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Drei Tage nach den Präsidentschaftswahlen in den USA nahm der
Europäische Rat, der am 4. und 5.November in Brüssel zusammentrat, den Bericht von Wim Kok
über die Umsetzung der Lissabon-Strategie entgegen. Das erklärte Ziel dieser Strategie ist es,
den EU-Binnenmarkt bis zum Jahr 2010 »zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Ökonomie der Welt zu machen«.
Der Kok-Bericht sollte die Debatte über die Lissabon-Strategie vorbereiten, die der
Europäischen Rat im März 2000 beschlossen hatte. Sie ist das große Erbe der Kommission
Prodi. Die neue Kommission Barroso hat sie aufgegriffen und ihrerseits zum Mittelpunkt ihres
»Reform«-Programms gemacht. Der Europäische Rat wird im kommenden März Bilanz ziehen
über die erste Halbzeit der Lissabon-Strategie: in dieser Phase sollten die Mitgliedstaaten die
gesetzlichen Grundlagen für die Erreichung der Ziele schaffen. Der Rat wird zugleich einen Plan
für die zweite Phase der Umsetzung von 20052010 verabschieden. In anderen Worten: Der
Europäische Rat will einen authentischen neoliberalen Fünfjahresplan für Europa
verabschieden, und das vor dem Hintergrund der innerimperialistischen Konkurrenz in der euro-atlantischen
Wirtschaft.
Die Strategie von Lissabon wurde zu einer Zeit entworfen, als die von den neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien angetriebene New Economy noch im Aufschwung war vor der Rezession der
Jahre 20002001, die die spekulative Blase an den internationalen Börsen zum Platzen brachte.
Damals schien es, als stünde die Welt kurz vor einem neuen Wirtschaftswunder.
Die EU sollte vom Beispiel der US-Wirtschaft
lernen, wo die Einführung der neuen Informationstechnologien zu einem überraschenden Anstieg der
Produktivität geführt hatte, und die notwendigen neoliberalen Reformen durchführen, um in
einem expandierenden Markt an Konkurrenzfähigkeit zu gewinnen. Einmal mehr schien die Stunde gekommen,
Opfer auf dem Altar des Wettbewerbs zu bringen.
Als Sühneopfer war das europäische
Sozialmodell auserkoren, weil es angeblich der Modernisierung der europäischen Ökonomie im Weg
stand. Wenn das Wirtschaftswachstum einmal an Fahrt gewonnen hätte, würde die Strategie von
Lissabon einen gewissen sozialen Kern bewahren, sofern dieser dem Wettbewerbsimperativ untergeordnet bliebe
und eine umfangreiche Reform der »korporatistischen« Sozialsysteme durchlaufen hätte.
Die Strategie von Lissabon stützte sich
von Anfang an auf eine Reihe falscher Prämissen. Es stand nicht fest, dass das
Produktivitätswachstum in den USA auf die neuen Technologien zurückzuführen war: heute
wissen wir, dass der Beschäftigungsabbau und die Steigerung der Ausbeutungsrate eine viel
größere Rolle spielten. Wir wissen auch von der Rolle des Militärkeynesianismus der
bewaffneten Globalisierung der Administrationen Clinton und Bush; vom unaufhaltsamen Aufschwung des
Haushaltsdefizits in den USA; von den Steuersenkungen, um den Konsum weiter zu finanzieren, und dem Fall
des Dollar.
Die großen Instrumente der Strategie von
Lissabon haben sich ebenfalls als zweispältig heraus gestellt: der Wachstums- und Stabilitätspakt
erstickt den Binnenkonsum in Europa und begrenzt die öffentlichen Infrastrukturinvestitionen; die
Privatisierung der öffentlichen Dienste; die Osterweiterung hat Lohn- und Sozialdumping und
industrielle Produktionsverlagerungen zur Konsequenz.
