SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2005, Seite 16

Kok-Bericht über die Halbzeitbilanz von Lissabon

Neoliberaler Fünfjahresplan für eine neue Offensive

Drei Tage nach den Präsidentschaftswahlen in den USA nahm der Europäische Rat, der am 4. und 5.November in Brüssel zusammentrat, den Bericht von Wim Kok über die Umsetzung der Lissabon-Strategie entgegen. Das erklärte Ziel dieser Strategie ist es, den EU-Binnenmarkt bis zum Jahr 2010 »zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Ökonomie der Welt zu machen«.

Der Kok-Bericht sollte die Debatte über die Lissabon-Strategie vorbereiten, die der Europäischen Rat im März 2000 beschlossen hatte. Sie ist das große Erbe der Kommission Prodi. Die neue Kommission Barroso hat sie aufgegriffen und ihrerseits zum Mittelpunkt ihres »Reform«-Programms gemacht. Der Europäische Rat wird im kommenden März Bilanz ziehen über die erste Halbzeit der Lissabon-Strategie: in dieser Phase sollten die Mitgliedstaaten die gesetzlichen Grundlagen für die Erreichung der Ziele schaffen. Der Rat wird zugleich einen Plan für die zweite Phase der Umsetzung von 2005—2010 verabschieden. In anderen Worten: Der Europäische Rat will einen authentischen neoliberalen Fünfjahresplan für Europa verabschieden, und das vor dem Hintergrund der innerimperialistischen Konkurrenz in der euro-atlantischen Wirtschaft.

Falsche Prämissen

Die Strategie von Lissabon wurde zu einer Zeit entworfen, als die von den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien angetriebene New Economy noch im Aufschwung war — vor der Rezession der Jahre 2000—2001, die die spekulative Blase an den internationalen Börsen zum Platzen brachte. Damals schien es, als stünde die Welt kurz vor einem neuen Wirtschaftswunder.
Die EU sollte vom Beispiel der US-Wirtschaft lernen, wo die Einführung der neuen Informationstechnologien zu einem überraschenden Anstieg der Produktivität geführt hatte, und die notwendigen neoliberalen Reformen durchführen, um in einem expandierenden Markt an Konkurrenzfähigkeit zu gewinnen. Einmal mehr schien die Stunde gekommen, Opfer auf dem Altar des Wettbewerbs zu bringen.
Als Sühneopfer war das europäische Sozialmodell auserkoren, weil es angeblich der Modernisierung der europäischen Ökonomie im Weg stand. Wenn das Wirtschaftswachstum einmal an Fahrt gewonnen hätte, würde die Strategie von Lissabon einen gewissen sozialen Kern bewahren, sofern dieser dem Wettbewerbsimperativ untergeordnet bliebe und eine umfangreiche Reform der »korporatistischen« Sozialsysteme durchlaufen hätte.
Die Strategie von Lissabon stützte sich von Anfang an auf eine Reihe falscher Prämissen. Es stand nicht fest, dass das Produktivitätswachstum in den USA auf die neuen Technologien zurückzuführen war: heute wissen wir, dass der Beschäftigungsabbau und die Steigerung der Ausbeutungsrate eine viel größere Rolle spielten. Wir wissen auch von der Rolle des Militärkeynesianismus — der bewaffneten Globalisierung — der Administrationen Clinton und Bush; vom unaufhaltsamen Aufschwung des Haushaltsdefizits in den USA; von den Steuersenkungen, um den Konsum weiter zu finanzieren, und dem Fall des Dollar.
Die großen Instrumente der Strategie von Lissabon haben sich ebenfalls als zweispältig heraus gestellt: der Wachstums- und Stabilitätspakt erstickt den Binnenkonsum in Europa und begrenzt die öffentlichen Infrastrukturinvestitionen; die Privatisierung der öffentlichen Dienste; die Osterweiterung hat Lohn- und Sozialdumping und industrielle Produktionsverlagerungen zur Konsequenz.

