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Wer an die Symbolkraft des Schicksals glaubt, sollte nach Nordrhein-Westfalen
schauen.
Nach annähernd zwanzig Jahren
Gesprächen und Verhandlungen hatte die IG Metall in den letzten zwei Jahren in fast allen
Tarifbezirken Verträge über ein neues Entgeltrahmenabkommen (ERA) mit den Unternehmern
abgeschlossen. Im Bezirk NRW begann am 1.März dieses Jahres die offizielle Einführungsfrist und
damit eine endlose Kette von betrieblichen Umsetzungsverhandlungen.
Just zu diesem Zeitpunkt fiel der IG-Metall-
Tarifexperte und Architekt des überaus komplizierten Vertragswerks in NRW von einer hohen Leiter und
verletzte sich schwer. Unser Mitgefühl hat der Kollege auf jeden Fall. Sein Absturz könnte aber
einer entsprechenden Bauchlandung der gesamten IG Metall in NRW in Sachen ERA vorausgegangen sein.
Die Erwartungen an das neue
Entgeltrahmenabkommen waren sehr hoch und nicht wenige Tarifrunden und sonstige Aktivitäten der IG
Metall wurden unter Hinweis auf ERA noch eine Spur ruhiger und versöhnlerischer als sonst schon in der
nordrhein-westfälischen Metallindustrie abgewickelt. Mit ERA sollte die alte Trennung zwischen
Angestellten und Arbeitern aufgehoben und sämtliche Beschäftigten detailliert nach ihrer
tatsächlichen Arbeit und der dafür notwendigen Qualifikation neu bewertet werden.
Dies ist unbestritten sinnvoll und
überfällig. Die modernen Betriebsabläufe und Computer gesteuerten Produktionsmittel haben
diese Trennung schon lange überholt. Die in der Regel deutlich höhere Bewertung von Angestellten
hat keine Berechtigung mehr. Deshalb wollten sowohl Gewerkschaften als auch Unternehmerverbände
gleichermaßen den neuen Tarifvertrag.
Das neue Abkommen sieht eine Einzelbeschreibung der konkreten Tätigkeiten vor. Dazu wurden 121
Beispielarbeitsplätze vom einfachen Hilfsarbeiter in der Produktion bis zum
Verfahrensingenieur, von der Schreibkraft bis zur Bilanzbuchhalterin und dem EDV-Administrator
analysiert. Aus diesen sog. Niveaubeispielen wurde ein Punktesystem abgeleitet, das in den vier Kategorien
»Können«, »Handlungs- und Entscheidungsspielraum«, »Kooperation« und
»Mitarbeiterführung« die tatsächlichen Arbeitsaufgaben aufzuschlüsseln und zu
bewerten versucht. Jeder damit erreichten Punktzahl wurde eine von 14 Entgeltstufen zugeordnet.
Das neue Punktesystem versprach mehrere
entscheidende Verbesserungen. Erstens sollte es die Arbeitsaufgaben genauer, »objektiver« und
realistischer erfassen. Zweitens wurde als wichtigste Neuerung in der Kategorie »Können«
die mit Abstand das größte Gewicht in der Gesamtpunktbewertung hat die höchste
abgeforderte Qualifikation zugrundegelegt, auch wenn sie nur kurzzeitig benötigt wird. Diese
Sichtweise löst die alte Methode ab, von einer prägenden oder vorrangigen Tätigkeit
auszugehen, bei der kurzzeitige höher qualifizierte Tätigkeiten stillschweigend bei der Bezahlung
unberücksichtigt blieben.
Drittens ist das neue ERA erheblich
dynamischer und flexibler als das alte Lohnrahmensystem. Die Beschäftigten können damit schneller
und geplanter in höhere Entgeltstufen aufrücken. Schließlich wurde das ERA in ein dichtes
System der Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Einstufung und individuellen Reklamationsmöglichkeit
der einzelnen Beschäftigten nach der Ersteinstufung eingebettet.
Zu guter Letzt wurden Vereinbarungen
getroffen, dass zur Finanzierung der ERA-Einführung bei den vorhergehenden Lohntarifrunden spezielle
Abstriche vorgenommen und Rücklagefonds gebildet werden. Und natürlich: niemand sollte
durch die Neubewertung durch ERA in der Bezahlung schlechter gestellt werden. Eventuelle
»Überschreiter« die nach der alten Bewertung mehr als nach der neuen verdienen
haben langfristigen Bestandsschutz und verlieren in kleinen Schritten lediglich Teile der kommenden
Zuwächse durch Tariferhöhungen. Die »Unterschreiter« wiederum erhalten in viel
kürzerer Zeit die Aufstockung der Gehaltszahlung gemäß der neuen, besseren Entgeltgruppe.
Also ein modernes, sozialpartnerschaftliches
»Win-win«-Vertragswerk, bei dem die Unternehmer durch »wissenschaftliche«
Plangenauigkeit und zufriedene Beschäftigte belohnt, die Beschäftigten mit dynamischer
Gehaltsentwicklung nach oben beruhigt und die Gewerkschaften durch neue Mitglieder entschädigt werden.
Ein Wunderwerk der Klassengesellschaft… oder nicht?
Bis 2009 muss das ERA in allen tarifgebundenen Betrieben eingeführt worden sein. Die Unternehmer
hatten es nach anfänglicher Verzögerungstaktik plötzlich sehr eilig mit der Einführung.
Sie witterten eine Chance, bei der allgemeinen Dauerpropaganda der Medien, dass »die Arbeit zu teuer
sei«, bei den Beschäftigten eine neue Bescheidenheit und Bereitschaft zu niedrigerer Einstufung
durchsetzen zu können. Spätestens nach Auslaufen der bestandsgeschützten
Arbeitsverträge und bei Neueinstellungen sollte sich dies in einer deutlichen Senkung der Lohnsumme
bemerkbar machen.
Jetzt zeigte sich der erste dicke
Pferdefuß des ERA: Den Löwenanteil der Umsetzung, die genaue betriebliche Analyse und Einstufung
der Beschäftigten, mussten die »Betriebsparteien« vornehmen. Eine gewaltige Verlagerung der
Tarifpolitik in den Einzelbetrieb, wie es die selbsternannten Modernisierer in und außerhalb des DGB
sich kaum haben erträumen können. Die IG Metall ermuntert darüber hinaus ihre
Funktionäre und Betriebsräte ausdrücklich, auf einem Sonderpunkt des
Einführungsverfahrens zu beharren, die »Paritätische Kommission«, was die
Verbetrieblichung noch mehr fördert.
Das ERA wollte vor allem als objektiv und
wissenschaftlich gelten und eine Bewertung der Arbeitsaufgaben vornehmen, die völlig losgelöst
ist von der konkreten Person, die sie ausführt. Wer sich daran hält, wird sehr unangenehm
überrascht: Ein durchschnittlicher Betrieb besteht danach fast nur aus Überschreitern. Die
objektiven Bewertungsgrundlagen wurden entweder falsch mit Entgeltbeträgen verkoppelt oder generell zu
niedrig angesetzt.
Insbesondere Angestellte, aber auch viele
durchschnittliche Facharbeiter in den alten Lohngruppen 8 und 9 erlebten ein Schockerlebnis. Die neue ERA-
Bewertung teilt ihnen schonungslos mit, dass sie seit Jahren zu hoch bezahlt werden. Bei mittleren
Angestellten führt die Neubewertung zu einem Verlust bis zu 1400 Euro im Monat.
Vor allem in Tausenden Mittelbetrieben,
besonders solche mit einer engagierten Belegschaft und gewerkschaftlichen Stärke, waren die
Beschäftigten in der Vergangenheit systematisch in hohe Lohn- und Gehaltsgruppen gerückt. Das war
einerseits Ergebnis guter Betriebsratsarbeit, andererseits aber auch ein Ausgleich für das Fehlen von
Sozialleistungen und übertarifliche Zuwendungen, die in Großbetrieben gewährt werden.
Jetzt werden diese Betriebe, und darin
natürlich die engagierten IG-Metall-Vertreter, besonders bestraft. Frühere Erfolge der
Gewerkschaft bei der Einstufung werden durch das neue, objektive ERA-Verfahren als große Fehlleistung
entlarvt. Es ist abzusehen, dass die IG Metall dafür mit massenhaften Austritten vor allem bei den eh
nur schwer zu organisierenden Angestellten bestraft werden wird. Die neue ERA-Bewertung
»entwertet« und entwürdigt massenhaft Kolleginnen und Kollegen. Da hilft der Hinweis, dass
sie ja immerhin noch eine Weile das gleiche Geld bekommen, überhaupt nichts.
Aus diesem Dilemma können sich die ERA-Unterhändler in den Betrieben nur dadurch lösen,
dass sie sich insbesondere bei den höheren und Angestelltentätigkeiten genau andersherum
verhalten, als ihnen in den ERA-Schulungen der IG Metall beigebracht wurde. Sie müssen
ausdrücklich nicht nur das »Was« der Tätigkeit in die Bewertung einbeziehen, sondern
vor allem das »Wie«, nämlich die konkrete Person, die die Aufgabe bewältigt.
Frei nach dem immer richtigen Motto
»Lohnfragen sind Machtfragen« müssen sie mit der Haltung verhandeln, die konkrete Person
könne alles, verfüge über jegliche Erfahrung und mache alles super selbstständig. Nur
in diesen nicht mehr »objektiv« und wissenschaftlich nachzuzeichnenden Bereichen können die
notwendigen Punkte gesammelt werden, um wenigstens in die Nähe der alten Bezüge zu kommen.
Vorausgesetzt die Betriebsräte setzen
sich für die unteren Lohngruppen überdurchschnittlich ein, was leider in vielen Betrieben nicht
Alltag ist, kann wenigstens für diese mit der empfohlenen »objektiven« Bewertungsmethode
etwas herausgeholt werden. Der Hilfsarbeiter, der nur einmal im Monat oder in der Ferienzeit kompliziertere
Tätigkeiten verrichtet, ist relativ häufig anzutreffen.
Nach den ersten Erfahrungen der ERA-
Einführung in den NRW-Betrieben wird deutlich, dass die stillen Hoffnungen der IG Metall, hier
würde relativ geräuschlos ein Erfolgsselbstgänger ins Leben gerufen, der neue Mitglieder im
Schlaf bringt, wie eine Seifenblase sind. Im Gegenteil, wenn ERA nicht zu einer Flächen deckenden
Entwertung der Arbeit führen soll, muss ein erbitterter und rücksichtsloser Kampf in jedem
einzelnen Betrieb geführt werden. Andernfalls werden die Mitglieder der IG Metall scharenweise die
rote Karte zeigen. Und mit was? Mit Recht.
Thies Gleiss
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