Dies hätte eine mögliche Bilanz des
Kok-Berichts sein können. Denn der Bericht beginnt mit der Feststellung, dass die europäische
Wirtschaft ihr Ziel, die produktivste Ökonomie der Welt zu werden, verfehlt hat. Alle Indikatoren
zeigen, dass Europa Positionen gegenüber den USA und Japan verloren hat und ihr dafür neue
Konkurrenten in der Gestalt von China und Indien erwachsen sind.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf liegt
in der EU um 25% unter dem der USA. Das Produktivitätswachstum ist in den USA ein Prozentpunkt
höher (bei 2,2% gegenüber 1,4%). Die Beschäftigungsquote beträgt in der EU 62,9%, in
den USA 71,2%. Mit der Osterweiterung hat sich der Vergleich für die EU noch verschlechtert, denn
während die Bevölkerung in der EU dadurch um 20% zugenommen hat, ist das BIP pro Kopf nur um 5%
gestiegen, die Industrieproduktion pro Kopf ist sogar um 12,5% gefallen.
Der Bericht erklärt das Scheitern der
gesetzten Ziele folgendermaßen: Die äußeren Begebenheiten seit dem Jahr 2000 haben das
Erreichen der Ziel nicht begünstigt, aber vor allem haben die EU und ihre Mitgliedstaaten selbst die
Fortschritte der Lissabon-Strategie torpediert, weil sie nicht in der Lage waren, energisch genug zu
handeln. Das frustrierende Ergebnis ist die Folge einer überladenen Agenda, schlechter Koordination
und von Konflikten zwischen verschiedenen Prioritäten. Im Endeffekt hat es also am ausreichenden
politischen Willen gefehlt.
Obwohl der Bericht alle Elemente der Lissabon-
Strategie als wichtig bestätigt, lässt er jedoch alles fallen, was mit dem sozialen Zusammenhalt
und dem europäischen Sozialmodell zu tun hat und konzentriert sich allein auf das Wachstum von
Wirtschaft und Beschäftigung als einzige Priorität. Die weitere Aktivität der Union soll
sich auf 14 Aktionspläne in ausschließlich fünf Betätigungsfeldern konzentrieren:
die Steigerung von Investitionen in
Forschung und Entwicklung;
die vollständige Liberalisierung
des Binnenmarkts, dabei insbesondere die Umsetzung der Bolkestein-Richtlinie über die Privatisierung
der öffentlichen Dienste;
die Schaffung günstigerer
Handelsbedingungen und die Flexibilisierung der Unternehmensgesetzgebung;
die Liberalisierung des Arbeitsmarkts,
die Rentenreform und die Gesundheitsreform;
die Umlenkung ökologischer
Zielsetzungen in einen neuen »grünen Markt« sowohl für Produktionsmittel als auch
für Konsumgüter.
Als Arbeitsmethode, um die Ziele von Lissabon
doch noch zu erreichen, schließt der Kok-Bericht einen Sanktionsmechanismus wie ihn der Wachstums- und
Stabilitätspakt vorsieht, aus, denn er ist gescheitert. Er schlägt aber vor, der Kommission neue
Befugnisse zu erteilen, damit sie periodisch Zwischenbilanzen über den Stand der nationalen
Umsetzungspläne eines jeden Mitgliedstaats veröffentlichen kann diese sollen bis Ende 2005
erstellt und verabschiedet sein. Die Kommission soll auch die Möglichkeit haben, Mitgliedstaaten zu
rügen oder zu loben, Noten und Punkte zu verteilen.
Nichts erlaubt ein besseres Urteil über den Bericht als die Reaktionen, die er hervorgerufen hat.
Der europäische Unternehmerverband, Unice, und die europäische Industrie- und Handelskammer,
Eurochambres, haben den Kok-Bericht positiv aufgenommen, vor allem die Anregung, nationale
Aktionspläne für seine Umsetzung zu erstellen. Sie haben jedoch kritisiert, er bleibe zweideutig
hinsichtlich der sozialen Ziele, die mit der Strategie von Lissabon immer noch verbunden seien und die
ihrer Meinung nach deutlicher zugunsten des Wirtschaftswachstums zurückgestellt werden müssten.