Der Inhalt des Kok-Berichts


Dies hätte eine mögliche Bilanz des Kok-Berichts sein können. Denn der Bericht beginnt mit der Feststellung, dass die europäische Wirtschaft ihr Ziel, die produktivste Ökonomie der Welt zu werden, verfehlt hat. Alle Indikatoren zeigen, dass Europa Positionen gegenüber den USA und Japan verloren hat und ihr dafür neue Konkurrenten in der Gestalt von China und Indien erwachsen sind.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf liegt in der EU um 25% unter dem der USA. Das Produktivitätswachstum ist in den USA ein Prozentpunkt höher (bei 2,2% gegenüber 1,4%). Die Beschäftigungsquote beträgt in der EU 62,9%, in den USA 71,2%. Mit der Osterweiterung hat sich der Vergleich für die EU noch verschlechtert, denn während die Bevölkerung in der EU dadurch um 20% zugenommen hat, ist das BIP pro Kopf nur um 5% gestiegen, die Industrieproduktion pro Kopf ist sogar um 12,5% gefallen.
Der Bericht erklärt das Scheitern der gesetzten Ziele folgendermaßen: Die äußeren Begebenheiten seit dem Jahr 2000 haben das Erreichen der Ziel nicht begünstigt, aber vor allem haben die EU und ihre Mitgliedstaaten selbst die Fortschritte der Lissabon-Strategie torpediert, weil sie nicht in der Lage waren, energisch genug zu handeln. Das frustrierende Ergebnis ist die Folge einer überladenen Agenda, schlechter Koordination und von Konflikten zwischen verschiedenen Prioritäten. Im Endeffekt hat es also am ausreichenden politischen Willen gefehlt.
Obwohl der Bericht alle Elemente der Lissabon- Strategie als wichtig bestätigt, lässt er jedoch alles fallen, was mit dem sozialen Zusammenhalt und dem europäischen Sozialmodell zu tun hat und konzentriert sich allein auf das Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung als einzige Priorität. Die weitere Aktivität der Union soll sich auf 14 Aktionspläne in ausschließlich fünf Betätigungsfeldern konzentrieren:
die Steigerung von Investitionen in Forschung und Entwicklung;
die vollständige Liberalisierung des Binnenmarkts, dabei insbesondere die Umsetzung der Bolkestein-Richtlinie über die Privatisierung der öffentlichen Dienste;
die Schaffung günstigerer Handelsbedingungen und die Flexibilisierung der Unternehmensgesetzgebung;
die Liberalisierung des Arbeitsmarkts, die Rentenreform und die Gesundheitsreform;
die Umlenkung ökologischer Zielsetzungen in einen neuen »grünen Markt« sowohl für Produktionsmittel als auch für Konsumgüter.
Als Arbeitsmethode, um die Ziele von Lissabon doch noch zu erreichen, schließt der Kok-Bericht einen Sanktionsmechanismus wie ihn der Wachstums- und Stabilitätspakt vorsieht, aus, denn er ist gescheitert. Er schlägt aber vor, der Kommission neue Befugnisse zu erteilen, damit sie periodisch Zwischenbilanzen über den Stand der nationalen Umsetzungspläne eines jeden Mitgliedstaats veröffentlichen kann — diese sollen bis Ende 2005 erstellt und verabschiedet sein. Die Kommission soll auch die Möglichkeit haben, Mitgliedstaaten zu rügen oder zu loben, Noten und Punkte zu verteilen.

