die Katastrophen ausgesetzt sind, exponentiell steigt.
Bangladesh hat im Indischen Ozean eine nahezu einzigartige Lage, weil es so tief liegt. Es sieht einer sehr dunklen Zukunft entgegen, weil Taifune häufiger und intensiver werden. Erst vor zwanzig Jahren sind in Bangladesh 400000 Menschen ertrunken.
Dies wird sich von nun an buchstäblich alle paar Jahre wiederholen. Bangladesh ist ein Land, dass zunehmend von Überflutungen betroffen sein wird — mit der Folge, dass in jedem Jahrzehnt Entwurzelung, Krankheit und Tod mindestens in dem Ausmaß wie zum Jahresende 2004 zu erwarten sind.

Bei den Hilfsbemühungen spielen sicher auch politische Faktoren eine Rolle.

In einigen reichen Gesellschaften können Katastrophen manchmal positive wirtschaftliche Auswirkungen haben. In Kalifornien gibt es eine Art seismischen Keynesianismus; die Katastrophenhilfsprogramme in Florida stellen im Grunde von der Regierung kalkulierte Subventionsprogramme dar.
Katastrophen werden auch häufig als eine Form der Stadterneuerung genutzt, dies könnte auch jetzt der Fall sein, besonders in Thailand und Malaysia, wo Touristenzentren oder auch Städte ständig traditionelle Fischerdörfer oder Küstendörfer zurückdrängen. Es käme nicht überraschend, wenn einige dieser Dörfer nicht mehr wiederaufgebaut würden, sondern stattdessen größere touristische Einrichtungen oder militärische Einrichtungen an ihre Stelle träten.
Wir können sicher sein, dass in Aceh — an der Nordspitze der indonesischen Insel Sumatra, wo ein Befreiungskrieg stattfindet — die Hilfsmaßnahmen von der indonesischen Armee verwaltet werden, und man kann sich vorstellen, wie das abläuft. Das gleiche gilt für Sri Lanka, wo die Ostküste 30 Jahre lang Schauplatz eines Bürgerkriegs war.
Dann gibt es noch die alltägliche Politik, die bestimmt, wem die US-Regierung Geld gibt. Am Ende wird man nicht überrascht sein, wenn sehr häufig fast nichts zu den Betroffenen gelangt.

Welches sind die langfristigen Folgen der Katastrophe?

Der wirtschaftliche Schaden wird riesig sein. Seine Behebung wird eine lange Zeit in Anspruch nehmen, und möglicherweise wird der Schaden niemals vollständig berechnet werden — vor allem nicht in den wirklich armen, auf dem Fischfang beruhenden Gesellschaften, wo Tausende und Abertausende ihre Existenz verloren haben. Aber das ist nur ein Teil ihrer weit umfassenderen Probleme auf der ganzen Welt, denn die auf Fischerei beruhenden Subsistenzwirtschaften sterben aus oder sie werden durch den Wettbewerb mit Trawlerflotten der EU oder Japans, durch den Raubbau an der Meeresbiomasse u.a. in noch tiefere Armut gezwungen. Das ist der größere Zusammenhang.
Die chronische Bedrohung in all diesen Regionen geht von Sturmschäden aus — es ist wichtig das zu begreifen. Und die verschlimmern sich durch die globale Erwärmung und das Versäumnis, ein wirkliches Netzwerk ziviler Verteidigung für arme Gemeinschaften aufzubauen, oder Geld in Deiche und geschützte Fischereihäfen u.ä. zu investieren.
In erster Linie brauchen wir ein globales ziviles Verteidigungssystem gegen Naturkatastrophen und Klimaereignisse, das grundsätzlich von den reichen Ländern bezahlt werden sollte. Wichtiger noch ist zweitens, dass die reichen Gesellschaften, die für den Klimawandel verantwortlich sind, für die Kosten der Verteidigung und Rettung der Gesellschaften aufkommen, die direkt in den Einzugsgebieten von Katastrophen liegen.

Aus: Socialist Worker, 7.1.2005 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



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