Noch radikaler, wenn das denn möglich
ist, hat sich der Rat von Lissabon für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit geäußert,
eine neoliberale Pressuregruppe, die offen kritisiert, dass der Europäische Rat für Soziales
immer noch das Recht hat, die Sozialminister der Mitgliedstaaten zu versammeln der Rat sei ein
Zerrspiegel von Lobbyinteressen und stünde unter dem Druck der Gewerkschaften.
Letztere hingegen sind frustriert über
die randständige Rolle, die das soziale Europa inzwischen spielt. Der Europäische
Gewerkschaftsbund übt sich im Spagat: zum einen begrüßt er den Bericht, wirft ihm zugleich
aber vor, er verrate den Geist der Lissabon-Strategie, weil er einseitig auf Wirtschaftswachstum setze und
dem Sozialdumping die Türen öffne. Er kritisiert auch offen die Privatisierung der
öffentlichen Dienste und die Bolkestein-Direktive. Er macht aber weder positive Vorschläge, noch
ruft er zum Widerstand auf.
Der Kok-Bericht, der von einem kleinen Expertenkreis ausgearbeitet wurde, verfolgt zuoberst das Ziel,
den geistigen und politischen Boden für die Debatten im Europäischen Rat im Frühjahr zu
bereiten. Die Aussichten für die abhängig Beschäftigten könnten nicht schlechter sein,
denn trotz einer Phase zunehmender Mobilisierungen und Widerstandsaktionen zeigt sich, dass der
gesellschaftliche und politische Preis z.B. für die Durchsetzung der Hartz-Gesetze in Deutschland
immer noch so niedrig ist, dass die Regierungen bereit sind ihn zu zahlen.
Nicht viel anders steht es in Frankreich,
Italien, Belgien, Spanien oder in den Niederlanden. Die großen Mobilisierungen der letzten drei Jahre
haben das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht ändern und die
Gewerkschaftsvorstände nicht dazu bewegen können, ihre Linie aufzugeben. Wahrscheinlich deshalb,
weil die alternative Linke noch nicht die geeigneten Instrumente gefunden hat, von partiellen und
sektoriellen Mobilisierungen zu einem verallgemeinerten Widerstand überzugehen, der politische
Auswirkungen auf die Gewerkschaften und auf Wahlebene hätte. Die strategische Debatte darüber,
wie die Mobilisierungen ausgeweitet werden können, wie eine breite soziale und politische
Aktionseinheit hergestellt werden kann, steht noch aus.
In seinen Schlussfolgerungen geht der Kok-
Bericht davon aus, dass das Ziel, die abhängig Beschäftigten am Produktivitätszuwachs zu
beteiligen, ein für allemal zu den Akten gelegt werden kann. Jetzt soll eine größere
Ausbeutung der Lohnabhängigen erreicht werden. In den kommenden fünf Jahren werden wir deshalb
eine regelrechte planvolle Offensive des Kapitals erleben: für die Liberalisierung der
Dienstleistungen (Bolkestein-Richtlinie), für die weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte,
für die Absenkung der Renten und der Gesundheitsversorgung. All dies orientiert sich natürlich am
Europäischen Verfassungsvertrag, der die neoliberale Politik in Gesetzesform gießt.
Widerstand leisten bleibt die oberste Aufgabe.
Uns auf europäischer Ebene gegen die Bolkestein-Richtlinie zu koordinieren, für einen
europaweiten Mindestlohn zu kämpfen, der wenigstens nach unten der Lohnkonkurrenz unter den
Beschäftigten einen Riegel vorschiebt, gegen Sozialdumping und Produktionsverlagerungen die
Steuerharmonisierung in Europa zu fordern das sind dringliche Ziele.
Es gibt keinen anderen Weg als die langsame
Akkumulation von Widerstandskraft auf europäischer Ebene, die Rekonstruktion einer alternativen Linken
auf sozialem und politischem Gebiet, ohne Sektierertum, ausgehend von den alten Organisationen der
Arbeiterklasse ebenso wie von den neuen Kampfforen wie das Europäische Sozialforum, die
Euromärsche oder der Weltmarsch der Frauen.
Gustavo Buster (Übersetzung: Angela Klein)
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