Reaktionen auf den Kok-Bericht

Nichts erlaubt ein besseres Urteil über den Bericht als die Reaktionen, die er hervorgerufen hat. Der europäische Unternehmerverband, Unice, und die europäische Industrie- und Handelskammer, Eurochambres, haben den Kok-Bericht positiv aufgenommen, vor allem die Anregung, nationale Aktionspläne für seine Umsetzung zu erstellen. Sie haben jedoch kritisiert, er bleibe zweideutig hinsichtlich der sozialen Ziele, die mit der Strategie von Lissabon immer noch verbunden seien und die ihrer Meinung nach deutlicher zugunsten des Wirtschaftswachstums zurückgestellt werden müssten.
Noch radikaler, wenn das denn möglich ist, hat sich der Rat von Lissabon für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit geäußert, eine neoliberale Pressuregruppe, die offen kritisiert, dass der Europäische Rat für Soziales immer noch das Recht hat, die Sozialminister der Mitgliedstaaten zu versammeln — der Rat sei ein Zerrspiegel von Lobbyinteressen und stünde unter dem Druck der Gewerkschaften.
Letztere hingegen sind frustriert über die randständige Rolle, die das soziale Europa inzwischen spielt. Der Europäische Gewerkschaftsbund übt sich im Spagat: zum einen begrüßt er den Bericht, wirft ihm zugleich aber vor, er verrate den Geist der Lissabon-Strategie, weil er einseitig auf Wirtschaftswachstum setze und dem Sozialdumping die Türen öffne. Er kritisiert auch offen die Privatisierung der öffentlichen Dienste und die Bolkestein-Direktive. Er macht aber weder positive Vorschläge, noch ruft er zum Widerstand auf.

Welche Perspektiven?

Der Kok-Bericht, der von einem kleinen Expertenkreis ausgearbeitet wurde, verfolgt zuoberst das Ziel, den geistigen und politischen Boden für die Debatten im Europäischen Rat im Frühjahr zu bereiten. Die Aussichten für die abhängig Beschäftigten könnten nicht schlechter sein, denn trotz einer Phase zunehmender Mobilisierungen und Widerstandsaktionen zeigt sich, dass der gesellschaftliche und politische Preis z.B. für die Durchsetzung der Hartz-Gesetze in Deutschland immer noch so niedrig ist, dass die Regierungen bereit sind ihn zu zahlen.
Nicht viel anders steht es in Frankreich, Italien, Belgien, Spanien oder in den Niederlanden. Die großen Mobilisierungen der letzten drei Jahre haben das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht ändern und die Gewerkschaftsvorstände nicht dazu bewegen können, ihre Linie aufzugeben. Wahrscheinlich deshalb, weil die alternative Linke noch nicht die geeigneten Instrumente gefunden hat, von partiellen und sektoriellen Mobilisierungen zu einem verallgemeinerten Widerstand überzugehen, der politische Auswirkungen auf die Gewerkschaften und auf Wahlebene hätte. Die strategische Debatte darüber, wie die Mobilisierungen ausgeweitet werden können, wie eine breite soziale und politische Aktionseinheit hergestellt werden kann, steht noch aus.
In seinen Schlussfolgerungen geht der Kok- Bericht davon aus, dass das Ziel, die abhängig Beschäftigten am Produktivitätszuwachs zu beteiligen, ein für allemal zu den Akten gelegt werden kann. Jetzt soll eine größere Ausbeutung der Lohnabhängigen erreicht werden. In den kommenden fünf Jahren werden wir deshalb eine regelrechte planvolle Offensive des Kapitals erleben: für die Liberalisierung der Dienstleistungen (Bolkestein-Richtlinie), für die weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte, für die Absenkung der Renten und der Gesundheitsversorgung. All dies orientiert sich natürlich am Europäischen Verfassungsvertrag, der die neoliberale Politik in Gesetzesform gießt.
Widerstand leisten bleibt die oberste Aufgabe. Uns auf europäischer Ebene gegen die Bolkestein-Richtlinie zu koordinieren, für einen europaweiten Mindestlohn zu kämpfen, der wenigstens nach unten der Lohnkonkurrenz unter den Beschäftigten einen Riegel vorschiebt, gegen Sozialdumping und Produktionsverlagerungen die Steuerharmonisierung in Europa zu fordern — das sind dringliche Ziele.
Es gibt keinen anderen Weg als die langsame Akkumulation von Widerstandskraft auf europäischer Ebene, die Rekonstruktion einer alternativen Linken auf sozialem und politischem Gebiet, ohne Sektierertum, ausgehend von den alten Organisationen der Arbeiterklasse ebenso wie von den neuen Kampfforen wie das Europäische Sozialforum, die Euromärsche oder der Weltmarsch der Frauen.

Gustavo Buster (Übersetzung: Angela Klein)

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang