SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 7

Hartz IV

Umsetzungschaos mit Rechtsbeugung

Seit dem 19.Juli 2004 wird das Vierte Gesetz für moderne Leistungen am Arbeitsmarkt — geregelt im Sozialgesetzbuch II — durch die Arbeitsagenturen und die Sozialhilfeträger umgesetzt.

Das Gesetz selbst enthält bereits viele Regelungen, die als grundgesetzwidrig angefochten werden können. Auch bestehen Regelungslücken zu anderen Gesetzeswerken, z.B. zum Familienrecht oder zur Jugendhilfe, in Teilen auch zur Krankenversicherung. Die Auslegung des Gesetzes durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) — in den Durchführungsempfehlungen der BA oder im Antrag auf Arbeitslosengeld II (ALG II) — wirft zusätzliche datenschutzrechtliche bzw. grundgesetzrelevante Fragen und Probleme auf.
Der Vollzug des Gesetzes scheint in weiten Teilen eine weitere Verschlechterung gegenüber den Betroffenen zu bewirken und oftmals völlig regelwidrig abzulaufen. Dafür trägt vor allem die Bundespolitik die politische Verantwortung.
Sie hat durch die kurzfristige Inkraftsetzung des Gesetzes Beschäftigte der Arbeitsagenturen an die Grenzen ihrer Kraft und massenhaft Bedürftige in die Bredouille gebracht, wenn sie ihre Miete, die laufenden und einmaligen Aufwendungen nicht zahlen können. Der Einführungsdruck, unter den Hartz IV gesetzt wurde, mündete folgerichtig in ein Umsetzungschaos mit Rechtsbeugung.

Datenschutzwidriges Formular

Für viele Antragsteller von ALG II war die Ausfüllung des Antrages auf ALG II die erste große Hürde. Das 16-seitige Formular wurde schubweise beginnend mit dem 19.Juli 2004 an die Bezieher von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verschickt.
Schon vor der Verschickung fanden sich grobe Fehler im Formular. Dazu gehörten neben der kontinuierlichen Verwechslung von Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaft vergessene Hinweise zur Freiwilligkeit von Angaben wie Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Anzahl der Räume in der Wohnung.
Die Antragsteller und ihre erwerbstätigen Angehörigen werden u.a. aufgefordert, Verdienstbescheinigungen von den jeweiligen Arbeitgebern einzureichen oder die Anschrift des Vermieters anzugeben. Diese wie auch andere Fragen verstoßen eindeutig gegen den Sozialdatenschutz.
Die Arbeitslosenzeitung Quer wandte sich daraufhin an den Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar. Heraus kam, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte bei der Erarbeitung des Formulars gar nicht gefragt worden war. Er verhandelte mit der BA insgesamt 15 datenschutzrechtliche Fehler.
Seine Stellungnahme gelangte an die Öffentlichkeit, weil das Sozialhilfeberatungszentrum Tacheles in Wuppertal es an die Frankfurter Rundschau weitergab. Auf ein von der BA in Aussicht gestelltes, berichtigtes Formular warten wir noch heute.
Durch weitere Mängel im Formular dürfte ein Großteil der ALG-II-Beziehenden erheblich Geld verloren haben.
Erst am 9.7.2004 kam zwischen Bundestag und Bundesrat das Optionsgesetz und damit eine erste Novellierung des SGB II im Deutschen Bundestag zustande. Seitdem übten Bundespolitik, Arbeitsagenturen, Kommunalpolitik und Sozialhilfeträger massiven Druck auf die bedürftigen Menschen aus.
Zum anderen machten die Medien Druck. Sie behaupteten, nur die Anträge hätten Chancen auf Bearbeitung, die schnellstens bzw. pünktlich eingereicht würden. Daraufhin fingen die Sozialhilfeträger an, Betroffenen einen Abgabetermin bis zum 15.9.2004 zu stellen — richtig wäre der 31.12.2004 gewesen.
In Frankfurt am Main wurde bei nicht pünktlicher Abgabe sogar mit der Nichtweitergewährung der Sozialhilfe gedroht. Die Arbeitsagenturen haben Betroffene, denen sie einen ALG-II-Antrag zugesandt hatten, teilweise großflächig mit Meldeterminen überzogen.
An die Meldetermine gekoppelt waren Aufforderungen zur Abgabe der ALG-II-Anträge, zum Besuch von Informationsveranstaltungen, zu telefonischen Vorsprachen bei der Arbeitsvermittlerin sowie Sanktionsdrohungen.

Umsetzungschaos

Die Umsetzung der Sozialgesetzbücher II und XII begann erwartungsgemäß mit Pleiten, Pech und Pannen. Heinrich Alt, Vizekanzler der BA, musste zugeben, dass bei 1,8 Millionen Anträgen eine Panne passiert war. Ein Fehler im Computerprogramm hätte dafür gesorgt, dass bei den Kontonummern der Antragsteller die Nullen von rechts statt von links aufgefüllt wurden. Tausende von Überweisungen an Banken und Kreditinstitute wurden an die Arbeitsagenturen zurückgeschickt. Bis weit über den Jahreswechsel mussten Beschäftigte der Arbeitsagenturen die Fehler per Hand ausbügeln.
Laut Herrn Alt sollten alle spätestens am 5.1.2005 ihr ALG II auf dem Konto haben. Sei dies nicht der Fall, gäbe es Abschlagszahlungen. Doch alles kam anders.
Anfang Januar 2005 hatten sehr viele Menschen weder ALG II auf dem Konto noch einen Bescheid. In den Arbeitsagenturen Berlins standen bis tief in die dritte Januarwoche hinein riesengroße Schlangen in den Jobcentern. Nicht nur Kontonummern waren falsch, Anträge waren auch unauffindbar. Speziell in den Bezirken Mitte/Tempelhof/Wedding sowie Friedrichshain/Kreuzberg wurden 12000 Anträge gesucht.
Letztere stammten vorrangig von Sozialhilfebeziehern. Sie hatten die Anträge teilweise bereits bis zum 15.9.2004 abgeben müssen, doch die Kisten mit den Anträgen waren infolge von Umzügen der Arbeitsagenturen zunächst unauffindbar.
Als Hauptgrund machte der 2.Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Friedrichshain/Kreuzberg Personalmangel geltend. Die Betroffenen hatten ihre liebe Not, wenigstens Abschläge für den Lebensunterhalt und die Miete zu bekommen. Nach ihren Aussagen waren die Arbeitsagenturen in den ersten Wochen kaum bereit, Abschläge zu zahlen.

Neueinrichtungen der Jobcenter

Eine große Hürde für die Antragsteller war, dass die Arbeitsagenturen erst im Januar 2005 mit der Einrichtung der Jobcenter begannen. Denn die Arbeitsagenturen sind seit Jahresanfang nur noch zuständig für Arbeitslose, die Arbeitslosengeld beziehen und somit dem SGB III (Arbeitsförderung) unterstehen. Für ALG-II-Beziehende sind jetzt die Jobcenter zuständig.
Aufgrund dieser neuen Konstellation waren die Arbeitsagenturen ab Januar im Umzug. Die Jobcenter erhielten neue Niederlassungen. In jeder Stadt und in jedem Stadtbezirk teilten sie sich anders auf. Ab Mitte Januar fingen die Antragsteller von ALG II erst einmal an, die neuen Niederlassungen zu suchen.
Seit März wurden die Jobcenter personell aufgestockt mit Beschäftigten der Telekom und aus Personalüberhangsfonds des Landes Berlins. Diese Angestellten waren zumeist mit der inhaltlichen Bearbeitung der Anträge völlig überfordert. Für sie stand keine Computervernetzung zu den vorherigen Leistungen Arbeitslosengeld oder -hilfe zur Verfügung. Außerdem kamen sie zunächst nicht an die Akten heran, da erst eine Akteneinsichtserlaubnis eingeholt werden musste.
Der stellvertretende Leiter der ARGE Friedrichshain/Kreuzberg erklärte am 3.3.2005, wegen der großen Arbeitsbelastung könne noch lange keine Vermittlungstätigkeite für die ALG-II-Beziehenden beginnen — außer bei Jugendlichen.
Etwa 260000 (9,3%) der ALG-II-Anträge wurden abgelehnt. Ungefähr 5% der Langzeitarbeitslosen reichten wegen mangelnder Erfolgsaussichten erst keinen Antrag ein. Hauptgrund für die Ablehnung war die Anrechnung von Partnereinkommen. Tacheles e.V. (Wuppertal) schätzt darüber hinaus, dass bis zu 90% der ausgestellten Bescheide falsch sind.
Die Fehlerhaftigkeit bezieht sich auf Form und Inhalt. Kein Bescheid war selbsterklärend. Die Betroffenen sahen sich unklaren Tabellen gegenüber. Manche erhielten nur die erste Seite und gar keine Tabellen. Es war nicht ersichtlich, wie es zu Abschlägen bei Regelleistungen, Kosten der Unterkunft, zur Einkommensermittlung und -anrechnung gekommen war. In sehr vielen Fällen fehlte die Begründung der Entscheidung.
Inhaltlich gab es eine Reihe wiederkehrender Fehler. Dazu gehörten neben »vergessenen« Kindern (kein Sozialgeld) die Minderung der Unterkunftskosten, die doppelte Anrechnung des Kindergelds bei Mutter und erwachsenem Kind, vergessene befristete Zuschläge sowie unbewilligte Mehrbedarfe, Umzugsaufforderungen oder Aufforderungen zur Kündigung der Mietverträge. Den meisten Beschäftigten der Arbeitsagenturen schien die Sozialhilfepraxis völlig fremd, und sie entschieden willkürlich ohne Anleitung oder Empfehlungen.
Erst ab Mitte Januar gab die BA Durchführungshinweise zum SGB II heraus. Auffällig ist dabei, dass diese an etlichen Stellen von der Sozialhilfepraxis abweichen. Die Verordnungen zum SGB II sind noch nicht vollständig. Einen ersten Fachkommentar gibt es erst seit Anfang März.
Die BA erließ aufgrund der vielen oft fachlich begründeten Mängel die Order, die Sachbearbeiter hätten bei ersichtlichen Fehlbescheidungen die Fehler sofort zu beseitigen. Das passierte auch in vielen Fällen. Dieses Vorgehen höhlt allerdings die Einlegung von Widersprüchen als Verfahren der Rechtsmitteleinlegung aus. Es suggeriert Betroffenen, dass der Bescheid nun in Ordnung sei. Dies war häufig mitnichten der Fall.

Trickserei bei Widersprüchen

Seit Januar 2005 sind 5,605 Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften des SGB II. 4,089 Millionen ALG- II-Beziehende sind im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Davon sind 2,4 Millionen ALG-II- Beziehende erwerbslos. Wegen der fehlerhaften Bescheide zählte die BA Ende Februar 212000 Widersprüche. Erledigt wurden davon bisher 36000, etwa 16000 wurden als ganz oder teilweise berechtigt befunden. In rund 700 Fällen wurde bisher Klage erhoben, meist wegen unklarer Entscheidungen zur Leistungshöhe. Nach Erhalt der Begründung durch das Jobcenter wollten sie ihren Widerspruch begründen.
Die Folgen waren vielseitig: Entweder steckten daraufhin Änderungsbescheide im Briefkasten. Oder sie wurden nach vier Wochen postalisch mit Strafandrohung zum Nachreichen der Begründung aufgefordert. Einstweilige Anordnungen führten nicht zu einer gerichtlichen schriftlichen Entscheidung, sondern zum Änderungsbescheid des Jobcenters und wurden auf diese Weise abgebogen.
Im gesetzesfreien Raum scheint sich momentan auch die Vermittlung in Arbeitsgelegenheiten nach §16 Abs.3 zu bewegen. Die gegenwärtige ARGE- Praxis in Hamburg, Erwerbslose sofort und umstandslos in 1-Euro-Jobs zu schicken, ist eindeutig rechtswidrig. Laut SGB II sollen die Betroffenen in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vermittelt werden oder es soll mit ihnen eine Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen werden. Im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung soll geprüft werden, ob nicht Arbeitsfördermaßnahmen nach dem SGB III (Arbeitsförderung) als Ermessensleistungen für die Betroffenen in Frage kommen. Erst als letzte Maßnahme sind so genannte 1-Euro-Jobs angedacht.
Gegenwärtig werden Betroffenen aber beinahe ausschließlich und sofort Arbeitsgelegenheiten angeboten. Die meisten haben keine Eingliederungsvereinbarung. Die Arbeitsagenturen weisen die Erforderlichkeit der Maßnahme zur Aufnahme von Arbeit im ersten Arbeitsmarkt nicht nach. Diktatorisch und willkürlich drohen sie mit Strafen.
Andererseits wird nach und nach deutlich, wie sehr »1-Euro-Jobs« Arbeitsplätze verdrängen: Hierzu gehören Beispiele wie der Umzug des Bezirksamtes Neukölln, wo »1-Euro-Jobber« eine Umzugsfirma ersetzten, aber auch die vielen Beispiele, wo ausgebildete Lehrer und Sozialpädagoginnen an Schulen auf 1-Euro-Basis nicht wiederbesetzte Lehrerstellen übernehmen müssen.
Auch die Zustimmung zu Arbeitsgelegenheiten läuft seltsam. Der stellvertretende Leiter der ARGE Friedrichshain/Kreuzberg wusste am 3.3.2005 nur von 50 Maßnahmen, die die zwölf ARGE in Berlin erst bewilligt hätten, aber mehr als 350 ALG- II-Beziehende sind ihnen bereits zugewiesen. Die verzögerte Zustimmung der ARGE begründete er damit, es gebe in zunehmendem Maße Zwistigkeiten zwischen den Trägern der Maßnahmen und den Vereinen und Behörden, in denen die Menschen dann beschäftigt sind. In Berlin soll es eine interne Verfügung gegeben haben, wonach die Maßnahmen nur im 50er—70er Pack bei den Trägern bewilligt werden. Zu den Trägern gehören z.B. Bequit, Kubus oder der Internationale Bund für Jugendsozialarbeit.

Vereine werden erpresst

Die Träger leiten die »1-Euro-Jobber« an Vereine und Behörden weiter und stecken selbst die Aufwandspauschale der Arbeitsagenturen ein. Die Kosten, die bei den Einsatzstellen entstehen, können die finanziell meist knappen Vereine nicht aus eigenen Mitteln tragen. Damit ergibt sich das Problem, dass die eigentlichen Einsatzstellen die »1-Euro-Jobber« ohne Kofinanzierung gar nicht annehmen können. Aus diesem Grunde erscheinen »1-Euro-Jobber« gegenwärtig nur in Schulen.
Andererseits sind viele Vereine, die vorher Arbeitskräfte auf Basis von ABM oder SAM beschäftigt haben, gezwungen auf »1-Euro- Jobber« zurückzugreifen, selbst wenn sie diese Jobs ablehnen, um ihr Angebote an ökologischen, kulturellen, sportlichen oder sozialen Zwecken aufrechterhalten zu können.
Die Vereine der Stadt Bielefeld haben dagegen politisch Stellung bezogen: Sie fordern die Finanzierung regulärer Beschäftigungsverhältnisse durch den Bund zur Erhaltung der öffentlichen Pflichtaufgaben im Rahmen der Vereinsarbeit. Doch die Tendenz geht dahin, dass öffentliche Pflichtaufgaben in Arbeitszwangsmaßnahmen erledigt werden. Vielen Vereinen ist klar, dass sie dann die Kontinuität und Qualität ihrer Arbeit vergessen können.

Ena Bonar

Ena Bonar ist freiberufliche Politikberaterin. Dies ist die Kurzfassung eines ausführlicheren Artikels, der bei der Redaktion angefordert werden kann.



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