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Richard von Weizsäcker ist ein kluger Mann, und er hat sich als
vorausschauend erwiesen: Seine Definition, der 8.Mai sei aus deutscher Sicht als »Tag der
Befreiung« zu würdigen, ist über die Jahre zur offiziellen Lesart der Geschichte bei den
politischen Repräsentanten der Bundesrepublik geworden. Als er sie mit bundespräsidialer
Autorität vorbrachte, stieß sie noch auf Unbehagen und Einwände beim Establisment, nicht nur
auf Widerspruch von Neofaschisten und Nationalisten. Heute indessen lässt sich mit einer
»Befreiung Deutschlands 1945« ganz gut leben denn wirklich zu Ende gegangen ist, wie
alerte Nachwuchshistoriker jetzt gern und vieldeutig sagen, der Zweite Weltkrieg erst 1990, also mit dem
Verschwinden der DDR und dem Zerfall des sowjetischen Staates, der Auflösung des
»Ostblocks«.
Als Beschreibung der deutschen Realitäten ist der Begriff »Befreiung«, wie unschwer
zu erkennen sein dürfte, wenig tauglich. Befreit fühlen konnten sich die Überlebenden in
Konzentrationslagern, politische Häftlinge in Zuchthäusern, untergetauchte Deserteure, davon
gekommene Gegner des »Dritten Reiches«, der Ausrottung entgangene deutsche Juden und
Angehörige anderer als »minderwertig« stigmatisierter Bevölkerungsgruppen. Befreiung
bedeutete das Frühjahr 1945 auch für die in Deutschland festgehaltenen ausländischen KZ-
Häftlinge, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen, aber da handelte es sich nicht um die Befreiung von
Deutschen, und soweit Deutsche befreit wurden, waren dies Minderheiten. Die Mehrheit der deutschen
Bevölkerung hatte den Sieg der Alliierten nicht gewünscht, sie wollte nicht »befreit«
werden.
Viele Deutsche hofften noch kurz vor der Kapitulation auf »Wunderwaffen«, die eine Wende des
»Kriegsglücks« bringen sollten. Noch mehr Deutsche ahnten zwar die endgültige
Niederlage und waren erleichtert über das Ende des Krieges, aber sie sahen in den Alliierten nicht
ihre Befreier, sondern die Stärkeren, denen der Erfolg zugefallen war. Die Alliierten wiederum hatten
den Krieg ja nicht zu dem Zweck geführt, Deutschland zu befreien, sondern um deutsche
militärische Aggressionen abzuwehren oder die Aggressoren wieder aus dem eigenen Land zu vertreiben
und künftige deutsche Angriffe zu verhindern; eben deshalb sollte das faschistische System in
Deutschland mitsamt seinem Machtpotenzial zerschlagen, Deutschland »entnazifiziert« werden.
Wenn Deutsche heute den 8.Mai zum »Tag
der Befreiung Deutschlands« erklären, so wird damit unterschwellig einer seit 1945 grassierenden
Geschichtslegende Beihilfe geleistet, nämlich der rechtfertigenden Vorstellung, eine »kleine
Naziclique« habe das deutsche Volk zur Unterwerfung und in den Krieg gezwungen. So war es aber nicht.
Der deutsche Faschismus konnte sich
machtpolitisch etablieren, seine Macht festigen und dann kriegerische Expansion versuchen, weil er
Mehrheitsfähigkeit besaß, weil er Interessen und Ideen bündelte, die längst vor 1933
bereit lagen, und weil er weite Teile der deutschen Gesellschaft zur Loyalität bei seinen
militärischen Projekten brachte. Widerstand gegen das »Dritte Reich« hatte es im
Wesentlichen nur auf der Linken, aus der Arbeiterbewegung gegeben; diese widerständigen Kräfte
waren unterlegen. Ein ernsthafter Versuch aus Militärkreisen, Hitler zu stürzen, kam erst
zustande, als die deutsche militärische Niederlage sich für Insider bereits abzeichnete; er blieb
isoliert und ohne Erfolg.
Anders als im Ersten Weltkrieg kam es in
Deutschland 19391945 nicht zu einer revolutionären Bewegung gegen den Krieg und gegen den Staat,
allein die völlige militärische Niederlage war es diesmal, die dem deutschen politischen
Machtsystem ein Ende bereitete, und insofern hatte es seine historische Logik, dass im Frühjahr 1945
nicht eine Befreiung, sondern eine Besetzung Deutschlands stattfand.
