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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 21

Peter Brückner, Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, Gemeinschaftsausgabe des Psychosozialverlags Gießen und des Argument-Verlags Hamburg, 2004, 181 Seiten, 15,90 Euro

Das große Tabu

Auch die Tatsache, dass »unsere Freiheit« mittlerweile am Hindukusch »verteidigt« wird, kann bei genauerer Betrachtung kaum darüber hinwegtäuschen, dass diese bürgerliche Freiheit schon seit langem zu einer vornehmlich esoterischen verkommen ist. Nicht mehr die »Freiheit zu«, die Freiheit zum universalistisch- humanistischen Ziel einer allseitig entfalteten gesellschaftlichen Persönlichkeit ist hier gemeint, sondern die »Freiheit von«, die Freiheit von den moralischen Fesseln kapitalistischer Warenproduktion. Dass Gewalt hierbei eine besondere Rolle spielt, ist heute, zumindest an der gesellschaftspolitischen Oberfläche, offensichtlicher als noch vor 30 Jahren.
Damals, nach der Erstveröffentlichung seiner Schrift Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, wurde dem politischen Psychologen und engagierten Linken Peter Brückner auch von freundlichen Kritikern vorgehalten, »er beschwöre eine gesellschaftliche Totalität der Entfremdung und der Gewalt, die so nicht gelten könne«. Brückner räumte dies in seinem kleinen, aktualisierenden Vorwort von 1980 auch freimütig ein: »Wohl ja. An einzelnen Thesen oder Grundstimmungen dieses Buches sind Differenzierungen angebracht. Immer sind es unsere Thesen und Theorien, die der Macht — des Staats, des Kapitals, der ›Verhältnisse‹ — eine Totalität des Zugriffs einräumen, die die Macht wohl anstrebt, aber eben nur in unseren Theorien erreicht. Es gibt alternative Logiken des menschlichen Zusammenlebens, die uns davor behüten sollten, aus der Analyse der ›Verhältnisse‹ einen Katastrophenfilm zu machen. Gleichwohl gibt es die Katastrophe nicht nur im Film.«
Liest man das kleine Werk, einen der Meilensteine der linken politischen Theoriebildung der 60er und 70er Jahre, heute wieder, kann man nur staunen über die Hellsichtigkeit und das tief greifende Engagement, mit der Brückner bereits damals Strukturprobleme bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung thematisiert und analysiert hat, die scheinbar erst heute zu vorherrschenden Phänomenen unserer Massenkultur geworden sind. Was Brückner damals noch die »latente, aber immer abrufbare Verrohung in den Verkehrsformen« nannte, hat diese Latenz heute abgestreift.
Ausführlich beschreibt und analysiert er, wie die Arbeiterklasse über das Lohnverhältnis — »das Tabu gewordene Eigentumsverhältnis« — in die bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft integriert und sozialisiert wird — nicht nur, aber auch nicht zuletzt mit einem Bildungssystem, in dem ein Kind der nichtprivilegierten Bevölkerung spätestens mit 10 Jahren lernt, »dass es von nun an zurückbleiben wird; unter Zustimmung der Eltern«. Ausführlich beschreibt und analysiert er die strukturelle Gewaltförmigkeit der Familienverhältnisse und ihre Auswirkungen gerade auch auf Kinder: »Mord und Misshandlung der eigenen Kinder bringen in zugespitzter Form vor unser Bewusstsein, was als Fähigkeit und Fertigkeit längst vermasst ist, in der Population seine breiteste Basis hat, nämlich Feindseligkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich dem Kinde gegenüber freilich vielfach abstuft.« Gerade hier, in der Diskussion von Mord und Folter an Kindern, entfalten große Teile des Buches eine bedrückende Aktualität.
Ausführlich beschreibt und analysiert Brückner schließlich auch die Wohn- und Lebensverhältnisse, die Mechanismen des Konsums sowie das Wesen bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit mit einer Radikalität und Offenheit, die man von heutigen Linksintellektuellen kaum noch kennt: »Was bedeutet also Rechtsstaatlichkeit? Im Bereich des Strafrechts: dass die Ächtung, die über bestimmte normwidrige Handlungen eines generell diskriminierten und unterprivilegierten Personenkreises verhängt wird, einen geregelten Gang nimmt und formelle Rechte des Diskriminierten geschützt sind; im Zivilrecht: dass das Eigentum an Produktionsmitteln gewahrt bleibt, dass die Prozesse der Kapitalverwertung und des Warenabsatzes möglichst ungestört zu Gunsten der Nutznießer, d.h. der Bourgeoisie, ablaufen. Kurz: Rechtsstaatlichkeit sichert unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, dass die klassenspezifische Verteilung von Kriminalität und entsprechenden Sanktionen sich institutionell geregelt vollzieht.«
Doch Brückner wäre nicht Brückner, würde er nicht ebenso auch auf die Perspektiven der Gegenwehr eingehen: »Ausschließlich in der künftigen Organisierung des wachsenden Konflikt- und Protestpotentials als Gegenmacht, contropotere, werden wir uns der von so vielen Seiten her drohenden Rebarbarisierung und der gewaltförmigen Zerstörung menschlichen Zusammenlebens erwehren können.« Auch hier haben wir es mit einer Frage politischer Moral zu tun, wie Brückner in anderem Zusammenhang geschrieben hat: »Jedoch woran sich das Gewissen stößt, ist nicht, wie die bürgerliche (oder gar die christliche) Erziehung es will, das sittlich Böse, sondern das historisch Böse, das also, was Menschen einander geschichtlich antun; das Problem ist daher nicht Sünde, sondern Gewalt — die Gewalt von Herrschaft, Exploitation, Krieg.«
Was uns Brückners Buch bietet, ist eine so bemerkenswert sensible wie radikale Darstellung und Kritik dessen, was man noch in den 70er Jahren die Einübung in die Klassengesellschaft nannte. Dreißig Jahre später ist gerade dieser ihr Klassencharakter selbst unter Oppositionellen dermaßen erfolgreich tabuisiert, dass dem Buch wohl nicht viele Leserinnen und Leser beschieden sein werden. Dabei wäre ihm genau dies zu wünschen.

Christoph Jünke

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