Die Besatzungsmächte aber hatten, wenn
erst der deutsche Faschismus geschlagen war, keineswegs gemeinsame welt- und deutschlandpolitische
Interessen; sie hatten ein Bündnis auf Zeit praktiziert, der Konflikt zwischen ihnen war nur für
die Dauer des Krieges aufgeschoben, offen war nach 1945 die Wahl der Mittel…
Wenn heute sozial-liberale oder liberal-konservative Historiker die »Befreiung Deutschlands
1945« reflektieren, dann setzen sie diese zumeist gleich mit einer »deutschen Entscheidung
für den Westen«, will sagen: dem Weg zu einer rechtsstaatlich-parlamentarischen Form des
Kapitalismus. (Fast durchweg unreflektiert bleibt dabei, wieviel an demokratischer Substanz, dem
gegenwärtigen Trend nach, im Parlamentarismus noch übrig bleibt und ob von einem solchen
überhaupt noch die Rede sein kann.) »Befreiung« wird damit eingegrenzt auf die westdeutsche
Entwicklung, und mit der Auflösung der DDR wurde dann, dieser Version zufolge, Ostdeutschland
»nachbefreit«.
Aus der historischen Erinnerung verdrängt
sind auf diese Weise die Konzepte und Bemühungen deutscher Antifaschisten nach 1945, einen Weg
gesamtdeutscher Entwicklung abseits sowohl des US-amerikanischen kapitalistischen Modells als auch des
Modells der Sowjetunion zu finden. Mehr noch: Die »Befreiung Deutschlands 1945« erscheint als
eine historische Tat der USA.
Die wirklichen geschichtlichen Vorgänge
und Abläufe, 1945 in die Kapitulation des Deutschen Reiches und die Besetzung des deutschen
Territorium mündend, sind dabei nicht erfasst, da ist eine eigentümliche
»Schneidetechnik« in der Historiografie am Werk. Die Feldzüge des »Dritten Reichs«
vor 1941 lassen sich noch als übliche Gewaltakte bei der Konkurrenz imperialistischer Staaten um
Räume und Ressourcen deuten der Krieg gegen die Sowjetunion hatte einen singulären
Charakter, er war ein monströses rassistisches Staatsverbrechen, bei dem auf die sonst noch
einigermaßen beachteten Konventionen keine Rücksicht mehr genommen wurde.
Hitler-Deutschland wollte sich Gebiete
riesigen Ausmaßes im Osten völlig unterwerfen, sich riesige Wirtschaftsgüter damit aneignen,
und die Vernichtung von Menschen, die dem im Wege standen, war in riesigen Dimensionen von vorneherein
eingeplant.
In diesem Zusammenhang kam es auch zu dem
Entschluss, das europäische Judentum »auszurotten«, den mörderischen Antisemitismus bis
zur letzten Konsequenz auszuüben, nicht nur in Vernichtungslagern, sondern auch bei den
militärischen Vorstößen hinter der Front. Dabei setzte die Führung des »Dritten
Reichs« Juden und Kommunisten in eins, orientierte sich am Feindbild vom »jüdischen
Bolschewismus«. Unter den Menschen in der Sowjetunion fand der deutsche Griff zur Weltmacht die
allermeisten Opfer, und andererseits trug die sowjetische Bevölkerung die allergrößte Last
beim Krieg gegen den deutschen Faschismus, die Rote Armee gab den Ausschlag für den Sieg der
Alliierten über Hitlerdeutschland. Sie war es auch, die in Auschwitz die Überlebenden befreite.
Wenn man diesen Teil der Geschichte des
Zweiten Weltkriegs im Blick hat, fällt auf die Entwicklung Deutschlands nach 1945 ein anderes Licht
als unter der Perspektive der »Verwestlichung«: Die gesellschaftspolitischen Kontinuitäten
zwischen Deutschland vor 1945 und Westdeutschland nach 1945 treten dann deutlich hervor. Um den Titel des
so publikumswirksamen Films heranzuziehen: Der »Untergang« Hitlers und seiner engsten Gehilfen,
auch seiner Partei, bedeutete keineswegs, dass die Funktionseliten des »Dritten Reichs« nach 1945
jeden gesellschaftspoltischen Einfluss verloren hätten.
Im neu gegründeten westdeutschen Staat
mischten »Ehemalige« aus den hitlerdeutschen Spitzenpositionen kräftig weiter mit, in
Justiz, Bürokratie und Unternehmerschaft, in den Medien und dann auch im neuen Militär.
Selbstverständlich war die Bedingung dafür, dass sie sich den neuen, »westlichen«
politischen Rahmenbedingungen anpassten. Möglich wurden diese Kontinuitätslinien, weil die USA
als maßgebliche westliche Besatzungsmacht daran interessiert war, kapitalismuskritische Regungen in
Westdeutschland klein zu halten und die Bundesrepublik zu einem Frontposten im Kalten Krieg auszubauen.
Rehabilitiert war damit der Antikommunismus
aus der Zeit des »Dritten Reichs«, sofern er auf eine Kombination mit antisemitischer Ideologie
verzichtete und sich nicht offen rassistisch äußerte; von Russen als »Untermenschen«
sollte nun nicht mehr gesprochen werden, aber in der populären Umsetzung blieben Bilder von
»asiatischen Fratzen« durchaus in Gebrauch.
Noch kurz vor Ende des hitlerdeutschen Regimes hatten manche hohen Staatsfunktionäre und
Militärs die Hoffnung gehegt, es werde zu einem Koalitionswechsel kommen, die Westalliierten
würden sich mit den Deutschen zum »Endkampf« gegen die Sowjetunion zusammentun.
Diese Rechnung ging so nicht auf. Ab 1947
wurde Westdeutschland zum Bundesgenossen der USA in einem lang anhaltenden Kalten Krieg gegen den
»Staatssozialismus« im Osten. Dass dieser schließlich zusammenbrach, hatte seine inneren
Ursachen, aber diese wurden forciert durch den Druck von außen als auf
»Staatssicherheit« und Rüstung fixiertes System hatte die Sowjetunion keine Chance zum
Überleben.
Eine Ironie der Geschichte: Deutschland, 1945
als katastrophaler Verlierer dastehend, fand sich fünfundvierzig Jahre später auf der
Gewinnerseite einer weltpolitischen Auseinandersetzung wieder.
Auch diesmal hatten militärische Mittel
hohen Stellenwert gehabt, nur eben nicht ihre Anwendung, sondern indirekt, den gesellschaftlichen
Entwicklungspfad der Gegenseite beeinflussend.
Alltagsgeschichtlich liegt etwas Symbolisches
in der Tatsache, dass die Soldaten der hitlerdeutschen Truppen, soweit sie den Krieg überleben konnten
und alt wurden, heute in der BRD zumeist materiell gesichert ihren Lebensabend verbringen können,
während sehr viele Veteranen der Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg in bitterer Armut leben
müssen.
Erreicht wurde mit dem Untergang der
Sowjetunion übrigens ein politisches Ziel, das die deutschen Machteliten schon mit dem Ersten
Weltkrieg verbunden hatten: Das »russische Reich« sollte in einzelne Bestandteile
»zerlegt« und diese sollten für deutsche Wirtschaftsinteressen gefügig gemacht werden.
Freilich war dieses Konzept damals noch im
Rahmen einer nationalkapitalistischen Strategie gedacht heute müssen deutsche Konzerne im Osten
mit Großunternehmen anderer Länder konkurrieren, und in vielen Fällen ist nicht mehr
eindeutig zu sagen, welcher Nation die jeweiligen Kapitalgruppen zuzuordnen sind.
Geopolitische kapitalistische Kontinuitätslinien sind in der deutschen Geschichte also ein
Jahrhundert hindurch zu finden der 8.Mai 1945 bedeutete in dieser Hinsicht keinen historischen
Bruch. Allerdings sind die Systeme, in die solche Ambitionen eingebunden waren oder sind, nicht
gleichzusetzen.
Unverkennbar haben auch »zivile«
Feldzüge des Kapitals brutale Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse von Menschen und
»zivile« kapitalistische Operationen vollziehen sich vor dem Hintergrund hochgerüsteter
Militärpotenziale, der Umschlag ins Kriegerische ist eingeplant und wird fallweise exekutiert
weltweit. Auch im europäischen Terrain läuft dies so ab, an den »Rändern«, wie die
Kriegsereignisse im ehemals jugoslawischen Staatsgebiet es zeigten.
Die »Zerlegung« des
»Vielvölkerstaats« Jugoslawien war übrigens auch ein altes Ziel deutscher Geopolitik,
aber diese Brutalitäten sind nicht gleichzusetzen mit der rassistischen Vernichtungspolitik Hitler-
Deutschlands, und insofern hatte der Sieg der Alliierten 1945 weltgeschichtlich eine befreiende Wirkung.
Respektvolle Erinnerung schulden wir den
vielen Millionen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg dazu beigetragen haben, die Aggression des deutschen
Faschismus niederzukämpfen, auch jenen Deutschen, die sich damals auf die andere Seite der Front
gestellt haben, beim Widerstand in Deutschland oder in den Reihen der Alliierten und auch in der Resistance
der besetzten Länder.
Jeden Respekt verweigern sollten wir
denjenigen Landsleuten heute, die geschichtspolitisches Kapital schlagen wollen aus der Erinnerung an die
hitlerdeutsche Vernichtungspolitik, um Militärinterventionismus der BRD zu rechtfertigen. Deutsche
Politiker, die zum Zweck der Kriegspropaganda gegen Jugoslawien den Kosovo zum »neuen Auschwitz«
erklärten, zerstören die Chancen zum Lernen aus der Geschichte.
Arno Klönne
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